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Zwei Herzen schlagen, ach, in meiner Brust! — Über das heikle Geschenk einer Organspende

Bun­des­ge­sund­heits­mi­nister Jens Spahn hat sich für eine Wider­spruchs­lösung bei Organ­spenden aus­ge­sprochen. Künftig solle jeder Deutsche auto­ma­tisch ein Spender sein, solange er oder die Ange­hö­rigen nicht aus­drücklich wider­sprechen. Das Bun­des­ka­binett hat den Gesetz­vor­schlag durch­ge­wunken, bei der Debatte im Bun­desrat ver­gangene Woche gab es auch kri­tische Stimmen – zu Recht. Wenn Spahns Vor­schlag Gesetz würde, wäre das ein Ein­griff des Staates in das Selbst­be­stim­mungs­recht des Ein­zelnen. Doch warum sinkt die Bereit­schaft der Deut­schen, Organe zu spenden? Weil wohl immer mehr Men­schen bewusst wird, dass eine Organ­spende aus medi­zi­ni­scher Sicht zwar Routine sein mag, aus ethi­scher Sicht aller­dings ein äußerst heikles Geschenk ist. Für den Spender ebenso wie für den Empfänger.
Anäs­thesie für Hirntote
Ich kann mich gut daran erinnern, wie scho­ckiert mein Stief­vater war, als er in den 1990er-Jahren Zeuge der Vor­be­rei­tungen zu einer Organ­ent­nahme wurde. Er arbeitete als Dol­met­scher. Ein junger Mann war nach einem Unfall hirntot. Als die Kli­nik­ärzte mit der Frau des Ver­un­glückten über die Mög­lichkeit der Organ­spende sprachen, über­setzte mein Stief­vater. Die Ehefrau stimmte einer Explan­tation zu. Der junge Mann wurde auf dem Ope­ra­ti­ons­tisch fixiert und anäs­the­siert wie jeder Patient, der nach der OP wieder auf­wachen wird. Offenbar waren sich die agie­renden Ärzte nicht ganz sicher, dass der Hirntote keinen Schmerz mehr empfand. Meinen Stief­vater und auch mich trieb damals die Frage um, was ein Hirn­toter wahr­nimmt, wenn man ihn vom Kinn bis zum Schambein auf­schneidet, die Kör­per­hälften aus­ein­an­der­spreizt und mit eis­kalter Per­fu­si­ons­lösung füllt. Und dann mit dem „Abernten“ der Organe beginnt. „To harvest“, sagt man im eng­li­schen Sprachraum. Sehr treffend, finde ich.
Lei­chen­fled­derei?
Im Internet findet sich der Bericht eines jungen Arztes aus dem Jahr 1993 bei einem Sym­posium im Straß­burger Europa-Parlament.
„Als Assistent an einer Uni­ver­si­täts­klinik war ich mehrmals, quasi dazu ver­donnert, bei der Organ­ent­nahme mit­zu­machen. Wenn man das einmal mit­ge­macht hat, dann stellt man die gesamte Trans­plan­ta­ti­ons­chir­urgie in Frage, weil das, was ich da mit­erlebt habe, an Lei­chen­fled­derei grenzte. Bei einigen Pati­enten war es so: Es lag die Zustimmung vor, eine Niere zu ent­nehmen. Dann kam aber plötzlich der Internist und sagte: ‘Ich brauche für meine For­schung noch schnell ein Stück Bauch­spei­chel­drüse.‘ Der Orthopäde kam an und sagte: ‘Ich brauche noch ein Stück aus dem Knie und ein Stück aus dem Unter­schenkel’, der Augenarzt kam an und sagte: ‘Ich brauche die beiden Horn­häute.’ Ich kam mir vor wie auf einem mensch­lichen Auto­friedhof.” (Dr. med. Sieg­fried Ernst jun., wört­liche Wie­dergabe eines Rede­bei­trages, Straßburg 1993)
Das Herz als Sitz der Seele 
Das Herz muss schlagen, solange geerntet wird. Was spielt sich ab im „Sitz der Seele“ während der grau­samen Pro­zedur? For­schungen zeigen, dass das Bewusstsein nicht nur eine Leistung des Gehirns, sondern auch des Herzens ist. Unser Herz ist nicht nur eine außer­or­dentlich leis­tungs­fähige „Pumpe“, sondern auch ein sen­sibles Organ, das auf unser see­li­sches Erleben reagiert. Das Herz besteht nur zu 35% aus Muskel- und zu 65% aus Ner­ven­zellen. Das hat Dr. Andrew Armour, ein Neu­rologe aus Kanada, her­aus­ge­funden. Das Herz trans­por­tiert also nicht nur Blut und Nähr­stoffe, sondern auch messbare Energie und Infor­ma­tionen in jeden Bereich des Körpers. Dessen sind sich offenbar viele Men­schen intuitiv bewusst. Nach einer Umfrage an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­täts­klinik Han­nover würde sich jeder dritte Trans­plan­ta­ti­ons­pa­tient unwohl fühlen, das Organ eines Selbst­mörders oder Kri­mi­nellen ein­ge­pflanzt zu bekommen. Die Ergeb­nisse zeigen, wie sehr die Organ­trans­plan­ta­tionen auch als eine Ope­ration an der Per­sön­lichkeit emp­funden werden. Studien, die sich mit dem Leben der Pati­enten nach der Ope­ration beschäf­tigen, ergaben: Viele Emp­fänger eines Herzens haben das Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein. Gele­gentlich ent­wi­ckeln sie sogar die Fan­tasie eines geteilten Körpers. In seinem Buch „Der Ein­dringling“ schreibt der herz­trans­plan­tierte Straß­burger Phi­losoph Jean-Luc Nancy: „ …es dauert nicht lange, bis sich der An­dere als Fremder kundtut, der durch seine andere Immu­nität Gekenn­zeichnete. Es kommt zur Abstoßung. Der Andere wird von meinem Immun­system als etwas Frem­des, als Ein­dringling empfunden.“
Werden auch die Eigen­schaften des Spenders transplantiert?
Der Ame­ri­ka­nerin Claire Sylvia wurde 1988 im Alter von 48 Jahren das Herz und die Lunge eines ver­un­glückten Motor­rad­fahrers ein­ge­setzt. Zu diesem Zeit­punkt wusste sie nicht, woher die Organe kamen. Bei einer Pres­se­kon­ferenz wurde sie gefragt: „Wonach sehnen Sie sich mehr als alles andere, jetzt, wo Sie diese Ope­ration über­standen haben?“ „Im Moment möchte ich nichts lieber als ein kühles Bier“, ant­wortete Claire spontan und hielt erstaunt inne. Zuvor hatte sie nie Bier getrunken. War ihr Organ­spender Bier­trinker gewesen? Im Laufe der kom­menden Wochen stellte sie weitere Per­sön­lich­keits­ver­än­de­rungen fest: Heiß­hunger auf Fastfood, ein anderer, männ­licher Gang. Sie recher­chierte, nahm Kontakt auf zu den Eltern des Spenders — in den USA ist das möglich – und traf sie. In den Gesprächen stellte sich heraus, dass mit dem Herzen des 18jährigen Tim auch einige seiner Per­sön­lich­keits­an­teile auf Claire über­tragen worden waren.
Das Herz als Sitz der Empfindungen 
Wird mit dem Herzen also nicht nur ein Organ, sondern auch die fein­stoff­liche Lebens­en­ergie des Spenders ein­ge­pflanzt? Viele Bei­spiele sprechen dafür. Der Rapper, der plötzlich ein Faible für Klassik ent­wi­ckelt und erfährt, dass der Spender mit einem Gei­gen­kasten im Arm starb. Der Vieh­züchter, der das Herz eines 16jährigen Vege­ta­riers erhält und plötzlich kein Fleisch mehr essen kann. Die 35Jährige, in deren Brust das Herz einer 24jährigen Pro­sti­tu­ierten schlägt: „Ich denke, dass mir mit dem Herzen auch ihr Sexu­al­trieb über­tragen wurde, und mein Mann ist eben­falls der Meinung.“
Der inzwi­schen ver­storbene ame­ri­ka­nische Kar­diologe Dr. Paul Pearsall hat unzählige Bei­spiele aus der Praxis doku­men­tiert. Alles nur Ein­bildung? Zell­bio­logen haben her­aus­ge­funden, dass unser Denken und Fühlen, also auch unsere Seele, bis in jede ein­zelne unserer Zellen hinein wirkt. Mit einem fremden Organ erhält man nicht nur ein Stück fremdes Fleisch, sondern auch ein Stück fremde Seele. Fremde Gedanken, Fähig­keiten, Erin­ne­rungen. Je unter­schied­licher Spender und Emp­fänger, desto größer die Schwie­rig­keiten, die der Emp­fänger mit dem „Geschenk“ hat. Denn nun schlagen buch­stäblich zwei Herzen in seiner Brust – das phy­sische des Fremden und das eigene, das äthe­risch im Sinne von gespei­cherten Emp­fin­dungen noch zu spüren ist. Eine kar­mische Ver­stri­ckung, die Folgen hat. Viele Pati­enten leiden nach dem Ein­griff an Hal­lu­zi­na­tionen oder an der Angst, das eigene Selbst ver­loren zu haben. Sie müssen Trau­er­arbeit leisten über den Tod des Men­schen, dem sie ihr Leben ver­danken. Und sie müssen Trau­er­arbeit leisten darüber, dass sie mit ihrem eigenen Herzen ein Stück ihrer Per­sön­lichkeit ver­loren haben.