Bildcollage: Niki Vogt

“Maß­nahmen” vom Job­center: Sinnlose Drang­sa­lie­rerei für eine Drei­vier­tel­mil­liarde an Steuerkosten

Der Staat lässt gern ver­lauten, dass die Arbeits­lo­sigkeit sinke und noch nie so viele Men­schen „in Arbeit“ gewesen seien wie heute, in diesem, unserem Lande, wo wir gut und gerne leben. Der Bun­des­bürger hat sich ja im Laufe der Zeit an die Pro­pa­gan­da­regel gewöhnt, dass, je schlechter der Zustand der Nation, umso schöner die Selbst­lo­bes­hymnen. Kaum jemand glaubt an die Sire­nen­ge­sänge in den Medien, man weiß ja, dass man meist nur vor­ver­daute und aus­ge­suchte Infor­ma­tionen bekommt, und die auch noch ein­ge­färbt und entstellt.
Doch bis­weilen blitzt hier und da doch die Wahrheit durch. Die besten Quellen sind Whist­le­b­lower. Quält man Men­schen zu sehr, erwachsen immer Helden aus der Menge der Geschun­denen, die irgendwann über den Exis­tenz­angst-Punkt hin­aus­wachsen, auf­stehen, kämpfen und die Alarm­glocken läuten. Eine der gegän­gelten, schi­ka­nierten Skla­ven­ar­beiter im Job­center, Inge Han­nemann, schrieb ein e‑Book im Rowohlt Verlag: „Die HartzIV Dik­tatur“. Sehr lesenswert und kos­tenlos im Netz zu finden. Im Kapitel „Von sinn­vollen und sinn­losen Maß­nahmen“ (Seite 72 ff) stellt Frau Han­nemann ein paar so ver­blüffend ein­fache Fragen wie:
Wie kann man einem Erwerbs­losen in der Mitte seines Lebens helfen, eine neue Stelle zu finden, wenn man selbst weniger Lebens­er­fahrung auf dem Arbeits­markt hat als der «Kunde»? Und wie kann man von oben herab For­de­rungen und Sank­tionen aus­sprechen, wenn man selbst das wirk­liche Arbeits­leben draußen nicht kennt? [ … ] Nur wer selbst die Arbeitswelt da draußen kennt, kann sinn­volle Maß­nahmen und Fort­bil­dungen empfehlen.“
 
Maß­nahmen“: sinn­volle Weiterbildung …
Hier schreibt die ehe­malige Job­center-Mit­ar­bei­terin Han­nemann: „Job­cen­ter­mit­ar­beiter schi­ka­nieren oftmals ihre Kunden durch etwas, was ursprünglich als Instrument gedacht gewesen war, den Arbeits­su­chenden zu helfen: durch Maß­nahmen. Eine Maß­nahme kann eine Wei­ter­bildung oder ein Training sein, aber auch eine Arbeit im Rahmen eines Ein-Euro-Jobs oder neu­er­dings auch eines Null-Euro-Jobs, wie sie in Hamburg erst kürzlich ein­ge­führt wurden. Meiner Ein­schätzung nach sind nur rund 20 Prozent der ange­wandten Maß­nahmen zur Wei­ter­bildung sinnvoll.  Auch Jens Regg, der Geschäfts­führer der BA-Regio­nal­di­rektion Berlin-Bran­denburg, meinte schon 2011: «Wir haben zu 80 Prozent Blödsinn finanziert.»“ 
Unbe­stritten gibt es sinn­volle Maß­nahmen, wie Kurse dafür, sich gekonnt und ange­messen zu bewerben. Wer schon einmal einen stüm­perhaft daher­ge­schlu­derten, von Recht­schreib­fehlern strot­zenden Wisch als Bewer­bungs­schreiben auf seinem Schreib­tisch liegen hatte, dessen Lektüre nur von einem über­zeugen konnte: „DEN nicht!“, weiß, dass eine Schulung in rich­tiger Bewerbung bei vielen mehr als ange­bracht ist. Es gibt auch immer noch Leute, die nicht mit den Arbeits­pro­grammen der Com­puter umgehen können, der aber heute Standard ist. 30 % der jungen Leute können mit Com­pu­ter­spielen umgehen, schreibt Frau Han­nemann, aber nicht mit Excel und Word. Fach­liche Auf­frisch­kurse (Buch­haltung, Logistik, Rech­nungs­wesen, Fremd­sprachen) ver­bessern tat­sächlich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Das Problem ist, dass diese Kurse, die von pri­vaten Firmen gebucht werden, im Vor­hinein bestellt und bezahlt werden und deshalb auch befüllt werden müssen. Egal, ob der Kurs für die betref­fenden Teil­nehmer sinnvoll ist. Ein Bei­spiel für einen solchen Brand­brief finden wir auf Seite 76 des genannten e‑Books:
«Sehr geehrte Arbeitsvermittler/rinnen, ich möchte Sie erneut bitten, Ihre Kunden für die oben genannte Maß­nahme anzu­melden. Mir ist bekannt, dass es Beschwerden gibt. (…) In der Hoffnung, dass die Qua­lität ver­bessert wird, heute erneut meine Brandmail, da erst 4 Bewerber für den Kurs ange­meldet sind …» 
Einen kleinen Ein­blick in den bunten Jahr­markt der ange­bo­tenen Maß­nahmen gewähren diverse Fernsehredaktionen:

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… oder inef­fektive Schikane?
Wie oben erwähnt, sind aber nur maximal 20% der ange­bo­tenen Kurse wirklich sinnvoll. Ein Effekt in Form von erfolg­reichen Wie­der­ein­glie­de­rungen in den Arbeits­markt lässt sich kaum dabei beob­achten. Ein Mit­ar­beiter bei einer solchen, „Maß­nahmen“ anbie­tenden, Firma berichtet:
Ich habe eine Zeit lang für einen Bil­dungs­träger gear­beitet und kann mich gut erinnern, wie man immer den­selben Schrott ange­boten und das als tolle Sache ver­kauft hat, obwohl klar war, dass bestimmte Umschu­lungen und Wei­ter­bil­dungen in nichts anderes als prekäre Zustände führen.“ 
Oder: „Bin als freier Trainer einmal für eine Kol­legin ein­ge­sprungen, eben als Trainer für eine Maß­nahme zur Eva­luation der Teil­nehmer. Abfrage der Vor­kennt­nisse der Teil­nehmer: Ein Teil­neh­merin machte diesen Kurs bereits zum 17. Mal. Musste mich mehrmals rück­ver­si­chern, um sicher zustellen, dass ich nichts falsch ver­standen habe.“ (ebenda)
Oder: „So kenne ich es auch, von einer Maß­nahme in die nächste. Wenn man fragte, wieso man schon wieder Maß­nahme X machen soll, wurde einem nur mit­ge­teilt, ‘weil ich das so will’“ (ebenda)
In manchen Fällen ver­hindern die Vollzeit-Maß­nahmen zur „Her­an­führung an den Arbeits­markt sogar, dass der damit Beglückte eine neue Stelle bekommt. Inge Han­nemann erlebte selbst das Bei­spiel eines jungen Metzgers, der seine Stelle verlor, weil seine Metz­gerei wegen der Super­markt­kon­kurrenz schließen musste. Er über­lebte von Hartz IV, fand eine Anstellung als Küchen­hilfe in einem Land­gasthof auf 450 €-Basis und stockte mit Hartz IV auf. Sein Chef dort schätzt ihn, und will ihn fest ein­stellen. Der Sach­be­ar­beiter im Job­center aber hat ihn für eine „Maß­nahme zur Her­an­führung an den Arbeits­markt“ ein­ge­tragen, die während der Arbeits­zeiten im Landcafé statt­findet. Der junge Mann ver­sucht, seinen Sach­be­ar­beiter davon zu über­zeugen, dass er ja gerade im Begriff sei, eine Fest­an­stellung zu bekommen, die Chance aber vertan werde, wenn er dort nicht mehr zur Arbeit komme wegen der Maß­nahme. Es nutzt nichts, und der junge Mann muss sich ent­scheiden. Er ent­scheidet sich für die neue Stelle, wird aber wegen Ver­wei­gerung der Teil­nahme an der „Maß­nahme“ so sank­tio­niert, dass der junge Metzger das Geld für die Fahrt­kosten nicht mehr auf­bringen kann.
Das ist kein Ein­zelfall. Weigern sich die „Kunden“, an sinn­losen Maß­nahmen zum X‑ten Male teil­zu­nehmen, werden exis­tenz­be­dro­hende Sank­tionen ver­hängt. Die Kurse müssen voll werden, egal, welche Opfer das auch kostet. Warum?
Zumal längst bekannt ist, dass Zwei­drittel der Kurs­teil­nehmer auch ein halbes Jahr nach den Kursen noch immer HartzIV-Bezieher sind.
 
Letzt­endlich geht es um die Sta­tistik und die Mit­ar­beiter des Jobcenters
Es gibt nämlich einen sehr wir­kungs­vollen Brand­be­schleu­niger für die wie Pilze aus dem Boden schie­ßenden Kurse aller Art:
Ob eine solche Maß­nahme dem „arbeits­su­chenden Kunden“ einen Nutzen bringt oder nicht, ist im Grunde nicht wichtig. Offen­sichtlich stehen nicht die Inter­essen der Arbeits­losen im Zentrum, sondern die Arbeits­lo­sen­sta­tis­tiken und die Inter­essen der Mit­ar­beiter. Denn Arbeitslose, die in einem Kurs unter­ge­bracht sind, fallen aus der Arbeits­lo­sen­sta­tistik. Die Regierung hat natürlich – besonders in Zeiten hoch unzu­frie­dener Bürger – ein hohes Interesse daran, Erfolgs­mel­dungen auf dem Arbeits­markt zu verlautbaren.
Damit das auch wie geschmiert läuft, wird ein Zusam­menhang zwi­schen mög­lichst vielen, voll­be­setzten Kursen und dem beruf­lichen Fort­kommen der Job­center-Mit­ar­beiter her­ge­stellt, und das geht so:
Erfolgt eine Bewertung der Ziel­er­rei­chung mit ‘A’ bzw. eine ent­spre­chende indi­vi­duelle Leis­tungs­ein­schätzung im Rechts­kreis SGB II, kommt eine Leis­tungs­prämie in Höhe von bis zu 20 Prozent des Grund­ge­halts in Betracht“, heißt es im Handbuch Per­so­nal­recht der Arbeits­agentur. Für ein „B“ gibt es 15 Prozent. Diese Prämien stehen ver­be­am­teten Füh­rungs­kräften zu. Ange­stellte Füh­rungs­kräfte erhalten laut Tarif­vertrag für ein „A“ eine Prämie von 20 Prozent des Grundgehalts.
Die Füh­rungs­kräfte (Beamten) des Job­centers bekommen also Boni zu ihren Gehältern von 15–20% ihres Gehaltes, was eigentlich bei Beamten als sehr eigen­artig zu bewerten ist. Die ein­fachen Mit­ar­beiter bekommen zwar kein Geld für aus­ge­buchte Kurse, doch den eif­rigen Kurs­be­legern dar­unter winken Fest­an­stellung oder Beför­de­rungen. Je nachdem, wie viel die unteren Mit­ar­bei­ter­chargen zur Ver­schö­nerung der Arbeits­lo­sen­sta­tistik bei­tragen, erhalten sie Noten zwi­schen A und C. Wer am Jah­resende Note A oder B erteilt bekommt, kann sich auf eine Beför­derung oder eine Fest­an­stellung freuen. Die nur befristet Ange­stellten, die ein C oder D als Bewertung auf­weisen, laufen Gefahr, bald auf der anderen Seite des Schreib­ti­sches zu sitzen und selbst in Maß­nahmen geschickt zu werden.
 
Inef­fektiv, ver­logen, schi­kanös … und unglaublich teuer
Ein per­fides System, dem sich kaum einer der Prot­ago­nisten ent­ziehen kann.
Das Schönen der Arbeits­lo­sen­sta­tistik kostet den Steu­er­zahler Unsummen. Die fast kon­stant gebliebene Zahl der Hartz IV Emp­fänger zwi­schen 2013 und 2017 von ca. vier­einhalb Mil­lionen täuscht. Denn die Anzahl der Maß­nahmen-Teil­nehmern ist um mehr als ein Drittel gestiegen, scheint aber nicht in den Arbeits­lo­sen­sta­tis­tiken auf: von 583.000 im Jahr 2013 auf 748.000 im Jahr 2016. Laut den neu­esten Daten der Bun­des­agentur für Arbeit sind es im Dezember 2017 ins­gesamt 884.421 „Teil­nehmer in arbeits­markt­po­li­ti­schen Maßnahmen“.
Ent­sprechen schießen die Kosten für den Maß­nah­men­zirkus nach oben. Im Jahr 2013 lag der finan­zielle Aufwand mit 463 Mil­lionen Euro noch unter einer halben Mil­liarde, waren es im Jahr 2017 schon mit 773 Mil­lionen Euro über eine Drei­vier­tel­mil­liarde Steu­er­gelder. Das sind pro Teil­nehmer (zusätzlich zur Unter­stützung durch Hartz IV) im Schnitt 1033 Euro/Jahr.