Stell dir vor, es ist Hin­richtung, und jeder geht hin!

Wenn im Internet Videos auf­tauchen, in denen zu sehen ist, wie der IS einer west­lichen Geisel den Kopf abschlägt, dann ist das Ent­setzen groß. Wir distan­zieren uns. Oft werden die Ent­haup­tungs-Videos ver­glichen mit den grau­samen Hin­rich­tungen im Mit­tel­alter. Ich wage zu behaupten: Würde die Todes­strafe in Deutschland wieder ein­ge­führt und würden Hin­rich­tungen wie einst im Mit­tel­alter als Theater des Schre­ckens insze­niert, würden viele Men­schen sich das anschauen – live und in Farbe. Denn ein Henker steckt in jedem von uns.

Das Theater des Schreckens

Das öffent­liche Kopf­ab­schlagen hat in Europa eine lange Tra­dition. Und sie reicht weiter in unsere Gegenwart hinein, als wir das wahr­haben möchten. Im hes­si­schen Hanau bei­spiels­weise fand vor gerade mal 157 Jahren die letzte Hin­richtung statt. 12-tausend (!) Schau­lustige waren am 11. Januar 1861 bei eisiger Kälte ange­reist, um sich das Spek­takel anzu­schauen. Der Delin­quent: Der 43 Jahre alte Johann Heinrich Nolte. In einem Indi­zi­en­prozess waren die Geschwo­renen ein­deutig zu dem Urteil gekommen, dass der Mann aus Bad Nauheim eine Frau bes­tia­lisch ermordet hatte. Nolte wurde zum Tode ver­ur­teilt. Nachdem sein Kopf gerollt war, spen­deten die Schau­lus­tigen Beifall. Berichtet wird auch, dass einige der Zuschauer vom Blut des Hin­ge­rich­teten tranken.

Die Gier nach Blut

Noch bis ins 19. Jahr­hundert spielten sich bei Hin­rich­tungen makabre Szenen ab. Men­schen, die das frische Blut der Delin­quenten getrunken hatten, liefen zu Dut­zenden mit ihren blut­ver­schmierten Gesichtern herum wie Vampire. Scharf­rich­ter­ge­hilfen füllten das Blut in Becher, tränkten Tücher damit und ver­kauften beides als Heil­mittel gegen Epi­lepsie und Aussatz. Während der fran­zö­si­schen Revo­lution stürmten die Zuschauer oft selbst das Schafott und tauchten ihre Hände ins Blut der Aris­to­kraten. Die „Blut­säufer“ gerieten in einen regel­rechten Rausch. Männer füllten das Lebens­elixier in die Scheiden ihrer Degen, Frauen malten sich gegen­seitig blutige Schnurr­bärte. Bei der Hin­richtung des Schin­der­hannes und seiner Bande 1804 fingen die Hen­kers­knechte das Blut in Bechern auf und gaben es den Umste­henden zu trinken als Mittel gegen die Fall­sucht (Epi­lepsie). 1859 stürzte sich in Göt­tingen die Menge auf die Leiche einer gerade hin­ge­rich­teten Gift­mi­scherin, um an ihr Blut zu kommen. Offenbar schrieb man ihrem Blut, da es eine heil­kundige Frau gewesen war, besondere Kräfte zu. Bei der letzten Hin­richtung 1839 in Gotha „stürzten die zahl­reichen Zuschauer vor und tauchten Brot­stücken hinein, um diese zu verzehren“.

Volks­fest­stimmung bei der letzten öffent­lichen Hin­richtung in Frankreich

1939 wurde in Frank­reich der aus Frankfurt stam­mende deutsche Seri­en­mörder Eugen Weidmann hin­ge­richtet. In der Nacht vor der Hin­richtung herrschte in Ver­sailles Volks­fest­stimmung. Hun­derte Men­schen drängten sich auf dem Platz vor dem Gefängnis. Im Hotel gegenüber bezogen Schau­lustige, Foto­grafen und Jour­na­listen ihr Quartier. Die Polizei hatte Absperr­gitter auf­ge­stellt. In den abge­sperrten Bereich kam nur, wer eine Ein­tritts­karte hatte: Par­la­ments­ab­ge­ordnete, Kul­tur­schaf­fende, Per­sön­lich­keiten des öffent­lichen Lebens. Rund 170 pro­mi­nente Schau­lustige sollen es gewesen sein, die sich im Laufe der Nacht ver­sam­melten und darauf war­teten, bei der Hin­richtung in der ersten Reihe zu stehen. In einem Sicher­heits­ab­stand von etwa zwanzig Metern (wegen des sprit­zenden Blutes) bildete die Haute Volée einen Halb­kreis um das Schafott. Kurz, nachdem die Stahl­klinge den Kopf vom Köper getrennt hatte, knallten die Cham­pa­gner­korken. “Auf das Monster!” johlten die Schau­lus­tigen. Frauen rannten, so die Über­lie­ferung, zur Guil­lotine, um ihre Taschen­tücher im Blut des pro­mi­nenten Seri­en­killers zu tränken. Trotz eines strikten Verbots wurde die Hin­richtung gefilmt. Noch heute finden sich Auf­nahmen im Netz. Die Videos wurden von Hun­derten aufgerufen.
Schon eine Woche nach der Hin­richtung Weid­manns, am 24. Juni 1939, wurde in Frank­reich der Vollzug der Todes­strafe aus der Öffent­lichkeit ver­bannt. Alle Voll­stre­ckungen wurden von da an hinter Gefäng­nis­mauern vollzogen.

Der Henker in uns

Was wäre, wenn es plötzlich wieder öffent­liche Hin­rich­tungen gäbe? Die Stimmung im Land ist auf­ge­heizt. Auf­ge­staute Wut und Aggression brechen sich Bahn. Genügt es noch, insze­niertes Töten in Kino, Fern­sehen und Video­spielen anzu­schauen? „Oft stillt der Henker in uns beim Fern­seh­schauen sein Bedürfnis, das Töten von Men­schen zu sehen“, sagt der Psy­chologe und Mythen­for­scher Wolfgang Bauer. „Täglich werden in Pro­grammen der Fern­seh­an­stalten im Schnitt siebzig Men­schen in Kri­mi­filmen und Thrillern ermordet.“ Der Schritt vom Spiel zum blu­tigen Ernst ist nicht weit: „Nach grau­samen Tötungen wird immer wieder der Ruf nach der Wie­der­ein­führung der Todes­strafe laut.“
Stell Dir vor, es ist Hinrichtung…


Quelle: www.text-geschieht.de