Vene­zuela – wie es dazu kommen konnte

Dr. Rainer Zitelmann
In vielen Medi­en­be­richten wird der Ein­druck erweckt, der Zusam­men­bruch in Vene­zuela sei ein Ergebnis des Ölpreis­ver­falls sowie des US-Boy­kotts. Rainer Zitelmann sieht die eigent­liche Ursache in dem von linken Poli­tikern und Intel­lek­tu­ellen glo­ri­fi­zierten sozia­lis­ti­schen System.
War Vene­zuela zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts eines der ärmsten Länder in Latein­amerika, so hatte es bis Ende der 60er-Jahre eine erstaun­liche Ent­wicklung genommen. 1970 war es das reichste Land Latein­ame­rikas und eines der 20 reichsten Länder der Welt. Das Brut­to­in­lands­produkt pro Kopf war sogar höher als das von Spanien, Grie­chenland oder Israel und nur 13 Prozent nied­riger als das von Großbritannien.
Der Abschwung des süd­ame­ri­ka­ni­schen Landes begann in den 70er-Jahren. Über die Ursachen findet eine intensive Dis­kussion unter Wis­sen­schaftlern statt. Einer der Gründe für die Pro­bleme ist die starke Abhän­gigkeit vom Erdöl. Es kamen weitere Ursachen hinzu, ins­be­sondere ein unge­wöhnlich hoher Grad an staat­licher Regu­lierung des Arbeits­marktes, die seit 1974 durch immer neue Vor­schriften erhöht wurde. In kaum einem anderen Land Latein­ame­rikas (und weltweit) war der Arbeits­markt mit einem so eng­ma­schigen Netz von Regu­lie­rungen über­zogen. Während die Unter­nehmen 1972 noch das Äqui­valent von 5,35 Monats­löhnen für die Lohn­ne­ben­kosten zahlen mussten, hatte sich diese Rate bis 1992 auf 8,98 Monats­löhne massiv erhöht.
Diese Fak­toren kamen zu den Pro­blemen hinzu, mit denen viele Länder kämpfen müssen, die stark von Roh­stoff­ex­porten abhängen – wir haben dies bereits im zweiten Kapitel am Bei­spiel einiger afri­ka­ni­scher Länder gezeigt. Viele Men­schen in Vene­zuela hofften, der cha­ris­ma­tische Sozialist Hugo Chávez würde die Pro­bleme des Landes – Kor­ruption, Armut, wirt­schaft­licher Nie­dergang – lösen. Chávez hatte bereits 1992 ver­sucht, mit einem Putsch die Macht an sich zu reißen, war jedoch gescheitert. 1998 wurde er zum Prä­si­denten gewählt, und 1999 rief er die „Boli­va­rische Republik Vene­zuela“ aus. Chávez war nicht nur Hoff­nungs­träger für viele arme Men­schen in Vene­zuela, sondern er ent­fes­selte die Uto­pie­sehn­süchte der Linken in Europa und Nord­amerika mit der Parole vom „Sozia­lismus des 21. Jahrhunderts“.

Chavéz: Held der Linksintellektuellen

Nachdem Ende der 80er-Jahre der Sozia­lismus in der Sowjet­union und den Ost­block­staaten zusam­men­ge­brochen war und sich die Chi­nesen auf den Weg vom Sozia­lismus zum Kapi­ta­lismus begeben hatten, fehlte der Linken das Utopia, von dem sie träumen konnten. Nord­korea und Kuba als einzig ver­bliebene kom­mu­nis­tische Staaten eig­neten sich dafür nicht so gut. Hugo Chávez füllte diese Lücke. Der euro­pa­po­li­tische Sprecher der Links­partei im Deut­schen Bun­destag schwärmte: „Was Chávez macht, ist auch der Weg, in Deutschland die öko­no­mi­schen Pro­bleme zu lösen“ und die Vor­sit­zende der Linken, Sarah Wagen­knecht, pries ihn als „großen Prä­si­denten“, der mit seinem ganzen Leben für den „Kampf um Gerech­tigkeit und Würde“ stand. Chávez habe bewiesen, dass „ein anderes Wirt­schafts­modell möglich sei“.
Auch in den USA hatte Chávez unter den Links­in­tel­lek­tu­ellen viele Bewun­derer. Einer ihrer pro­mi­nen­testen Köpfe, der 2016 ver­storbene Tom Hayden, erklärte: „Ich sage voraus, dass der Name von Hugo Chávez von Mil­lionen verehrt werden wird, je mehr Zeit vergeht.” Ein anderer ton­an­ge­bener Links­in­tel­lek­tu­eller, der Princeton-Pro­fessor Cornell West, bekannte: „Ich liebe es, dass Hugo Chávez die Armut zur obersten Prio­rität gemacht hat. Ich wünschte mir, Amerika würde die Armut zur Prio­rität machen.“ Und die bekannte ame­ri­ka­nische Jour­na­listin Barbara Walters schwärmte: „Er kümmert sich so sehr um die Armut, er ist ein Sozialist. Was er getan hat für ganz Latein­amerika, was sie über Jahre ver­sucht haben, ist die Armut zu besei­tigen. Er ist nicht der Ver­rückte, wie man uns erzählt hat […] Er ist ein sehr intel­li­genter Mann.“
Das sozia­lis­tische Expe­riment von Chávez begann viel­ver­spre­chend. Möglich war dies, weil Vene­zuela die größten Erd­öl­vor­kommen der Welt hat und in der Regie­rungszeit von Chávez die Ölpreise geradezu explo­dierten. Damit spru­delte so viel Geld in die Staats­kasse, dass sie bestens gefüllt war für das große sozia­lis­tische Expe­riment. Enden sollte der Groß­versuch mit dem „Sozia­lismus im 21. Jahr­hundert“ jedoch in einem wirt­schaft­lichen Desaster, in Hyper­in­flation, Hunger und Diktatur.
Es begann alles zunächst harmlos. So wie die Kom­mu­nisten 1945 in Deutschland ver­sprochen hatten, sie wollten Pri­vat­ei­gentum und unter­neh­me­rische Initiative respek­tieren und Deutschland kei­neswegs das Sowjet­system auf­zwingen, so erklärte auch Chávez anfangs, er wolle das Pri­vat­ei­gentum respek­tieren und niemals „irgend­etwas von irgend­je­mandem ent­eignen“. Vor der Wahl stellte er sich über­ra­schen­der­weise als Freund aus­län­di­scher Inves­toren sowie ganz generell west­licher Werte dar. Damals war der bri­tische Sozi­al­de­mokrat Tony Blair inter­na­tional populär. Chávez erklärte sich selbst zum „Tony Blair der Karibik“. Zugleich kri­ti­sierte er den „neo-libe­ralen Kapi­ta­lismus“ und pries Kubas System als „Meer des Glücks“.
Die Erd­öl­in­dustrie, Vene­zuelas mit großem Abstand wich­tigste Ein­nah­me­quelle, war bereits 1976 ver­staat­licht worden. Damals wurde die Gesell­schaft PDVSA gegründet, die heute über 140.000 Mit­ar­beiter hat. Es handelt sich um ein Staats­un­ter­nehmen, das jedoch in den 90er-Jahren eng mit pri­vaten aus­län­di­schen Firmen koope­rierte. Dies hatte sich als erfolg­reiches Modell erwiesen und dazu geführt, dass die Ölpro­duktion auf über drei Mil­lionen Barrel gesteigert werden konnte. Das Staats­un­ter­nehmen PDVSA wurde ähnlich wie eine auf Gewinn­erzielung gerichtete private Firma geführt und galt als eine der am besten gema­nagten Ölfirmen der Welt.

„PDVSA ist rot, rot von oben bis unten.“

Genau dies war dem Sozia­listen Chávez ein Dorn im Auge. 2002 berief er poli­tische Gesin­nungs­freunde und Generäle in den Vor­stand der PDVSA, viele davon ohne jede Erfahrung in der Wirt­schaft. Mit­ar­beiter des Unter­nehmens traten wegen der Ein­mi­schung von Chávez in einen zwei­mo­na­tigen Streik, der Vene­zuelas Ölin­dustrie lahm­legte. Der Arbei­ter­führer Chávez reagierte, indem er 18.000 Strei­kende zu „Staats­feinden“ erklärte und entließ.
Der Kon­flikt zwi­schen Arbeitern des Unter­nehmens und der sozia­lis­ti­schen Staats­führung ging jedoch weiter und 2006 stellte der Ener­gie­mi­nister Rafael Ramirez die Mit­ar­beiter der PDVSA vor die Wahl, sie sollten den Prä­si­denten Chávez unter­stützen oder sie würden ihre Jobs ver­lieren: „PDVSA ist rot, rot von oben bis unten.“ Chávez selbst meinte: „PDVSA-Arbeiter sind für diese Revo­lution, und die, die es nicht sind, sollten woanders hin­gehen. Geht nach Miami.“ Die Gewinne des Unter­nehmens wurden nicht mehr für Rück­lagen oder Inves­ti­tionen ver­wendet, sondern zur Finan­zierung von staat­lichen Sozi­al­pro­grammen, zur Sub­ven­tio­nierung ver­lust­brin­gender Unter­nehmen und zum Bau von Häusern für die Armen im Wert von meh­reren Mil­li­arden Dollar jedes Jahr.
Sogar weltweit musste sich das Unter­nehmen nunmehr als sozialer Wohl­täter enga­gieren. So ordnete Chávez im November 2005 an, dass die PDVSA über ein Toch­ter­un­ter­nehmen Bedürf­tigen in der ame­ri­ka­ni­schen Metropole Boston während der Win­ter­monate um 40 Prozent ver­bil­ligtes Heizöl zukommen ließ. Weitere Ver­träge wurden mit Staaten und Städten im Nord­osten der USA geschlossen. Das Pro­gramm hatte einen Umfang von 1,2 Mil­lionen Barrel. Auch in den dar­auf­fol­genden Wintern 2006/2007 und 2007/2008 unter­stützte die PDVSA Bedürftige in den USA mit um 40 Prozent ver­bil­ligtem Heizöl. Das Pro­gramm hatte im Winter 2007/2008 einen Umfang von 425,6 Mil­lionen Litern. Darüber hinaus wurden das sozia­lis­tische Kuba und andere befreundete Staaten mit ver­bil­ligtem Öl beliefert.
Im Jahr 2007 mussten aus­län­dische Ölge­sell­schaften Teile ihrer Betei­li­gungen an Ölfeldern in Vene­zuela an den vene­zo­la­ni­schen Staat ver­kaufen, so dass die PDVSA auf einen Mehr­heits­anteil von min­destens 60 Prozent kam. Das Unter­nehmen Exxon­Mobil wei­gerte sich, seine Anteile abzu­geben, und klagte dagegen vor Gerichten in den USA, Groß­bri­tannien und den Nie­der­landen. Nach dem Ein­frieren von Ver­mö­gens­werten der PDVSA in Höhe von zwölf Mil­li­arden Dollar durch ein bri­ti­sches Gericht stoppte der Staats­konzern im Februar 2008 den Rohöl-Verkauf an Exxon und setzte die Geschäfts­be­zie­hungen aus. Als Chávez an die Macht kam, kas­sierte der Staat bereits 50 Prozent der Gewinne aus der Ölpro­duktion. Als er 2013 starb, war dieser Anteil auf 90 Prozent gestiegen, einer der höchsten in der Welt.
Was Chávez zugute kam, war die Explosion des Ölpreises in der Zeit seiner Regierung. Als er Ende 1998 gewählt wurde, lag der Ölpreis bei einem his­to­ri­schen Tief­stand von 10,53 Dollar und als er 2013 starb, hatte sich der Ölpreis auf 111 Dollar mehr als ver­zehn­facht. Stei­gende Roh­stoff­preise sind nicht nur eine Chance, sondern häu­figer noch eine Ver­su­chung, weil die Regierung denkt, es gehe immer so weiter und das Geld mit vollen Händen ausgibt, statt Rück­lagen für Zeiten fal­lender Ölpreise zu bilden.
Ganz besonders gefährlich war dies in einem Land, das weit­gehend vom Ölexport abhängig ist und in dem ein sozia­lis­ti­scher Prä­sident im Ölrausch das scheinbar endlose Geld mit vollen Händen für soziale Wohl­taten ausgab und gleich­zeitig die Wirt­schaft sozia­lis­tisch umge­staltete. Chávez tat auch nicht viel, um die Pro­duktion zu diver­si­fi­zieren. Die Abhän­gigkeit von Erd­öl­ex­porten und Waren­im­porten wurde nicht geringer. „Vielmehr“, so kon­sta­tierte ein Autor 2009, „hat in den letzten zehn Jahren das Gegenteil statt­ge­funden: Die land­wirt­schaft­liche und indus­trielle Pro­duktion des Landes ist weiter gesunken. Letztere weist heute die schlech­teste Per­for­mance seit vier Dekaden auf, sodass bereits von einem Prozess der Deindus­tria­li­sierung gesprochen wird […] Nach zehn Jahren boli­va­ri­scher Revo­lution sorgt darum der Erd­öl­sektor – in dem nur ein Prozent der Beschäf­tigten tätig sind – für 85 Prozent des Exports und min­destens 60 Prozent der Staats­ein­nahmen. Vene­zuelas Abhän­gigkeit vom Öl ist seit dem Amts­an­tritt von Hugo Chávez nicht gesunken, sondern gestiegen.“

Ver­staat­li­chungen im großen Stil

Nach seiner Wie­derwahl im Jahr 2006 ver­staat­lichte Chávez zunehmend Indus­trie­be­triebe, zunächst vor allem in der Eisen- und Stahl­in­dustrie. Danach traf es die Strom­ver­sorgung, die Häfen, die Zement­in­dustrie und die Nah­rungs­mit­tel­ver­sorgung. Allein zwi­schen 2007 und 2010 gingen etwa 350 Unter­nehmen in Staats­ei­gentum über. Oft wurden die ver­staat­lichten Firmen mit poli­tisch getreuen Gefolgs­leuten besetzt. Der staat­liche Sektor wurde immer stärker auf­ge­bläht, im Jahr 2008 war bereits jeder dritte Beschäf­tigte ein Staatsbediensteter.
In großem Stil wurden Arbei­ter­ge­nos­sen­schaften mit Steu­er­vor­teilen und Zuschüssen gefördert und ihre Zahl stieg von 820 im Jahr 1999 auf 280.000 zehn Jahre später. Aber die meisten dieser Firmen waren nur leere Hüllen, die dazu dienten, staat­liche Zuschüsse zu kas­sieren, an günstige Kredite zu gelangen oder Steuern zu sparen. Viele exis­tierten nur auf dem Papier.
Immer stärker griff Chávez in die Wirt­schaft ein und verbot Unter­nehmen, in schwie­rigen Situa­tionen Mit­ar­beiter zu ent­lassen, was diese in erheb­liche Tur­bu­lenzen brachte. Eine andere wichtige Kom­po­nente seines Sozi­al­pro­gramms war es, für Fleisch und andere Grund­nah­rungs­mittel sehr günstige Preise fest­zu­legen, die oftmals sogar unter den Geste­hungs­kosten lagen. Unter­nehmer, die zu solchen Preisen nicht ver­kaufen wollten, beschimpfte Chávez als Spe­ku­lanten und drohte ihnen mit Gefängnisstrafen.
Solange der Ölpreis hoch war, schien es keine Grenzen für den Segen des Sozia­lismus zu geben. Weltweit bewun­derten Anti­ka­pi­ta­listen das ver­meint­liche Genie von Hugo Chávez, der sie mit sozialen Wohl­taten unge­heuer beein­druckte. Seit 2003 wurde ein Großteil der spru­delnden Ölein­künfte für Sozi­al­pro­gramme ver­wendet: Geld wurde an die Armen ver­teilt, der Staat gewährte äußerst groß­zügige Zuschüsse für Essen, Wohnen, Wasser, Elek­tri­zität oder Tele­fon­kosten. Das Tanken an der Tank­stelle war prak­tisch umsonst – meist war das Trinkgeld für den Tankwart höher als die Kosten der Tank­füllung. Dollars, von denen es ja durch die Ölein­nahmen genug gab, wurden zu Vor­zugs­wech­sel­kursen eingetauscht.
Staat­liche Unter­nehmen, die schlecht wirt­schaf­teten, erhielten groß­zügige Sub­ven­tionen, so dass sie es sich leisten konnten, Arbeits­kräfte weiter zu beschäf­tigen, auch wenn sie diese gar nicht mehr benö­tigten. Schon 2001 hatte Chávez auf­gehört, Geld aus Ölein­künften in den Not­fonds ein­zu­zahlen, der als Reserve für die Zeiten sin­kender Ölpreise gedacht war. Zudem redu­zierte er Inves­ti­tionen in die Ölin­dustrie, obwohl das Land gerade von ihr so stark abhängt. Das Geld wurde für die immer stärker aus­ufernden Sozi­al­pro­gramme benötigt.
Viele linke Bewun­derer von Chávez auf der ganzen Welt sahen ein soziales Wunder, denn nach offi­zi­ellen Angaben hal­bierte sich die Zahl der extrem armen Men­schen in Vene­zuela durch diese Pro­gramme. Aller­dings kann man den offi­zi­ellen Angaben des Regimes nicht unbe­dingt trauen. So behauptete Chávez bei­spiels­weise immer wieder, er habe die Zahl der Analpha­beten um min­destens 1,5 Mil­lionen redu­ziert – eine Zahl, die um etwa das Zehn­fache über­trieben war. Auch die Sta­tis­tiken über Morde wurden ver­fälscht, um die im inter­na­tio­nalen Ver­gleich extrem hohe Zahl von 15.000 Morden pro Jahr (in den Jahren 2000 bis 2005) zu verschleiern.
Selbst manche linken Wis­sen­schaftler kri­ti­sierten, die sozialen Maß­nahmen von Chávez hätten wenig an der Armut geändert. Seine Sozi­al­po­litik habe einen „stark kli­en­te­lis­ti­schen und wenig nach­hal­tigen Bei­geschmack“, hieß es kri­tisch. Und: „Ein kon­sum­ori­en­tierter Lebensstil über­formt in Kon­junk­tur­zeiten die sozialen Gegen­sätze und mildert über sozial- und wirt­schafts­po­li­tische Ver­tei­lungs­me­cha­nismen die schlimmsten sozialen Aus­wüchse einer abhän­gigen Öko­nomie […] An der Lebenslage von Men­schen in Armut ändert sich dadurch […] jedoch struk­turell relativ wenig.“ Ergebnis der Reformen von Chávez war also nicht die Besei­tigung von Armut, sondern die Her­aus­bildung einer „quasi ‚staats­so­zia­lis­ti­schen’ Büro­kra­ten­kaste […], die über Spit­zen­löhne und kor­rupte Prak­tiken einen rasanten sozialen Auf­stieg vollzieht.“

Nicolás Maduro setzt die Politik von Chávez fort

Nach dem Tod von Chávez 2013 übernahm dessen Stell­ver­treter Nicolás Maduro die Macht. Er beschleu­nigte die Ent­eig­nungen von Betrieben: Mol­ke­reien, Kaf­fee­pro­du­zenten, Super­märkte, Dün­ge­mit­tel­her­steller und Schuh­fa­briken wurden ver­staat­licht. In der Folge ging die Pro­duktion in die Knie oder wurde ganz ein­ge­stellt. Dann stürzten die Ölpreise. Lagen die Notie­rungen für Rohöl Ende 2013 noch bei 111 Dollar je Barrel (rund 159 Liter), so waren sie ein Jahr später um fast die Hälfte auf 57,60 Dollar gefallen. Und wieder ein Jahr später, Ende 2015, lagen sie mehr als ein Drittel nied­riger bei nur noch 37,60 Dollar. 2016 schwankte der Ölpreis zwi­schen 27,10 und 57,30 Dollar.
Das hätte jedes Land vor Pro­bleme gestellt, aber ganz besonders war es ein Problem für ein Land mit einer extrem inef­fi­zi­enten, sozia­lis­ti­schen Wirt­schaft und strikten Preis­kon­trollen. Jetzt wurden die fatalen Aus­wir­kungen der sozia­lis­ti­schen Politik von Chávez vollends offen­sichtlich. Das gesamte System geriet aus den Fugen. Wie auch in anderen Ländern zeigte es sich, dass mit Preis­kon­trollen der Inflation nicht bei­zu­kommen war, sondern sie nur noch ver­schlim­merten. Die Inflation erreichte 225 Prozent im Jahr 2016 und war damit die zweit­höchste (nach dem Süd­sudan) auf der ganzen Welt. Ver­mutlich lag sie tat­sächlich bei fast 800 Prozent, wie ein interner Bericht des Gou­ver­neurs der Natio­nalbank zeigte, der den Rückgang der Wirt­schafts­leistung im Jahr 2016 auf 19 Prozent taxierte.
Obwohl Vene­zuela die modernsten Geld­druck­ma­schinen der Welt (unter anderem die Super Simultan IV aus Deutschland) besaß, waren die Kapa­zi­täten nicht mehr aus­rei­chend, um die immer grö­ßeren Mengen an benö­tigten Geld­scheinen zu drucken. Vene­zuela war gezwungen, bri­tische und deutsche Unter­nehmen und die Zen­tral­banken befreun­deter Länder zu beauf­tragen, die Bank­noten her­zu­stellen. Alle zwei Wochen landete eine Boeing 747 in Vene­zuela, die zwi­schen 150 und 200 Tonnen Geld­scheine ins Land brachte.
Der Preis für einen Lebens­mit­tel­ba­siskorb war im Januar 2017 gegenüber dem Vorjahr um 481 Prozent gestiegen. Um ihn zu kaufen, musste man über 15 Gehälter des Min­dest­lohns ver­dienen. Um zu ver­stehen, was das heißt, muss man berück­sich­tigen, dass ein Lehrer das Dop­pelte des Min­dest­lohns ver­diente. Taxi­fahrer nahmen bald deutlich mehr ein als Ärzte oder Archi­tekten. Bereits 2014 wurde geschätzt, dass 1,2 Mil­lionen der am besten aus­ge­bil­deten Fach­kräfte in die Ver­ei­nigten Staaten oder Europa aus­ge­wandert waren.
Weil viele Preise staatlich fest­ge­setzt waren, die für die Pro­duktion der Waren not­wen­digen Roh­stoffe und Güter jedoch in Dollar gezahlt werden mussten, hatte der Verfall der Währung dra­ma­tische Aus­wir­kungen und führte dazu, dass das Waren­an­gebot immer knapper wurde. Da viele Pro­dukte zu extrem nied­rigen Preisen ver­kauft wurden, hor­teten die Men­schen Waren aller Art und standen oft Stunden vor den Geschäften an, um irgend­etwas kaufen zu können, das sie dann später viel teurer auf dem Schwarz­markt verkauften.
Ein Bei­spiel war Toi­let­ten­papier, das es nur noch sehr selten in den Geschäften gab. Grund: Die Unter­nehmen, die es pro­du­zierten, waren gezwungen, es zu einem nied­rigen staatlich fest­ge­setzten Preis zu ver­kaufen, während die Pro­duk­ti­ons­kosten mit der Inflation stiegen. Und wenn die Pro­duktion still­stand, weil Roh­ma­te­rialien fehlten, mussten die Arbeiter dennoch weiter bezahlt werden, weil es ver­boten war, ohne aus­drück­liche staat­liche Geneh­migung die Beleg­schaft zu redu­zieren. Der Chef des Natio­nalen Sta­tis­ti­schen Insti­tutes von Vene­zuela hatte aller­dings eine andere Erklärung für die Knappheit an Toi­let­ten­papier: In einem Fern­seh­in­terview meinte er, dies sei sogar ein gutes Zeichen, denn der Grund sei, dass Vene­zo­laner wegen der Sozi­al­po­litik der revo­lu­tio­nären Regierung nun mehr essen würden und daher fol­ge­richtig auch mehr Toi­let­ten­papier verbrauchten.
Gab es doch einmal Toi­let­ten­papier zu staatlich niedrig gehal­tenen Preisen, dann war es blitz­schnell aus­ver­kauft. Viele Men­schen gaben ihren Beruf auf, weil die Löhne nicht mit den rapide stei­genden Preisen mit­hielten und sie als Händler auf dem Schwarz­markt viel mehr ver­dienten, indem sie bei­spiels­weise bil­liges, zu den staatlich fest­ge­setzten Nied­rig­preisen erwor­benes Toi­let­ten­papier teuer auf dem Schwarz­markt wei­ter­ver­kauften. Hygie­ne­ar­tikel wie Tampons und Binden gab es nur noch selten. Statt­dessen gab es Anlei­tungen im Fern­sehen, wie man diese selbst zu Hause her­stellen konnte. Die Frau, die die Her­stellung der Binden erklärte, konnte dem einen anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Aspekt abge­winnen: „Wir ent­gehen dem Wirt­schafts­kreislauf des bar­ba­ri­schen Kapi­ta­lismus. Wir leben bewusster und in Har­monie mit der Umwelt.“
Im Juli 2016 sahen sich 500 Frauen aus Vene­zuela zu einem außer­ge­wöhn­lichen Schritt gezwungen und über­querten einen geschlos­senen Grenzgang nach Kolumbien, um im Nach­barland Lebens­mittel zu besorgen. „Wir ver­hungern, wir sind ver­zweifelt“, sagte eine der Frauen dem kolum­bia­ni­schen Sender Caracol Radio. In ihrem Land gebe es nichts mehr zu essen.
In einem Altenheim berichtete die Pfle­gerin von ihrem trau­rigen Alltag. Nur noch neun von früher 24 Senioren lebten hier. Die anderen seien ver­storben oder mussten weg­ge­schickt werden, weil es nicht genug zu essen gab und Medi­ka­mente fehlten, etwa gegen Dia­betes oder Blut­hoch­druck. Eigentlich dürften Jour­na­listen staat­liche Kran­ken­häuser nicht besich­tigen. Eine Ärztin zeigte Reportern dennoch heimlich die kata­stro­phalen Zustände. Das einzige Rönt­gen­gerät war seit Langem kaputt. Im Labor konnten weder Urin- noch Blut­proben unter­sucht werden, auf den Toi­letten gab es kein Lei­tungs­wasser, die Aufzüge funk­tio­nierten nicht. Men­schen, die ins Kran­kenhaus mussten, waren gezwungen, ihre eigene Medizin mit­zu­bringen, weil keine Medi­ka­mente vor­rätig waren – weder Schmerz­mittel noch Anti­biotika und erst Recht keine Medi­ka­mente zur Krebsbehandlung.
Die Kin­der­sterb­lichkeit stieg in Vene­zuela in nur einem Jahr, von 2015 auf 2016, um 33 Prozent, die Müt­ter­sterb­lichkeit sogar um 66 Prozent. Nachdem die Gesund­heits­mi­nis­terin diese Zahlen ver­öf­fent­lichte, wurde sie von Maduro ent­lassen, der generell die Ver­öf­fent­li­chung von Sozial- und Wirt­schafts­in­di­ka­toren verbot, um „poli­tische Inter­pre­ta­tionen“ zu ver­meiden. Die Säug­lings­sterb­lichkeit in Vene­zuela, die unter Chávez in 13 Jahren zunächst von 20,3 auf 12,9 Prozent gesunken war, lag 2016 sogar über der in dem vom Krieg geschun­denen Syrien.
Vier von fünf vene­zo­la­ni­schen Haus­halten lebten laut einer Umfrage der Zen­tral­uni­ver­sität von Vene­zuela in Armut. 73 Prozent der Bevöl­kerung ver­loren auf­grund des Hungers im Jahr 2016 Gewicht, und zwar im Durch­schnitt 8,7 Kilo­gramm. In einer Anhörung des US-Kon­gresses im März 2017 berichtete Pro­fessor Hector E. Schamis von der Georgetown Uni­versity, der Anteil der Armen sei in Vene­zuela auf 82 Prozent gestiegen und jener der extrem Armen auf 52 Prozent. Das waren his­to­rische Höchststände.
Die Bevöl­kerung begehrte immer wieder auf, bei Wahlen bekam die Oppo­sition die Mehrheit im Par­lament. Aber Manduro ent­machtete das Par­lament, schaffte die Pres­se­freiheit ab und auch gleich dazu die Reste, die von der einst­ma­ligen Demo­kratie übrig­blieben. Über 120 Men­schen ver­loren bis zum Oktober 2017 ihr Leben bei Demons­tra­tionen und Pro­testen gegen das Regime. Wieder einmal war ein sozia­lis­ti­sches Expe­riment gescheitert.


Auszug aus dem Buch:  Kapi­ta­lismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung