Die Dekadenz vor­re­vo­lu­tio­närer Zeiten

Vor­re­vo­lu­tionäre Zeiten sind daran erkennbar, daß die herr­schende Klasse oder Kaste der Dekadenz ver­fällt und damit den Faden zum ein­fachen Volk ver­liert. Derzeit kann man das in Deutschland wieder einmal dia­gnos­ti­zieren: Eine Vielzahl von Geschlechtern, Kli­ma­ka­ta­stro­phismus, sexuelle Ver­ir­rungen, als „Wis­sen­schaft“ ver­kaufte Gen­der­studien, Rauschgift, über­teuerte Ener­gie­kosten, extremer Vega­nismus, Diesel- und Koh­le­phobie und eine unüberlegt oder bös­willig mas­senhaft impor­tierte Her­ren­men­schen­ideo­logie weisen in diese Richtung.
(Von Wolfgang Prabel)
Das mit der Abge­ho­benheit war auch vor der fran­zö­si­schen Revo­lution so, wo Ver­sailles ein iso­liertes Adels­ghetto geworden war. Das zeigte sich in Kriegs­mü­digkeit der Sol­daten und Offi­ziere vor der Novem­ber­re­vo­lution 1918, während die Redak­teure, Dichter und Denker außerhalb des Schlamms der Schüt­zen­gräben immer noch für die letzte, die neunte Kriegs­an­leihe warben. Und vor der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­über­nahme 1933. Ein Blick zurück auf die Kul­tur­krise des Spät­kai­ser­reichs und der Wei­marer Republik, um Ver­gleiche zu ziehen.
„Platz­konzert, ein jeder rennt, denn heute spielt die große Band des 4. Regi­ments der Infan­terie.“ So ver­mit­telte uns Drafi Deut­scher in einem Schlager der 60er Jahre die Goldene Zeit vor 1914.
Das ist jedoch nur die eine volks­tüm­liche Seite der Medaille. Die Intel­lek­tu­ellen und selbst­ge­fühlten Avant­garden der dama­ligen Zeit pfiffen auf Platz­kon­zerte. Sie hatten ihre Liebe für Rei­ni­gungs­ka­ta­strophen, Blut­leuchten und den Neuen Men­schen ent­deckt. Der Ratio­na­lismus des 19. Jahr­hun­derts und der dadurch ermög­lichte tech­nische Fort­schritt war ihnen zuwider.
Bereits ab Mitte des 19. Jahr­hun­derts ent­wi­ckelte sich besonders unter dem Einfluß von Arthur Scho­pen­hauer (1788 bis 1860) die lite­ra­risch-phi­lo­so­phische Dekadenz.
Die lebensmüde, oft lebens­feind­liche Unter­gangs­stimmung, die Fas­zi­nation durch den Verfall in allen Formen, führten zur Vor­liebe für Krank­heiten, krank­hafte Zustände sowie für den Tod. Die cha­rak­te­ris­ti­schen Figuren der deka­denten Lite­ratur zeichnen sich denn auch durch eine geschwächte Vita­lität aus…Sensibilität wurde kul­ti­viert, Nerven, Ner­vo­sität und Hys­terie wurden Schlüs­sel­wörter. Nor­ma­lität und Natur lehnte man in diesen Kreisen als banal und unin­ter­essant ab“, schrieb Bengt Algot Sörensen in seiner „Geschichte der deut­schen Lite­ratur“ darüber.
Spiel­wiesen der ner­ven­kranken Welt waren die Praxen der Psych­iatrie, der Hypnose, der Sug­gestion, der Trieb­psy­cho­logie und zuletzt der Psy­cho­analyse als Königs­dis­ziplin der refor­mis­ti­schen Traum­deutung. Bereits 1892 schrieb Max Nordau in „Ent­artung“ „wir stehen mitten in einer schweren geis­tigen Volks­krankheit, in einer schwarzen Pest von Ent­artung und Hysterie.“
Friedrich Nietzsche als Ideen­geber des Refor­mismus war sowohl von Scho­pen­hauer als auch von Paul Bourget beein­flusst, dessen „Théorie de la Déca­dence“ 1883 erschienen war. Über­wiegend waren im Spätwerk von Friedrich Nietzsche, ins­be­sondere in „Also sprach Zara­thustra“ die Ver­suche, die Dekadenz zu über­winden und ihr die Phi­lo­sophie des Lebens gegen­über­zu­stellen. Zara­thustra ruft jedoch zu einem archai­schen Leben auf, das in seinen sinn­ge­benden Abschnitten aus Krieg, Kampf und Blut­ver­gießen besteht und damit den eigenen Lebens­erhalt sozu­sagen um in der bio­lo­gis­ti­schen Logik zu ver­weilen „wider­na­türlich“ gering schätzt.
Der Riß zwi­schen krank­hafter Dekadenz und dem Leitbild des „gesunden Volks­ge­nossen“ ging mitten durch manche Schrift­steller- und Maler­exis­tenzen: Thomas Mann schil­derte minutiös den Verfall einer Kauf­manns­fa­milie, und sehnte sich in „Tonio Kröger“ doch nach den Wonnen der Gewöhn­lichkeit. Ganze Künst­ler­scharen von Malern, Dichtern, Schrift­stellern und Publi­zisten schworen dem Stadt­leben ab und drängten in die länd­lichen Künst­ler­ko­lonien nach Murnau, Fried­richs­hagen und Worpswede, um sich den Wonnen des Land­lebens aus­zu­setzen und an der Kraft der bäu­er­lichen Tra­dition und des deut­schen Bodens zu schma­rotzen. „Blut und Boden“ war kein Parole von Hitler, sondern von ihm nur aufgesammelt.
Die Dekadenz blühte im Rahmen der Kul­tur­krise der Jahr­hun­dert­wende weiter auf, in der Lebens­re­form­be­wegung die eben­falls von dieser Krise ange­trieben wurde, ent­wi­ckelte sich fast gleich­zeitig Wider­spruch. In der 1896 gegrün­deten Zeit­schrift „Jugend“ erschien 1898 ein Artikel, welcher die Über­schrift „Anti-Fin de siècle“ trug und sich pole­misch gegen die „Müdig­keits­bru­der­schaft der Deka­denten“ wandte. Die Aus­ein­an­der­setzung mit der Dekadenz wurde im Fol­genden eine Kon­stante der Jugend­be­wegung. Die Kampf­formen waren so hete­rodox wie diese Bewegung selber: Aus­druckstanz, Ras­sismus, Vege­ta­rismus, Nudismus, Krieg, Sport, Eutha­nasie. Zum Schluß die Aus­stellung „Ent­artete Kunst“, in der auch die „Werke“ von Natio­nal­so­zia­listen wie Röhl und Nolde hingen. Neben einem starken Hang zum Eli­ta­rismus war es besonders die weit­ver­breitete Manie, die tra­dierten Werte abzu­lehnen und bewusst umzu­werten, medi­en­wirksame Tabu­brüche zu begehen, selbst und gerade auch um den Preis nicht volks­tümlich und mas­sen­wirksam zu sein.
Der Äste­ti­zismus blickte ab 1890 in den Spiegel des Nietz­schea­nismus und ver­meinte sich im Über­men­schen wie­der­zu­er­kennen. 1892 bekannte sich Stefan George in seinen „Blättern für die Kunst“ zur „kunst für die kunst“ mit einem Primat für die Schönheit. Sörensen schreibt dazu:
„Dekadenz und Ästhe­ti­zismus ver­banden sich mühelos mit­ein­ander. Der Typus des Ästheten, der das eigene Leben und die Umwelt nicht mit mora­li­schen Kate­gorien von Gut und Böse, sondern mit den ästhe­ti­schen Begriffen von Schön und Häßlich bemisst, gehört zusammen mit dem Dandy und dem Dilet­tanten zu den Lieb­lings­fi­guren der dama­ligen Literatur.“
Ohne die Parole von der Umwertung der Werte lässt sich diese Haltung kaum ver­stehen, vielfach waren die Werke der Deka­denten nur „Lehr­prosa“ und „Lehr­lyrik“ zur Lebens­phi­lo­sophie. Der arri­vierte Künstler der dama­ligen Periode wollte nach der Logik der Her­den­tiere beweisen, in der neuen Zeit ange­kommen zu sein. Das ständig prä­sente Leit­motiv des Kampfs des Starken gegen das Schwache berührte Frank Wede­kinds Bän­kel­gesang „Tan­ten­mörder“ (1897):
Ich habe meine Tante geschlachtet .
Meine Tante war alt und schwach.
Ihr aber, oh Richter, ihr trachtet
Meiner blü­henden Jugend-Jugend nach.
Mühelos ver­banden sich nicht nur Dekadenz und Ästhe­ti­zismus mit­ein­ander, auch die Dekadenz und die völ­kische Bewegung koha­bi­tierten bereits früh. Der junge Heinrich Mann brachte es 1894 fertig gleich­zeitig zwei Deka­denz­romane: „Das Wun­derbare“, in der die Schönheit des Ver­falls beschrieben wurde, und „Cont­essina“ zu schreiben und bei der anti­se­mi­tisch-völ­ki­schen Zeitung „Das Zwan­zigste Jahr­hundert. Blätter für deutsche Art und Wohl­fahrt“ mitzuarbeiten.
Neu war auch, dass man sich auf die Fas­zi­nation der Groß­stadt einließ. Der Lyriker Ernst Blass for­derte, dass die modernen Dichter die Bilder der Groß­stadt als Land­schaften ihrer Seele dar­stellen, und nicht die Groß­stadt an sich. Die Abs­trak­ti­ons­tendenz war nicht zu über­sehen: nicht der Ein­zelne, das Indi­viduum wurde dar­ge­stellt, sondern der Mensch an sich. Solch eine groß­städ­tische See­len­land­schaft offen­barte Paul Boldt:
Auf der Ter­rasse des Café Josty
Der Pots­damer Platz in ewigem Gebrüll
Ver­glet­schert alle hal­lenden Lawinen
Der Stra­ßen­takte: Trams auf Eisenschienen
Auto­mobile und den Menschenmüll.
Die Men­schen rinnen über den Asphalt,
Amei­sen­emsig, wie Eidechsen flink.
Stirne und Hände, von Gedanken blink,
schwimmen wie Son­nen­licht durch dunklen Wald.
Nacht­regen hüllt den Platz in eine Höhle,
Wo Fle­der­mäuse, weiß, mit Flügeln schlagen
Und lila Quallen liegen – bunte Öle;
Die mehren sich, zer­schnitten von den Wagen.–
Auf­spritzt Berlin, des Tages glit­zernd Nest,
Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest.
Der „Men­schenmüll“ wurde nur wenig später auf den Schlacht­feldern um Verdun relativ beden­kenlos entsorgt.
Großen Einfluß gewann nach 1900 Siegmund Freud, der den Men­schen so dar­stellte und beschrieb, dass er nicht Herr im eigenen Körper sei, sondern seine Psyche von bösen ödi­palen Geistern in den Schläuchen des Körpers umge­trieben würde. Der Kampf mit dem eigenen Vater, der seinem Sohn in der ödi­palen Phase die sexu­ellen Reize der Mutter vor­ent­hielt, gewann unter Freuds Einfluß gerade nach 1910 große Bedeutung: Heym, Benn und Becher führten den Kampf mit dem Vater sowohl per­sönlich als auch lite­ra­risch, in einigen anderen Fällen kam es zum lite­ra­ri­schen Vatermord. Walter Hasen­clever gar ließ 1914 in seinem Roman „Der Sohn“ aus nich­tigem Anlaß die männ­lichen Mit­glieder eines Jugend­clubs zu den Klängen der Mar­seilleise den Mord an ihren Vätern beschließen.
Georg Heym träumte 1910 von Bar­ri­kaden und Kriegen. Aus­kunft gab sein Tagebuch:
„Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Bar­ri­kaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeis­terung spüren. Oder sei es auch nur, dass man einen Krieg begänne, er kann unge­recht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig, wie Leim­po­litur auf alten Möbeln.“
Ein Jahr später reimte er schon wieder vom Krieg:
Auf­ge­standen ist er, welcher lange schlief,
auf­ge­standen unten aus Gewölben tief.
Eine große Stadt versank in hellem Rauch,
warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht,
der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht
über sturm­zer­fetzter Wolken Widerschein
in des toten Dunkels kalten Wüstenein,
dass er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.
Von 1910 bis 1914 ent­standen Hun­derte von Gedichten, Romanen und Bildern, in denen der bevor­ste­hende Krieg the­ma­ti­siert und her­bei­ge­schrieben worden ist. 1911 wurde Jakob von Hoddis „Weltende“ ver­öf­fent­licht, das die deut­schen Gym­na­si­asten regel­recht elektrisierte:
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es von Geschrei
Dach­decker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Men­schen haben einen Schnupfen.
Die Eisen­bahnen fallen von den Brücken.

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Die lite­ra­risch-poe­tische Zer­stö­rungslust, manchmal gar Zer­stö­rungswut, war mit dem Wunsch nach einer har­mo­ni­schen schönen Neuen Welt ver­bunden, deren neue Men­schen in einer bru­talen Rei­ni­gungs­ka­ta­strophe ent­stehen würden.
Mit dem Welt­krieg und Ver­sailles kam es zwar zu einer Kata­strophe, sie rei­nigte aller­dings nicht. Die Novem­ber­re­vo­lution ver­ur­sachte Ver­wer­fungen, die bis heute kata­stro­phale Aus­wir­kungen haben. So wurden die Haus­halts­hoheit der Städte und Gemeinden beschnitten, indem ihnen ein Großteil der Steu­er­ein­nahmen weg­ge­nommen und auf die Zen­trale umver­teilt wurden.
Die begin­nende Wei­marer Republik beglei­teten ein mani­rierter Spät-Jugendstil sowie dessen Derivate, sowohl in der Illus­tration, in der Malerei als auch auf dem Wahl- und Agi­ta­ti­ons­plakat. Nicht nur der Jugendstil, fast alle Reform­sekten wie Expres­sio­nisten, Okkul­tisten, Nudisten, Akti­visten, Vege­tarier, Siedler und Ästhe­ti­zisten ret­teten sich über den Welt­krieg hinweg. Vom Blauen Reiter strömten die Maler ins Bauhaus, die Kriegs­li­te­raten wurden die schärfsten Kri­tiker der Rüs­tungs­in­dustrie, die Expres­sio­nisten und Wan­der­vögel begehrten in Scharen Einlaß in die KPD und in völ­kische Land­kom­munen, die Kriegs­pla­katil­lus­tra­toren und „lit­tera­ri­schen“ Hel­den­ver­schö­nerer wurden Pazi­fisten. Da die Lebens­reform viel mehr war als ein Protest gegen das ver­krustete Kai­ser­reich, da sie das kon­ser­vative Kai­ser­reich der sieb­ziger und acht­ziger Jahre mit dem Transport eines neuen bio­lo­gis­ti­schen und vita­lis­ti­schen Welt- und Men­schen­bildes in die Gesell­schaft kul­turell aufrieb, so über­lebte sie den Kaiser. Für die Kost­gänger des Kai­ser­reichs änderten sich die Aspekte: Nicht mehr der Blick in eine gren­zenlose Zukunft, sondern der Rück­spiegel in das Kai­ser­reich und das sich-messen am Kai­ser­reich war die ersten Jahre der Republik eine neue Per­spektive vor allem der älteren Gene­ration. Aber für die jün­geren Refor­misten war und blieb das Ziel nach wie vor der Marsch in die bio­lo­gis­tisch, vita­lis­tisch, sozia­lis­tisch, kosmogen geprägte Zukunft. Die Parole hätte auch damals schon sein können: „Wir schaffen das.“
Die Jahre zwi­schen 1924 und 1929 werden dennoch als goldene Jahre bezeichnet. Um diese Wertung zu teilen, ist es erfor­derlich, das poli­tische, kul­tu­relle und wirt­schaft­liche Anspruchs­niveau stark her­un­ter­zu­schrauben. Die heute unver­dient gefeierte Avant­garde wurde durch das Bauhaus, die Neue Sach­lichkeit und Brechts epi­sches sta­li­nis­ti­sches Theater besetzt. Das war für 14 Jahre nicht sehr viel. Der breite Strom der All­tags­kultur ergoß sich als abge­stan­dener Expres­sio­nismus und gestreckter Jugendstil in die gesell­schaft­liche Umgebung.
Während in einer durchaus begrenzten Zahl von Loka­li­täten der Charleston im Zib­bel­röckchen getanzt wurde, ging die Kul­tur­re­vo­lution sowohl in Berlin wie in der Provinz ihren sozia­lis­ti­schen Gang. Das soll im fol­genden exem­pla­risch an der Freiland-Freigeld-Bewegung, der UFA und der eli­tären Zeit­schrift „Welt­bühne“ gezeigt werden. Selbst­ver­ständlich ist das nur ein Aus­schnitt: Betrach­tungen über den „Klad­de­ra­datsch“, den „Sim­pli­cis­simus“ und den „Kunstwart“ würden das Bild zwar abrunden, die Fol­ge­rungen wären jedoch keine grund­sätzlich anderen.
Auf der Leuch­tenburg wurde 1925 ein Workshop Freiland – Freigeld – Frei­kultur ver­an­staltet, bei dem nichts obsku­ran­tis­ti­sches fehlte, was die Jugend­be­wegung aus­ge­brütet hatte. Muck Lam­berty hatte es so aus­ge­drückt: „Besinnt Euch! Unser Volk muß unter­gehen, wenn die Jungen und Jung­ge­blie­benen nicht auf­stehen und an sich arbeiten. Wir wollen in den Tagen, die wir bei Euch sind, mit Euch leben und kämpfen gegen Ver­gnü­gungen aller Art, die die Jugend aus­beuten an Leib und Seele aus Geld­in­ter­essen, und rufen Euch auf, die Tage mit uns zu ver­bringen in rechter Fröh­lichkeit.“ Vor und nach dem Welt­krieg hatte er sich mit Expe­ri­menten beschäftigt, das ver­haßte Geld aus dem Verkehr zu ziehen. Eine Lösung könnten Tausch­läden sein, die er in nietz­schea­ni­scher Manier „Umwer­tungs­läden“ nannte, mit einer Pro­dukt­pa­lette, die den sozi­al­ro­man­ti­schen Reiz von Dritte-Welt-Läden ausmacht:
„Freunde der guten Sache, klare und rare Köpfe, werden in der Stadt eine Umwer­tungs­stelle schaffen, einen Laden mieten und wenn möglich später einmal ein ganzes Häuslein kaufen oder bauen, wo die fer­tigen Arbeiten unserer jungen und jung­ge­blie­benen Hand­werker sich zusam­men­finden. Aus­stellung und Verkauf durch die Hand­wer­ker­ge­mein­schaft. Dort gibt es feine Töpfe, schön­ge­bundene Bücher, Lauten, guten Schmuck, rechten Hausrat, herr­liche Drucke und Stein­zeich­nungen, fertige Kittel und Gewänder, hand­ge­webte Stoffe, ja sogar Lich­ter­kränze für die guten deut­schen Stuben statt Blech­leuchter der när­ri­schen Welt vor dem Kriege. In der Umwer­tungs­stelle werden wie­derum Men­schen unserer Art gebraucht: Kauf­leute, prak­tische Men­schen, Mädchen, Schrei­berlein, Arbeiter, Gehilfen. So wird allen im Sinne der Gesundung und der Erstarkung eine Lebens­mög­lichkeit geboten, so daß sie auch in der Arbeit so denken und sich geben können, wie sie es sicherlich jetzt möchten.“
Die Märchen von den gol­denen Jahren und von der fort­schritt­lichen Wei­marer Republik geistern durch die herr­schende Lehr­meinung und durch die Medien, da sie eine irre­füh­rende Funktion haben: Die Eliten der Kultur, die sich wei­terhin auf die Kraft­quellen der „Moderne“ und des „Neuen Men­schen“ beziehen, wollen die Betei­ligung der modernen Kraft­meier an der Genese der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schaft ver­tu­schen. Deshalb wird die heutige Aus­ein­an­der­setzung mit der NSDAP auf die Jahre nach der Macht­er­greifung kon­zen­triert und die deka­dente Kul­tur­re­vo­lution 1890 bis 1933 wird klein­ge­redet. Auschwitz soll die Sicht auf die dem Natio­nal­so­zia­lismus vor­her­ge­hende Auf­lösung der tra­dierten Moral­vor­stel­lungen ver­stellen. Eine buntes Bündnis der Ver­tu­scher und Ver­pfu­scher ist da am Werk.
Das Bauhaus, die Neue Sach­lichkeit, die „Welt­bühne“ und der Acht-Stunden-Tag gehörten für die His­to­riker zur „fort­schritt­lichen“ Tendenz, es war aber nicht die herr­schende, wie das Ende der Republik beweist. Die His­to­riker haben sich im Wei­marer Irr­garten auf die Betrachtung dieser „fort­schritt­lichen“ Gewächse kon­zen­triert, und alles mit der Gar­ten­schere weg­ge­schnitten, was nicht in das von ihnen ver­tei­digte vul­gär­ma­te­ria­lis­tische System passte.
Rainer Maria Rilke sang 1926 im Duett mit den Autoren der „Welt­bühne“ das Hohelied auf Benito Mus­solini: Im Januar und Februar 1926 schrieb er drei Briefe an die in Mailand lebende anti­fa­schis­tisch ein­ge­stellte Her­zogin Gall­arati Scotti, in denen er die faschis­tische Dik­tatur pries und als Heil­mittel empfahl, da es „sich auf die Auto­rität stützt“. Eine „gewisse, vor­über­ge­hende Gewalt­an­wendung und Frei­heits­be­raubung“ sei tole­rabel. Da Unge­rech­tigkeit schon immer Bestandteil aller mensch­lichen Bewe­gungen gewesen sei, solle man, sofern man nur einen Plan für die Zukunft habe, nicht die Zeit damit ver­geuden, Unge­rech­tig­keiten zu ver­meiden, sondern müsse einfach über sie hinweg zur Aktion schreiten. „Das ist genau das, was sich im Augen­blick in Italien abspielt, dem ein­zigen Lande, dem es gut geht und das im Auf­stieg begriffen ist.“ Mus­solini sei zum „Archi­tekten des ita­lie­ni­schen Willens“ geworden, zum „Schmied eines neuen Bewußt­seins, dessen Flamme sich an einem alten Feuer ent­zündet“. „Glück­liches Italien!“
In der Welt­bühne pries Kurt Hiller Italien:
„Der Fascismus hat immerhin Wein im Blut, der deutsche Repu­bli­ka­nismus Bier.“
Heute fragt man sich freilich, ob Mus­so­linis Faschismus in einigen Punkten, ins­be­sondere im kul­tu­rellen Leben, nicht libe­raler war, als die bleierne Mer­kelzeit. Die hat nämlich nicht einmal mehr Bier im Blut, sondern nur noch Bionade.
Einer von Adolf Hitlers Lieb­lings­filmen stammte aus den Studios der UFA. Nachdem der Öster­reicher Fritz Lang 1924 den Zwei­teiler „Die Nibe­lungen“, abge­dreht hatte, ent­spre­chend dem zeit­ge­nös­si­schen Wer­betext „eine strah­lende Waffe deut­schen Glaubens, die unverzagt und unbe­siegt die Welt durschwingt mit dem Glo­ckenton einer freien Mensch­lichkeit“ folgte 1926 „Metro­polis“. Über der unter­ir­di­schen Arbei­ter­stadt mit men­schen­ver­schlin­genden Kraft­ma­schinen ragt die Stadt des Lichts auf, deren Wol­ken­kratzer von wenigen Reichen und Besit­zenden bewohnt werden. Der finstere Jude Rotwang, ein ver­blen­deter Wis­sen­schaftler, der Metro­polis knechten und beherr­schen will, ent­führt die „Arbei­ter­füh­rerin“ Maria und ersetzt sie durch einen gleich­aus­se­henden Roboter, der die Arbeiter zur Revo­lution und zur Zer­störung aller Werte auf­hetzt. Im von den Film-Arbeitern bevöl­kerten Stu­dio­keller kommt es dreh­buch­be­dingt zu Was­ser­ein­brüchen, die das Leben der Pro­le­tarier gefährden. Der Sohn des Besitzers von Metro­polis und die wirk­liche Maria ver­lieben sich, und machen der jüdi­schen Zer­setzung ein Ende.
Während die rechten Eli­ta­risten in der Deut­schen Rund­schau, im Kunstwart und in der Tat publi­zierten, wählten die Links­e­li­ta­risten den Sturm, die Aktion, die Links­kurve und die Welt­bühne als Tribüne ihrer Agi­tation. Walter Laqueur schrieb, dass sowohl die rechte wie die linke Intel­li­gentsia hoff­nungslos in Grüppchen zer­splittert und ständig in internen Que­relen enga­giert gewesen sei. Diese Erkenntnis muß man vor­an­stellen, um von vorn­herein den Ein­druck zu ver­meiden, dass es sich bei linken und rechten Welt­ver­bes­serern um kom­promiß- und damit poli­tik­fähige Klein­gruppen gehandelt habe. Jede dieser Gruppen kämpfte im totalen ideo­lo­gi­schen Krieg um ihren eigenen Endsieg. Dabei ato­mi­sierten sich die Grüppchen immer schneller, Freund­schaften und Bünd­nisse zerbrachen.
Die Welt­bühne-Her­aus­geber Tucholsky und Ossietzky benutzten ihre Zeit­schrift als Sta­lin­orgel des geis­tigen Unflats, um vor allem die Sozi­al­de­mo­kraten (die damals noch nicht von Net­to­pro­fi­teuren des Steu­er­systems domi­niert wurden), das Zentrum und den Außen­mi­nister Stre­semann, also alle ohnehin schwachen semi­de­mo­kra­ti­schen Kräfte zu dif­fa­mieren. Die Welt­bühne beschwor immer wieder die Aus­söhnung mit Frank­reich. Aber eben­jener Poli­tiker, der diese unpo­puläre und not­wendige Aufgabe mit viel Enga­gement und ange­mes­senen Erfolgen über­nommen hatte, eben dieser Stre­semann wurde in der Welt­bühne als gefähr­licher Feind atta­ckiert. Die Sozi­al­de­mo­kraten wurden nicht wegen ihren poli­ti­schen Fehlern gegeißelt – die sie zwei­fellos machten – sondern in sno­bis­ti­scher Manier wegen per­sön­lichen Unzu­läng­lich­keiten, für ihren Mangel an Lebensart, für ihre Defizite bei höherer Bildung. Ebert war ein Sattler und Gastwirt, Severing ein Schlosser, Schei­demann ein Drucker, Noske ein Korb­macher und Wels ein Polsterer.
Diese hatten tra­di­tionell keinen großen Respekt vor Intel­lek­tu­ellen. Sie brauchten Redak­teure für die Par­tei­zei­tungen, ansonsten hielten sie die Intel­lek­tu­ellen auf Arm­länge von sich fern. Henrik de Man schrieb über sie, dass er fähig wäre sich mit Bar­baren abzu­finden, jedoch nicht mit diesen halb­ge­bil­deten petty-bour­geoisen Ele­menten. Die Intel­lek­tu­ellen hielten die Sozi­al­de­mo­kraten für klein­liche Büro­kraten, die sich weder um die Revo­lution, noch um kul­tu­relle Werte küm­merten. In Hemds­ärmeln Bier trinken, am Kar­ten­tisch sitzen oder Kegeln, typische deutsche Ver­eins­meier und Phi­lister seien sie. Nach der Reichs­tagswahl von 1930, bei der die NSDAP zweit­stärkste Kraft geworden war, atta­ckierte die Welt­bühne die Sozi­al­de­mo­kraten, weil sie ihren Wahl­kampf nicht gegen die herr­schenden Zen­trums­ka­tho­liken geführt hatten, sondern gegen die NSDAP. Ab 1932 übernahm die Welt­bühne die sta­li­nis­tische These, dass in Deutschland unter der Herr­schaft der Katho­liken der Faschismus herr­schen würde. Ossietzky akzep­tierte keinen Unter­schied mehr zwi­schen der bür­ger­lichen Demo­kratie und der NS-Herr­schaft. Tucholsky, der sein Wissen über mensch­liches und all­zu­mensch­liches während seiner Tätigkeit für die Feld­po­lizei in Rumänien beim Aus­spio­nieren des Pri­vat­lebens von deut­schen Offi­zieren erworben hatte, brachte 1931 das Buch „Deutschland, Deutschland über alles“ heraus.
Dieses krude Machwerk zielte auf die Sprengung des äußerst zer­brech­lichen Bünd­nisses zwi­schen Hin­denburg, dem Zentrum und der Sozi­al­de­mo­kratie gegen die radikal refor­mis­ti­schen Kräfte KPD und NSDAP. Es war in seinen starken Über­trei­bungen und schiefen Wer­tungen Wasser auf die Mühlen aller extremen Kräfte. Bereits der Einband zeigt das Problem: der ein­ge­bildete Feind war alt und trug einen Zylinder. Der wirk­liche Feind war jung und trug Schirm­mützen. Tucholsky war zeit­lebens ein gefähr­licher poli­ti­scher Idiot.
In einem Auf­wasch wurden alle tra­dierten Insti­tu­tionen ange­griffen, die Ikonen der Jugend­be­wegung wurden dagegen heilig gehalten. Der intel­lek­tuelle Zorn ergoß sich nicht über die intel­lek­tu­ellen Brand­stifter der Vor­kriegszeit, sondern gegen die Stützen der Gesell­schaft: über die Reichswehr, die Kirche, die Justiz, Hin­denburg, die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Kom­man­deure der Polizei, Stre­semann, die Gewerk­schafts­se­kretäre und alle anderen in lei­tenden Posi­tionen. Das Buch zielte nicht nur gegen die Lebensart der deut­schen Klein­bürger (heute die „Abge­hängten“), nicht nur gegen den Mili­ta­rismus, sondern gegen die Lan­des­ver­tei­digung als solche.
„Da gibt es kein Geheimnis der deut­schen Armee, dass ich nicht schnellstens einer fremden Macht über­eignen würde.“
So schrieb Tucholsky. Der Ein­druck, der von Tucholskys Buch erzeugt wurde, war der dass die Deut­schen doof sind. „Tiere schauen auf dich“ war ein Bild betitelt, das acht böse Herren zeigte, die alle die sechzig über­schritten hatten, die meisten von ihnen in Uniform. Walter Laqueur resü­mierte dazu:
„Wenn Tucholsky andeuten wollte, dass die deutsche Armee und Polizei besser aus­se­hende Offi­ziere benö­tigen würde, so ver­schafften ihm das die Nazis ein paar Jahre später in den Figuren von Heydrich und anderen jungen Männern mit auf­fal­lender Erscheinung.“
Laqueur hielt mit dieser Bemerkung den Finger auf die blu­tende Wunde der Wei­marer Intel­lek­tu­ellen: Sie konnten sich ent­spre­chend ihrer Sozia­li­sierung in der Jugend­be­wegung der Kai­serzeit defi­nitiv nicht vor­stellen, dass eine junge Bewegung böse und tra­dierte Instui­tu­tionen unter Umständen nützlich sein könnten. Jung war in ihren Augen nun einmal per Defi­nition gut und alt war böse.
Die NSDAP selbst wählte eine Außen­dar­stellung als junge Kraft: Sie pro­fi­lierte sich einer­seits in Kon­kurrenz zum eben­falls jungen Links­e­li­ta­rismus der KPD, ande­rer­seits grenzte sie sich jedoch auch von der alten „Reaktion“ ab. Aus Rück­sicht auf die schwachen Nerven vieler Leser zitiere ich nur eine Strophe des Horst-Wessel-Liedes, nicht ohne zu erwähnen, dass die Abgrenzung gegenüber der Reaktion mehrfach wie­derholt wurde:
Die Fahne hoch die Reihen fest geschlossen
S.A. mar­schiert mit ruhig festem Schritt
|: Kam’raden die Rot­front und Reaktion erschossen
Marschier’n im Geist in unsern Reihen mit

So wie jung per Defi­nition fort­schrittlich war und alt reak­tionär, so war gesund per Dekret gut und krank war böse. Kon­se­quen­ter­weise tadelte Tucholsky Joseph Goebbels nicht wegen seiner Tri­bu­nen­ra­serei, sondern wegen dem Klumpfuß. Wegen diesem Jugend- und Gesund­heitswahn wurden der junge Faschismus und der gesunde Sta­li­nismus bewundert und gepriesen, und das in tra­di­tio­nellen par­la­men­ta­ri­schen Bahnen seinem sicheren Untergang ent­ge­gen­wan­kende halb­de­mo­kra­tisch ver­fasste Deutschland von ganzem Herzen zutiefst gehasst. Tucholsky schrieb 1926 in der Weltbühne:
„Da sind zwei Kräfte in Europa, die aus­ge­führt haben, was sie wollten: Die Faschisten und die Russen. Der ent­schei­dende Faktor ihrer Siege war die mutige Unversöhnlichkeit.“
Nun gibt es noch die herr­schende Meinung, dass alle Unzu­läng­lich­keiten Tucholskys durch seinen Pazi­fismus auf­ge­wogen würden. Dieser Pazi­fismus ent­stand bei Tucholsky ver­gleichs­weise spät. Viele kriegs­frei­willige Expres­sio­nisten und einige Wan­der­vögel hatten bereits 1915, 1916 oder 1917 erkannt, dass es einen Unter­schied zwi­schen dem hei­ligen Schauer beim Töten im Gedichtband und dem pro­fanen Schlamm und Schmutz im Schüt­zen­graben gab. Tucholsky gehörte dagegen offenbar zum letzten Auf­gebot der Kriegs­li­te­raten. Noch im August 1918 anläßlich des Aufrufs zur 9. Kriegs­an­leihe nahm Tucholsky in der Kate­gorie „Lite­ra­rische Bei­träge“ am Hel­den­ver­schö­ne­rungs­wett­bewerb der „Frank­furter Zeitung“ teil. Tucholsky bemühte sich zwar, kam bei diesem Kriegs­ver­län­ge­rungs­contest nicht unter die preis­wür­digen Beiträge.
Das geistige Klima in der Spät­kai­serzeit und in der Wei­marer Republik war von obskuren, deka­denten und okkulten Strö­mungen wesentlich belas­teter, als es die Geschichts­bücher und die ein­schlä­gigen Doku­men­ta­tionen ein­räumen. Der Focus der Medien und Geschichts­bücher liegt immer auf dem erstaun­lichen wirt­schaft­lichen Auf­stieg Deutsch­lands vor 1914, auf Glanz und Gloria der Ber­liner Mon­archie, auf Bauhaus, Charleston und Bubikopf. Insofern ein Zerrbild, als das letztlich nicht die Ein­flüsse waren, die Deutschland in zwei Kriege und zwei Revo­lu­tionen stürzten.
Genau die­selben in den Medien und im Bil­dungs­system ver­an­kerten Kräfte, die heute das gesell­schaft­liche Klima in Deutschland ver­giften, taten das auch vor 100 Jahren. Jene selbst­ver­liebten „Avant­garden“, die immer dachten etwas bes­seres zu sein, und den Rest der Welt als „abge­hängt“ ver­un­glimpften. Denen kein poli­ti­sches Risiko je zu hoch war, wenn es darum ging die Welt zu ver­bessern. Hasar­deure, an denen unser geliebtes Deutschland wie ein Hund leidet.
Die gute Nach­richt: Wenn man nach dem Grad der Dekadenz, Per­version und Ver­kom­menheit des Mer­kel­re­gimes geht, so leben wir in einer vor­re­vo­lu­tio­nären Periode.
Noch eine gute Nach­richt: Soeben wurde die ita­lie­nische Regierung ver­eidigt. Prabels Blog war das erste Medium in Deutschland, welches genau diese Regierung aus Fünf­sternlern und Lega vor­aus­ge­sehen hatte. Meine Blog-Leser sind der Zeit oft etwas voraus!
 

Dieser her­vor­ra­gende Text von Wolfgang Prabel erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.prabelsblog.de