Kleine Spende ohne Gegenleistung? - Bild: Initiative Echte Soziale Marktwirtschaft - https://www.flickr.com/photos/119091468@N08/12841552433 - CC BY-SA 2.0

Der Sozi­al­staat spaltet die Gesellschaft

Eine her­vor­ra­gende Analyse von Michael Ladwig
Bis­marck und der Sozialstaat

Der ver­meintlich soziale Für­sorge ver­tei­lende Staat ist für die meisten Men­schen unan­tastbar, sein Rückbau oder gar seine Abschaffung steht für sie nicht zur Debatte. Die staat­liche Sozi­al­ver­si­cherung wird von den meisten Men­schen als „Errun­gen­schaft“ gefeiert, ohne Wissen darüber, aus welchen Gründen Otto von Bis­marck (1815–1898) sie der­einst ins Leben rief. Es war das poli­tische Kalkül Bis­marcks, den sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Gegnern und ihren wohl­funk­tio­nie­renden, pri­vaten Gewerk­schafts­ver­einen das Wasser abzu­graben. Es ging nicht darum, die soziale Idee aus reiner Mensch­lichkeit durch den Staat ver­wirk­licht zu sehen. Bismarcks…
„… Gedanke war, die arbei­tenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Ein­richtung anzu­sehen, die ihret­wegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“[1]
Es ging, worum es in der Politik immer ging und geht: Um Macht. Bis­marck sah eine Gefahr, die von einer besit­zenden, vom Staat unab­hängig lebenden Arbei­ter­klasse aus­gehen könnte. Er schreibt:
„Wer seine Pension hat für das Alter, der ist viel zufrie­dener und viel leichter zu behandeln als wer darauf keine Aus­sicht hat. Sehen Sie den Unter­schied zwi­schen einem Pri­vat­diener und … einem Hof­be­dienten an; der Letztere wird sich weit mehr bieten lassen …; denn er hat Pension zu erwarten.“[2]
Selbst wenn sich die Men­schen Bis­marcks Motiven bewusst wären, der Sozi­al­staat ist den meisten von ihnen sakro­sankt, mehr noch, die Befür­worter finden sogar die wärmsten Worte für ihn, sehen in ihm ein Hei­ligtum. Die Über­höhung des sozialen Enga­ge­ments, kurz und schnör­kellos zum „Soli­da­ri­täts­prinzip“ ver­klärt, ist inzwi­schen fest in Geset­zes­texten und in den Köpfen der meisten Men­schen ver­ankert. Es wird schwer­ge­wichtig medial und poli­tisch in Stellung gebracht, um poli­tische Ziele mit mög­lichst wenig Wider­stand zu erreichen.
Men­schen, die sich nicht soli­da­risch zeigen, ver­gehen sich an der Gemein­schaft, so heißt es. Ja, sie schä­digen sie und werden geschmäht. Die Gesetze sind in dieser Hin­sicht ein­deutig und uner­bittlich. Steu­er­hin­ter­zieher und Schwarz­ar­beiter werden hart bestraft. Von Politik, Sozi­al­ver­bänden und anderen Poten­taten des Sozi­al­re­gimes hören die geplagten Men­schen unentwegt, wer, wann, wo und wie viel in den großen Sozi­altopf ein­zu­zahlen hat. Mal sind es die soge­nannten „Bes­ser­ver­die­nenden“ oder „Reichen“, ein anderes mal die Unter­nehmen oder die „Spe­ku­lanten“. Alle müssen ihren Gewinn mit der Gemein­schaft teilen.
Soli­da­rität ist DAS Buz­zword der Politik und hat einen hohen mora­li­schen Klang. Der Aufruf zum Kampf gegen soziale Miss­stände gleicht einer mili­tä­ri­schen Mobil­ma­chung in Frie­dens­zeiten. Sie erfasst jeden: Vom Neu­ge­bo­renen bis zum Rentner. Die Durch­drin­gungs­tendenz soli­da­ri­scher Zwangs­ab­gaben betragen seit dem Ende der 1970er 30% dessen, was in der Bun­des­re­publik erwirt­schaftet wird. Die Frage, wer mit wem und aus welchem Grund und mit welchen Mitteln und welchen Zielen soli­da­risch zu sein hat, wird dabei weder gestellt noch beant­wortet. Der Aus­tausch von sen­ti­men­talen All­ge­mein­plätzen tritt statt­dessen als Antwort an die Stelle einer ethi­schen Argu­men­tation. In der Gemein­schaft soll einer für den anderen ein­treten. Argu­men­tativ eine völlige Recht­fer­ti­gungs­wüste, aber scheinbar aus­rei­chend, um 883 Mrd. € Sozi­al­budget, das in Summe die Res­sourcen aus­weist, die der Sozi­al­staat für sämt­liche sozialen Zwecke auf­wendet, umzu­ver­teilen (Stand 2014, 10.900 € pro Kopf!)[3].
Die fol­genden drei Dia­gramme zeigen die ver­geb­lichen Ver­suche des bun­des­deut­schen Ver­sor­gungs­staates auf, mit dem Geld anderer Leute nach dem Gieß­kan­nen­prinzip irgendwie „Hilfe“ zu orga­ni­sieren, um die Gesell­schaft zu einer „gerechten“ zu machen. Dia­gramm 1 offenbart die absolute Höhe aller Sozi­al­aus­gaben in der Bun­des­re­publik, im Sta­tis­ti­schen Jahrbuch als „Sozi­al­budget“ sub­su­miert. Der geneigte Leser erkennt deutlich den expo­nen­ti­ellen Anstieg seit der Schließung des Gold­fensters im August 1971 durch US-Prä­sident Nixon. Dia­gramm 2 legt die absolute Summe des Sozi­al­budgets auf jeden Bewohner der Bun­des­re­publik um. Auch hier ist eine starke Steigung seit 1971 aus­zu­machen. Dia­gramm 3 setzt das Sozi­al­budget zum Brut­to­in­lands­produkt[4] ins Ver­hältnis. Der sprung­hafte Anstieg seit 1971 ist unver­kennbar. Seit den späten 1970er tänzelt das Ver­hältnis jedoch um die 30%-Marke, da das vom Sta­tis­ti­schen Bun­desamt ermit­telte BIP seit der Zeit ungefähr im gleichen Maße stieg wie die Sozialausgaben.



Soli­da­rismus als Werkzeug der Politik
Trotz mas­sivem Wachstum des Sozi­al­budgets bleibt der Erfolg scheinbar auf der Strecke. Denn nie ist genug Geld für „ange­messene“ Hilfe da. Ergo müssen im nächsten Jahr noch mehr Steuern und Sozi­al­ab­gaben ein­ge­nommen werden, um den neuen Betä­ti­gungs­feldern Raum zu ver­schaffen. Die Frage nach dem „Warum“ der ewig zu leeren Kassen wird nicht gestellt.
Im Grunde beinhaltet der poli­tisch über­formte Soli­da­rismus im wesent­lichen das, was im Sinne eines her­kömm­lichen Gerech­tig­keits­denkens als unge­heu­er­liche Unge­rech­tigkeit betrachtet wird: Nämlich unter Androhung von Gewalt jemandem etwas von dem weg­zu­nehmen, was der­jenige recht­mäßig ver­dient hat oder besitzt, um es den weniger Gut­ge­stellten zum Konsum zu überlassen.
Dabei ist „soziales Enga­gement“ keine staat­liche Erfindung. Die Familie ist es, auf die wir unser Augenmerk zu richten haben. In ihr herrschte und herrscht die Ur-Ethik des gemein­schaft­lichen Teilens. Und diese wech­sel­sei­tigen per­sön­lichen Bezie­hungen ver­knoten sich auch in grö­ßerem Maßstab zu einem Bezie­hungs­netzwerk, ein Brut­kasten der gemeinhin als „Gesell­schaft“ klas­si­fi­ziert wird. Daher sind wohl einige Poli­tiker schon dem völ­ligen Unsinn ver­fallen, von der „Familie als der Keim­zelle des Staates“ zu sprechen. Nichts ist fal­scher! Denn in der Familie sind die Eltern die­je­nigen, die die erar­bei­teten Res­sourcen regel­ge­recht umver­teilen und die­je­nigen, die pro­fi­tieren, bestimmen nicht die Regeln. Im Staat ist es umge­kehrt. Die, die durch die erar­bei­teten Res­sourcen gefüttert werden, bestimmen unser Leben und die, die dafür zahlen, haben nichts zu sagen.
Über die Familie hinaus gibt es weitere, unzählige andere frei­willige – teils tem­poräre – Zusam­men­schlüsse, die von vitalem Selbst­in­teresse beseelt sind. Da sind zu nennen die Ver­si­che­rungen, Vereine, Genos­sen­schaften, Zünfte, Stif­tungen, Ver­bände, Glau­bens­ge­mein­schaften, Initia­tiven, die ebenso bemüht sind, die sozialen Pro­bleme ihrer Mit­glieder lösen zu helfen. In Erwei­terung der Familien-Ethik ist es zutreffend zu sagen, dass das Teilen der Besitz­tümer mit der Sippe, dem Dorf, dem Clan, den Nach­bar­schaften, mit Freunden, freien Asso­zia­tionen wie den oben genannten Gebor­genheit stiftet, wobei sich jedoch auf jeder dieser Bezie­hungs­ebenen jeweils Iden­ti­fi­kation und Pflicht­gefühl per­manent ver­wässert. Letztlich bleibt für die gesamte Menschheit am Ende mate­riell und auch zeitlich wenig übrig.
Der zeit­ge­nös­sische Sozi­al­staat jedoch stellt die frei­willige Hilfe und deren hohen mora­li­schen Wert auf den Kopf. Der poli­tische Kampf­be­griff „Soli­da­rität“ öffnet Tür und Tor zum lega­li­sierten Raub und wei­terem Staats­ausbau bis hin zu dem weit ver­brei­teten Glauben, dass jedermann von den Sozi­al­ab­gaben seiner Mit­bürger irgendwie pro­fi­tieren könne. Die Ver­fechter des Sozi­al­staates müssen ihrer eigenen Doktrin gemäß zwangs­läufig immer davon aus­gehen, dass nicht genug Soli­da­rität in einer Gesell­schaft vor­handen ist, nur so lässt sich das Sozi­al­budget ständig erhöhen. Weil sie unentwegt neue Opfer­gruppen für sich ent­decken, wird der Hilfe nie Genüge getan werden können. Mög­li­cher­weise nimmt die Suche nach neuen Opfern schon lange patho­lo­gische Züge an. Ihre Unzu­läng­lichkeit, frei­willige Hilfe zu orga­ni­sieren, wird nur von ihrem zwang­haften Eifer und der Gier nach Amts­stu­ben­ar­beits­plätzen über­troffen. Ihr Mittel der Wahl ist daher die Hilfe, die sich auf erzwungene Leis­tungen stützt: dem Sozi­al­staat. So werden jedoch die Befür­worter des Sozi­al­staates zu den wahren Treibern der sozialen Kälte. Es ist eben der Zwang, in dem sich Kälte aus­drückt: Die Kälte der­je­nigen, die ihre Mit­men­schen gegen deren Willen zur Hilfe nötigen. Ihre „Soli­da­rität“ gibt das Geld anderer Leute aus und kehrt die Begriff­lichkeit des Soli­da­ri­schen ins Gegenteil. Sie erteilen einen Befehl, wer dem nicht Folge leistet, bekommt Besuch von der schwer bewaff­neten Exe­kutive. Stefan Blan­kertz nannte diesen Umstand zu Recht „Soli­da­rität von Räubern“.
Der Soli­da­rismus spaltet eher die Gemein­schaft der Men­schen, geradeso wie das Euro­ex­pe­riment Europa mehr geschadet hat als es von Nutzen war. Die Politik bleibt damit immer im Spiel, weil es stets Dinge gibt, die geregelt werden wollen. Das ewige Lied vom divide et impera hat täglich Urauf­führung. Man könnte auch sagen von den (Erfolg)Reichen nimmt die Politik das Geld und von den Habe­nichtsen die Stimmen und beiden Gruppen ver­sprechen soli­da­rische Poli­tiker, sie jeweils vor der anderen Gruppe zu beschützen.
Findige Staats­theo­re­tiker haben das vor langer Zeit bereits erkannt und bedienen sich der gesetzlich ver­ord­neten Soli­da­rität als ein mäch­tiges, poli­ti­sches Instrument. Schlei­chend, aber dennoch mit Gewissheit, wird dabei der Helfer auf Kosten der ver­meint­lichen Opfer gestärkt. Das Streben nach Herr­schaft durch­dringt mit­hilfe für­sorg­licher Dia­lektik bald alle mit­mensch­lichen Ver­hält­nisse. Der unver­kennbare Erfolg des Soli­da­ri­täts­prinzips liegt in der unspe­zi­fi­schen For­derung nach Gegen­leis­tungen. Diese Art der „Soli­da­rität“ ist auf­ge­laden in Form mora­li­scher Schulden, die in den Zuwen­dungs­emp­fängern eine Bereit­schaft erzeugen soll, dem Zuwen­dungs­geber im Bedarfsfall zu Diensten zu sein, die er für seine Existenz benötigt und wenn es nur bedeutet, alle vier Jahre ein Kreuzchen auf einem Stück Papier zu machen. Genau aus diesem Grunde orga­ni­sieren kluge Macht­haber und Regie­rungen aller Cou­leurs gerne Soli­da­rität, um Popu­la­rität zu gewinnen und sich mit fremdem Geld (und einer immer höheren Staats­ver­schuldung) Gefolg­schaft zu erkaufen.
Die poli­tische Dressur beginnt zumeist mit Geschenken. Diese alle auf­zu­zählen, reicht hier der Platz nicht, die Formen sind viel­fältig. Sie reichen von Zuschüssen, über zins­günstige Dar­lehen, Steu­er­be­frei­ungen, Steu­er­ver­güns­ti­gungen oder eben soziale Leis­tungen in Form von Geld. Die staatlich ver­ordnete Soli­da­rität wird oft durch poli­ti­sches, kurz­fris­tiges Denken bestimmt und mittels Schulden finan­ziert, das heißt auf Kosten anderer, deren Geburt erst noch heiß ersehnt wird.
Diese Art der Soli­da­rität ist der säku­la­ri­sierte Nach­folger der fami­liären Hilfe, wahl­weise auch der christ­lichen Nächs­ten­liebe, folgt jedoch ersichtlich anderen Gesetzen. Von hoher Moral ist Soli­da­rität jedoch nur, wenn sie aus freiem Antrieb erfolgt und frei­willig gegeben wird. Das Handeln unter Zwang ist für eine Gemein­schaft von freien Men­schen wertlos.
Gibt es zu wenig Hilfe?
Im Grunde dreht es sich bei jeder Dis­kussion, ob der Staat Hilfe in Form von sozialen Leis­tungen bereit­stellen soll oder nicht, um das unbe­wiesene Motto: „Es gibt nicht genug private Hilfe!“. Von sozialer Kälte (Ego­ismus) ist meist gleich­zeitig die Rede.
Dabei gibt es genügend Bei­spiele pri­vater Hilfe. Die Mil­li­arden Stunden ehren­amt­licher Hilfe, die jedes Jahr in Heimen, Ver­einen und Tafeln außerhalb der Familien geleistet werden, darf man in dieser Dis­kussion nicht ver­schweigen. Ich weise nur dar­aufhin, dass der unbe­zahlte Einsatz von fast 15 Mil­lionen Men­schen in Deutschland[5] wohl kaum das Prä­dikat „zu wenig“ ver­dient hat. Ich erinnere nur an ein sehr bekanntes Bei­spiel groß­flä­chiger Hilfe, die vielen bekannt sein dürfte. Es ist die 1993 von der Pfle­ge­dienst­be­trei­berin Sabine Werth gegründete Tafel. Sie startete in Berlin und bis heute sind fast 1000 von ihnen eröffnet worden. Der Erfolg ist unüber­sehbar. Mehr als 100.000 t (!) Lebens­mittel werden jedes Jahr an Bedürftige (ca. 1,5 Mil­lionen!) abge­geben. Über 60.000 Men­schen arbeiten für die Tafel, die meisten davon ehren­amtlich. Und was ganz erstaunlich ist, die Tafeln erhalten kei­nerlei flä­chen­de­ckende Stütze aus Steuermitteln!
Die Gesell­schaft ist erkennbar nicht so kalt, wie die Politik den Men­schen sug­ge­rieren will. Dabei ist davon aus­zu­gehen, dass der über­formte Sozi­al­staat in den ver­gan­genen Jahr­zehnten viele private Initia­tiven erstickt hat oder erst gar nicht hat ent­stehen lassen.
Schlimmer noch: Alle private Hilfe kann ein jähes Ende finden, wenn der Ver­sor­gungs­staat sich noch weiter aus­dehnt und noch weiter wuchert. Denn echte Soli­da­rität und der umver­tei­lende Wohl­fahrts­staat stehen sich unver­söhnlich gegenüber. Und was die Höhe der in die Hilfe flie­ßenden Gelder betrifft, so stehen beide sogar in einem nicht zu leug­nendem Kon­kur­renz­ver­hältnis. Lt. Nie­mietz[6] nimmt die frei­willige Spen­den­tä­tigkeit bei stei­genden Ein­kom­mens­steuern und Sozi­al­ab­gaben eklatant ab.
Was jedoch sicher sein dürfte ist, dass in einer zivi­li­sierten Gesell­schaft kein Mensch ohne Grund­ver­sorgung leiden muss, denn das, was den Men­schen aus­macht und ihn vom Tier­reich unter­scheidet, ist gerade seine Fähigkeit, mit Men­schen zu koope­rieren, die er über­haupt nicht kennt und das schließt auch die gegen­seitige Hilfe mit ein.
Der Wett­bewerb der Ideen, Modelle und Ver­fahren ist nicht nur der beste Weg um her­aus­zu­finden, was die Men­schen wollen und was nicht, sondern er ver­schafft uns auch das viel­ge­lobte Leben im Plural.


Michael Ladwig für das Ludwig von Mises Institut Deutschland
[1] Habermann, Wohl­fahrts­staat, S. 181.
[2] aaO, S. 182.
[3] Sta­tis­ti­sches Jahrbuch 2016, S. 228.
[4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4878/umfrage/bruttoinlandsprodukt-von-deutschland-seit-dem-jahr-1950/
[5] https://de.statista.com/themen/71/ehrenamt/
[6] Nie­mietz in „Sack­gasse Sozi­al­staat“ S. 94 (Dia­gramm)