Fall Skripal: Nach USA und Tsche­chien jetzt auch Deutschland — Hüt­chen­spiel mit Ner­vengift “Nowit­schok”?

Die Affäre Skripal wird immer pein­licher. Der rus­sische Dop­pel­agent und seine Tochter waren in Salisbury bewusstlos auf­ge­funden worden. Sehr schnell zog Groß­bri­tannien die im Westen beliebte Trumpf­karte „Der Russe war’s!!“: Nur Russland könne das gewesen sein, nur Russland habe Nowitschok.
Es stellte sich aber bald heraus, dass die rus­sische Her­kunft alles andere als gesi­chert bewiesen war und auch nicht, wer den Gift­an­schlag begangen hatte. In London, wo an jedem Later­nen­pfahl und jeder Hausecke Über­wa­chungs­ka­meras lauern, konnten aus­ge­rechnet der Dop­pel­agent Skripal und seine Tochter ohne jeden Schatten und den kleinsten Hinweis eines Täters ver­giftet werden. Sogar die Bei­bringung des Giftes wurde nie spe­zi­fi­ziert. Mal war es der Haus­tür­knopf der Wohnung, mal beim Essen. Selbst Mel­dungen, es handle sich um einen ehe­ma­ligen Agenten des rus­si­schen Inlands­ge­heim­dienstes namens Gordon, erwiesen sich bald als Märchen.
Sowohl die Briten, das OPCW und auch ein renom­miertes Schweizer Labor konnten keine Zuordnung des Giftes anhand seines „che­mi­schen Fin­ger­ab­druckes“ zu Russland fest­stellen. Der erste Blitz schlug in die Skripal-Affäre ein, als her­auskam, dass das Schweizer Labor „Spiez“ (amtlich: Schwei­ze­ri­sches Institut für ABC-Schutz) einen Bestandteil der Probe aus Salisbury als „BZ“ iden­ti­fi­zierte. In dem Gut­achten stand: „Im Zuge der Unter­su­chung sind in den Proben Spuren der toxi­schen Che­mi­kalie BZ und deren Prä­kursore nach­ge­wiesen worden, die zu den che­mi­schen Waffen zweiter Kate­gorie gemäß der Che­mie­waf­fen­kon­vention gehören“ 
Dieses Mittel ist nach Exper­ten­aus­sagen im C‑Waffen-Arsenal der Streit­kräfte der USA, Groß­bri­tan­niens und wei­terer Nato-Staaten ver­treten. Der rus­sische Außen­mi­nister Sergej Lawrow sagte: “In der Sowjet­union und Russland wurden solche und ähn­liche che­mische Sub­stanzen nie entwickelt.“
Aber auch ein US-Ame­ri­ka­ni­sches Patent für einen Nowit­schok-Gift­stoff, der zweite Bestandteil der Probe, tauchte plötzlich auf. Das Patent für das hoch­wirksame Ner­vengift ist ziemlich neu, es stammt aus dem Jahr 2015.
Dieser andere Teil der Probe aus Salisbury wurde vom Labor Spiez als das Gift Nowit­schok vom Typ A234 iden­ti­fi­ziert. Dass dieses А234 trotz seiner hohen Flüch­tigkeit in den Proben in pri­märem Zustand (also nicht über­wiegend die Bestand­teile übrig waren, die schwerer ver­dunsten, sondern auch die schnell ver­flie­genden) und dazu noch in einer derart hohen Kon­zen­tration ent­deckt worden sein soll, „ist sehr ver­dächtig, weil zwi­schen der Ver­giftung und der Pro­ben­ent­nahme ein gutes Stück Zeit gelegen hat“, setzte der rus­sische Außen­mi­nister hinzu.
Was Minister Lawrow damit indirekt andeutet ist, dass den Proben erst bei der Spu­ren­si­cherung das Nowit­schok bei­gefügt worden sein könnte, um auch sicher den Nachweis auf Nowit­schok bei einer Über­prüfung zu erhalten und damit die Spur zu Russland zu legen.
Tat­sächlich wäre die Kon­zen­tration des Nowit­schok A234 unglaublich hoch gewesen. Da schon eine Auf­nahme weniger Mil­li­gramm für eine absolut töd­liche Ver­giftung reichen, nimmt die fest­ge­stellte Menge an Nowit­schok in den ein­ge­sam­melten Proben Wunder: 50 bis 100 Gramm (!) dieser Hoch­gif­tigen Sub­stanz wurden angeblich für den Anschlag ver­wendet. Dies sei, so der Chef der Orga­ni­sation für das Verbot che­mi­scher Waffen (OPCW), eine deutlich größere Menge, als sie in For­schungs­la­boren her­ge­stellt oder auf­be­wahrt wird. Überdies wun­derte sich die Fachwelt, dass Vater und Tochter Skripal über­haupt einen der­artig mas­siven Gift­an­schlag mit einem so absolut töd­lichen Gift überlebt haben und dann offenbar auch noch so, dass sie sich wieder voll­ständig erholen, was eben­falls so gut wie aus­ge­schlossen ist. Yulia Skripal soll sich Pres­se­mel­dungen zufolge sogar selbst tele­fo­nisch bei ihrer Cousine in Russland gemeldet haben, um sich unter anderem nach ihrem Hund zu erkun­digen. Diese voll­ständige Genesung (wenn es denn Yulia Skripal war) ist bei einer Nowit­schok-Ver­giftung nach Dar­stellung von Experten aus­ge­schlossen. Kollege Wolfgang van de Rydt hier bei den Unbe­stech­lichen wit­zelte: „war wahr­scheinlich nur ein skri­paler Infekt“.
https://www.youtube.com/watch?time_continue=3&v=nwFsTxlq_mM
 
Die Briten gerieten mit ihrem „Die Russen waren’s!“-Schlachtruf Stufe um Stufe tiefer ins Schla­massel. Der nächste Treffer kam aus Tsche­chien und riss Londons Russen-Nar­rativ schon ziemlich in Fetzen: Tsche­chiens Prä­sident Miloš Zeman hatte in den ersten Mai­tagen unter Berufung auf tsche­chische Geheim­dienste bekannt­ge­geben, dass eine kleine Menge des Ner­ven­gift­stoffs A230 im November 2017 in der Stadt Brno pro­du­ziert worden sei. Nun ging das Ver­wirr­spiel um die Version A230 oder A234 dieser Gift­stoffart los. Welcher der beiden Stoffe ist nun das echte „Nowit­schok“?
Die Russen nennen anscheinend die Version A230 so, während die Briten die in Salisbury sicher­ge­stellten Proben von A234 als Nowit­schok bezeichnen, was aber eine Version ist, die Russland nicht hat. Zuvor hatte auch der rus­sische Ständige Ver­treter bei der Orga­ni­sation für das Verbot che­mi­scher Waffen (OPCW), Alex­ander Schulgin, erklärt, dass das Gift A‑234 in den USA als che­mi­scher Kampf­stoff paten­tiert und pro­du­ziert worden sei.
Eine kaum noch zu ret­tende Situation für Groß­bri­tannien, dem einst der Ruf vor­aus­eilte, in solchen Per­fidien und Ran­künen geradezu meis­terhaft und elegant zu agieren. Die US-Patent- und die Tsche­chien-Ent­hül­lungen waren schon eine Kata­strophe für das Ver­ei­nigte Königreich.
Doch schlimmer geht’s immer. Eine gemeinsame Recherche der Süd­deut­schen Zeitung, NDR, WDR und der Zeit­schrift „die Zeit“ deckte auf, dass auch Deutschland das Gift hatte und in seinen Mili­tär­labors damit Ver­suche machte.
Die Ope­ration, bei der ein BND-Agent in den 1990er-Jahren den Stoff besorgte, blieb bis heute geheim. Der BND führte damals, Anfang der 1990er-Jahre einen rus­si­schen Wis­sen­schaftler als Infor­manten, der im Tausch gegen einen sicheren Auf­ent­halts­status für sich und seine Familie eine Probe des sorg­fältig gehü­teten, neuen und absolut töd­lichen Ner­ven­giftes nach Deutschland brachte.
Das Kanz­leramt und das Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­nis­terium ließen die Probe in Schweden ana­ly­sieren. Die che­mische Formel des Kampf­stoffes wurde an den BND und das Kanz­leramt über­mittelt. Was aus der Probe wurde, weiß niemand. Schweden erklärte sich außer­stande, dies in so kurzer Zeit zu klären.
Der BND unter­richtete die ame­ri­ka­ni­schen und bri­ti­schen Geheim­dienste von dem ganzen Vorgang, eine Arbeits­gruppe von fünf west­lichen Geheim­diensten und dem BND trugen vereint alle Erkennt­nisse zu dem neuen Kampf­stoff „Nowit­schok“ zusammen. Man baute das Gift nach, testete damit Aus­rüs­tungen, Mess­geräte und mög­liche Antidots.
Die Bun­des­re­gierung ver­sucht zur Zeit, die ganze Nowit­schok-Geschichte von vor ca. 25 Jahren zu rekon­stru­ieren. Niemand weiß so genau, wer von den Geheim­diensten oder Militärs mög­li­cher­weise heimlich weiter an der che­mi­schen Waffe ent­wi­ckelte, testete und ins­be­sondere den Stoff pro­du­zierte. Wir dürfen wahr­scheinlich froh­gemut davon aus­gehen, dass zumindest jedes der Länder aus der Arbeits­gruppe sein Pröbchen mit­ge­nommen hat und daran arbeitet. Tsche­chien zeigt aber, dass auch andere schon damit herumexperimentieren.
In jedem Fall kann man aber in der causa Skripal fest­stellen: Einen schla­genden Beweis gegen Russland gibt es nicht und Groß­bri­tannien steht selbst mit auf der Liste der Verdächtigen.