Dr. Rainer Zitelmann
In vielen MediÂenÂbeÂrichten wird der EinÂdruck erweckt, der ZusamÂmenÂbruch in VeneÂzuela sei ein Ergebnis des Ă–lpreisÂverÂfalls sowie des US-BoyÂkotts. Rainer Zitelmann sieht die eigentÂliche Ursache in dem von linken PoliÂtikern und IntelÂlekÂtuÂellen gloÂriÂfiÂzierten soziaÂlisÂtiÂschen System.
War VeneÂzuela zu Beginn des 20. JahrÂhunÂderts eines der ärmsten Länder in LateinÂamerika, so hatte es bis Ende der 60er-Jahre eine erstaunÂliche EntÂwicklung genommen. 1970 war es das reichste Land LateinÂameÂrikas und eines der 20 reichsten Länder der Welt. Das BrutÂtoÂinÂlandsÂprodukt pro Kopf war sogar höher als das von Spanien, GrieÂchenland oder Israel und nur 13 Prozent niedÂriger als das von GroĂźbritannien.
Der Abschwung des sĂĽdÂameÂriÂkaÂniÂschen Landes begann in den 70er-Jahren. Ăśber die Ursachen findet eine intensive DisÂkussion unter WisÂsenÂschaftlern statt. Einer der GrĂĽnde fĂĽr die ProÂbleme ist die starke AbhänÂgigkeit vom Erdöl. Es kamen weitere Ursachen hinzu, insÂbeÂsondere ein ungeÂwöhnlich hoher Grad an staatÂlicher ReguÂlierung des ArbeitsÂmarktes, die seit 1974 durch immer neue VorÂschriften erhöht wurde. In kaum einem anderen Land LateinÂameÂrikas (und weltweit) war der ArbeitsÂmarkt mit einem so engÂmaÂschigen Netz von ReguÂlieÂrungen ĂĽberÂzogen. Während die UnterÂnehmen 1972 noch das Ă„quiÂvalent von 5,35 MonatsÂlöhnen fĂĽr die LohnÂneÂbenÂkosten zahlen mussten, hatte sich diese Rate bis 1992 auf 8,98 MonatsÂlöhne massiv erhöht.
Diese FakÂtoren kamen zu den ProÂblemen hinzu, mit denen viele Länder kämpfen mĂĽssen, die stark von RohÂstoffÂexÂporten abhängen – wir haben dies bereits im zweiten Kapitel am BeiÂspiel einiger afriÂkaÂniÂscher Länder gezeigt. Viele MenÂschen in VeneÂzuela hofften, der chaÂrisÂmaÂtische Sozialist Hugo Chávez wĂĽrde die ProÂbleme des Landes – KorÂruption, Armut, wirtÂschaftÂlicher NieÂdergang – lösen. Chávez hatte bereits 1992 verÂsucht, mit einem Putsch die Macht an sich zu reiĂźen, war jedoch gescheitert. 1998 wurde er zum PräÂsiÂdenten gewählt, und 1999 rief er die „BoliÂvaÂrische Republik VeneÂzuela“ aus. Chávez war nicht nur HoffÂnungsÂträger fĂĽr viele arme MenÂschen in VeneÂzuela, sondern er entÂfesÂselte die UtoÂpieÂsehnÂsĂĽchte der Linken in Europa und NordÂamerika mit der Parole vom „SoziaÂlismus des 21. Jahrhunderts“.
Chavéz: Held der Linksintellektuellen
Nachdem Ende der 80er-Jahre der SoziaÂlismus in der SowjetÂunion und den OstÂblockÂstaaten zusamÂmenÂgeÂbrochen war und sich die ChiÂnesen auf den Weg vom SoziaÂlismus zum KapiÂtaÂlismus begeben hatten, fehlte der Linken das Utopia, von dem sie träumen konnten. NordÂkorea und Kuba als einzig verÂbliebene komÂmuÂnisÂtische Staaten eigÂneten sich dafĂĽr nicht so gut. Hugo Chávez fĂĽllte diese LĂĽcke. Der euroÂpaÂpoÂliÂtische Sprecher der LinksÂpartei im DeutÂschen BunÂdestag schwärmte: „Was Chávez macht, ist auch der Weg, in Deutschland die ökoÂnoÂmiÂschen ProÂbleme zu lösen“ und die VorÂsitÂzende der Linken, Sarah WagenÂknecht, pries ihn als „groĂźen PräÂsiÂdenten“, der mit seinem ganzen Leben fĂĽr den „Kampf um GerechÂtigkeit und WĂĽrde“ stand. Chávez habe bewiesen, dass „ein anderes WirtÂschaftsÂmodell möglich sei“.
Auch in den USA hatte Chávez unter den LinksÂinÂtelÂlekÂtuÂellen viele BewunÂderer. Einer ihrer proÂmiÂnenÂtesten Köpfe, der 2016 verÂstorbene Tom Hayden, erklärte: „Ich sage voraus, dass der Name von Hugo Chávez von MilÂlionen verehrt werden wird, je mehr Zeit vergeht.” Ein anderer tonÂanÂgeÂbener LinksÂinÂtelÂlekÂtuÂeller, der Princeton-ProÂfessor Cornell West, bekannte: „Ich liebe es, dass Hugo Chávez die Armut zur obersten PrioÂrität gemacht hat. Ich wĂĽnschte mir, Amerika wĂĽrde die Armut zur PrioÂrität machen.“ Und die bekannte ameÂriÂkaÂnische JourÂnaÂlistin Barbara Walters schwärmte: „Er kĂĽmmert sich so sehr um die Armut, er ist ein Sozialist. Was er getan hat fĂĽr ganz LateinÂamerika, was sie ĂĽber Jahre verÂsucht haben, ist die Armut zu beseiÂtigen. Er ist nicht der VerÂrĂĽckte, wie man uns erzählt hat […] Er ist ein sehr intelÂliÂgenter Mann.“
Das soziaÂlisÂtische ExpeÂriment von Chávez begann vielÂverÂspreÂchend. Möglich war dies, weil VeneÂzuela die größten ErdÂölÂvorÂkommen der Welt hat und in der RegieÂrungszeit von Chávez die Ă–lpreise geradezu exploÂdierten. Damit spruÂdelte so viel Geld in die StaatsÂkasse, dass sie bestens gefĂĽllt war fĂĽr das groĂźe soziaÂlisÂtische ExpeÂriment. Enden sollte der GroĂźÂversuch mit dem „SoziaÂlismus im 21. JahrÂhundert“ jedoch in einem wirtÂschaftÂlichen Desaster, in HyperÂinÂflation, Hunger und Diktatur.
Es begann alles zunächst harmlos. So wie die KomÂmuÂnisten 1945 in Deutschland verÂsprochen hatten, sie wollten PriÂvatÂeiÂgentum und unterÂnehÂmeÂrische Initiative respekÂtieren und Deutschland keiÂneswegs das SowjetÂsystem aufÂzwingen, so erklärte auch Chávez anfangs, er wolle das PriÂvatÂeiÂgentum respekÂtieren und niemals „irgendÂetwas von irgendÂjeÂmandem entÂeignen“. Vor der Wahl stellte er sich ĂĽberÂraÂschenÂderÂweise als Freund ausÂlänÂdiÂscher InvesÂtoren sowie ganz generell westÂlicher Werte dar. Damals war der briÂtische SoziÂalÂdeÂmokrat Tony Blair interÂnaÂtional populär. Chávez erklärte sich selbst zum „Tony Blair der Karibik“. Zugleich kriÂtiÂsierte er den „neo-libeÂralen KapiÂtaÂlismus“ und pries Kubas System als „Meer des GlĂĽcks“.
Die ErdÂölÂinÂdustrie, VeneÂzuelas mit groĂźem Abstand wichÂtigste EinÂnahÂmeÂquelle, war bereits 1976 verÂstaatÂlicht worden. Damals wurde die GesellÂschaft PDVSA gegrĂĽndet, die heute ĂĽber 140.000 MitÂarÂbeiter hat. Es handelt sich um ein StaatsÂunÂterÂnehmen, das jedoch in den 90er-Jahren eng mit priÂvaten ausÂlänÂdiÂschen Firmen koopeÂrierte. Dies hatte sich als erfolgÂreiches Modell erwiesen und dazu gefĂĽhrt, dass die Ă–lproÂduktion auf ĂĽber drei MilÂlionen Barrel gesteigert werden konnte. Das StaatsÂunÂterÂnehmen PDVSA wurde ähnlich wie eine auf GewinnÂerzielung gerichtete private Firma gefĂĽhrt und galt als eine der am besten gemaÂnagten Ă–lfirmen der Welt.
„PDVSA ist rot, rot von oben bis unten.“
Genau dies war dem SoziaÂlisten Chávez ein Dorn im Auge. 2002 berief er poliÂtische GesinÂnungsÂfreunde und Generäle in den VorÂstand der PDVSA, viele davon ohne jede Erfahrung in der WirtÂschaft. MitÂarÂbeiter des UnterÂnehmens traten wegen der EinÂmiÂschung von Chávez in einen zweiÂmoÂnaÂtigen Streik, der VeneÂzuelas Ă–linÂdustrie lahmÂlegte. Der ArbeiÂterÂfĂĽhrer Chávez reagierte, indem er 18.000 StreiÂkende zu „StaatsÂfeinden“ erklärte und entlieĂź.
Der KonÂflikt zwiÂschen Arbeitern des UnterÂnehmens und der soziaÂlisÂtiÂschen StaatsÂfĂĽhrung ging jedoch weiter und 2006 stellte der EnerÂgieÂmiÂnister Rafael Ramirez die MitÂarÂbeiter der PDVSA vor die Wahl, sie sollten den PräÂsiÂdenten Chávez unterÂstĂĽtzen oder sie wĂĽrden ihre Jobs verÂlieren: „PDVSA ist rot, rot von oben bis unten.“ Chávez selbst meinte: „PDVSA-Arbeiter sind fĂĽr diese RevoÂlution, und die, die es nicht sind, sollten woanders hinÂgehen. Geht nach Miami.“ Die Gewinne des UnterÂnehmens wurden nicht mehr fĂĽr RĂĽckÂlagen oder InvesÂtiÂtionen verÂwendet, sondern zur FinanÂzierung von staatÂlichen SoziÂalÂproÂgrammen, zur SubÂvenÂtioÂnierung verÂlustÂbrinÂgender UnterÂnehmen und zum Bau von Häusern fĂĽr die Armen im Wert von mehÂreren MilÂliÂarden Dollar jedes Jahr.
Sogar weltweit musste sich das UnterÂnehmen nunmehr als sozialer WohlÂtäter engaÂgieren. So ordnete Chávez im November 2005 an, dass die PDVSA ĂĽber ein TochÂterÂunÂterÂnehmen BedĂĽrfÂtigen in der ameÂriÂkaÂniÂschen Metropole Boston während der WinÂterÂmonate um 40 Prozent verÂbilÂligtes Heizöl zukommen lieĂź. Weitere VerÂträge wurden mit Staaten und Städten im NordÂosten der USA geschlossen. Das ProÂgramm hatte einen Umfang von 1,2 MilÂlionen Barrel. Auch in den darÂaufÂfolÂgenden Wintern 2006/2007 und 2007/2008 unterÂstĂĽtzte die PDVSA BedĂĽrftige in den USA mit um 40 Prozent verÂbilÂligtem Heizöl. Das ProÂgramm hatte im Winter 2007/2008 einen Umfang von 425,6 MilÂlionen Litern. DarĂĽber hinaus wurden das soziaÂlisÂtische Kuba und andere befreundete Staaten mit verÂbilÂligtem Ă–l beliefert.
Im Jahr 2007 mussten ausÂlänÂdische Ă–lgeÂsellÂschaften Teile ihrer BeteiÂliÂgungen an Ă–lfeldern in VeneÂzuela an den veneÂzoÂlaÂniÂschen Staat verÂkaufen, so dass die PDVSA auf einen MehrÂheitsÂanteil von minÂdestens 60 Prozent kam. Das UnterÂnehmen ExxonÂMobil weiÂgerte sich, seine Anteile abzuÂgeben, und klagte dagegen vor Gerichten in den USA, GroĂźÂbriÂtannien und den NieÂderÂlanden. Nach dem EinÂfrieren von VerÂmöÂgensÂwerten der PDVSA in Höhe von zwölf MilÂliÂarden Dollar durch ein briÂtiÂsches Gericht stoppte der StaatsÂkonzern im Februar 2008 den Rohöl-Verkauf an Exxon und setzte die GeschäftsÂbeÂzieÂhungen aus. Als Chávez an die Macht kam, kasÂsierte der Staat bereits 50 Prozent der Gewinne aus der Ă–lproÂduktion. Als er 2013 starb, war dieser Anteil auf 90 Prozent gestiegen, einer der höchsten in der Welt.
Was Chávez zugute kam, war die Explosion des Ă–lpreises in der Zeit seiner Regierung. Als er Ende 1998 gewählt wurde, lag der Ă–lpreis bei einem hisÂtoÂriÂschen TiefÂstand von 10,53 Dollar und als er 2013 starb, hatte sich der Ă–lpreis auf 111 Dollar mehr als verÂzehnÂfacht. SteiÂgende RohÂstoffÂpreise sind nicht nur eine Chance, sondern häuÂfiger noch eine VerÂsuÂchung, weil die Regierung denkt, es gehe immer so weiter und das Geld mit vollen Händen ausgibt, statt RĂĽckÂlagen fĂĽr Zeiten falÂlender Ă–lpreise zu bilden.
Ganz besonders gefährlich war dies in einem Land, das weitÂgehend vom Ă–lexport abhängig ist und in dem ein soziaÂlisÂtiÂscher PräÂsident im Ă–lrausch das scheinbar endlose Geld mit vollen Händen fĂĽr soziale WohlÂtaten ausgab und gleichÂzeitig die WirtÂschaft soziaÂlisÂtisch umgeÂstaltete. Chávez tat auch nicht viel, um die ProÂduktion zu diverÂsiÂfiÂzieren. Die AbhänÂgigkeit von ErdÂölÂexÂporten und WarenÂimÂporten wurde nicht geringer. „Vielmehr“, so konÂstaÂtierte ein Autor 2009, „hat in den letzten zehn Jahren das Gegenteil stattÂgeÂfunden: Die landÂwirtÂschaftÂliche und indusÂtrielle ProÂduktion des Landes ist weiter gesunken. Letztere weist heute die schlechÂteste PerÂforÂmance seit vier Dekaden auf, sodass bereits von einem Prozess der DeindusÂtriaÂliÂsierung gesprochen wird […] Nach zehn Jahren boliÂvaÂriÂscher RevoÂlution sorgt darum der ErdÂölÂsektor – in dem nur ein Prozent der BeschäfÂtigten tätig sind – fĂĽr 85 Prozent des Exports und minÂdestens 60 Prozent der StaatsÂeinÂnahmen. VeneÂzuelas AbhänÂgigkeit vom Ă–l ist seit dem AmtsÂanÂtritt von Hugo Chávez nicht gesunken, sondern gestiegen.“
VerÂstaatÂliÂchungen im groĂźen Stil
Nach seiner WieÂderwahl im Jahr 2006 verÂstaatÂlichte Chávez zunehmend IndusÂtrieÂbeÂtriebe, zunächst vor allem in der Eisen- und StahlÂinÂdustrie. Danach traf es die StromÂverÂsorgung, die Häfen, die ZementÂinÂdustrie und die NahÂrungsÂmitÂtelÂverÂsorgung. Allein zwiÂschen 2007 und 2010 gingen etwa 350 UnterÂnehmen in StaatsÂeiÂgentum ĂĽber. Oft wurden die verÂstaatÂlichten Firmen mit poliÂtisch getreuen GefolgsÂleuten besetzt. Der staatÂliche Sektor wurde immer stärker aufÂgeÂbläht, im Jahr 2008 war bereits jeder dritte BeschäfÂtigte ein Staatsbediensteter.
In groĂźem Stil wurden ArbeiÂterÂgeÂnosÂsenÂschaften mit SteuÂerÂvorÂteilen und ZuschĂĽssen gefördert und ihre Zahl stieg von 820 im Jahr 1999 auf 280.000 zehn Jahre später. Aber die meisten dieser Firmen waren nur leere HĂĽllen, die dazu dienten, staatÂliche ZuschĂĽsse zu kasÂsieren, an gĂĽnstige Kredite zu gelangen oder Steuern zu sparen. Viele exisÂtierten nur auf dem Papier.
Immer stärker griff Chávez in die WirtÂschaft ein und verbot UnterÂnehmen, in schwieÂrigen SituaÂtionen MitÂarÂbeiter zu entÂlassen, was diese in erhebÂliche TurÂbuÂlenzen brachte. Eine andere wichtige KomÂpoÂnente seines SoziÂalÂproÂgramms war es, fĂĽr Fleisch und andere GrundÂnahÂrungsÂmittel sehr gĂĽnstige Preise festÂzuÂlegen, die oftmals sogar unter den GesteÂhungsÂkosten lagen. UnterÂnehmer, die zu solchen Preisen nicht verÂkaufen wollten, beschimpfte Chávez als SpeÂkuÂlanten und drohte ihnen mit Gefängnisstrafen.
Solange der Ă–lpreis hoch war, schien es keine Grenzen fĂĽr den Segen des SoziaÂlismus zu geben. Weltweit bewunÂderten AntiÂkaÂpiÂtaÂlisten das verÂmeintÂliche Genie von Hugo Chávez, der sie mit sozialen WohlÂtaten ungeÂheuer beeinÂdruckte. Seit 2003 wurde ein GroĂźteil der spruÂdelnden Ă–leinÂkĂĽnfte fĂĽr SoziÂalÂproÂgramme verÂwendet: Geld wurde an die Armen verÂteilt, der Staat gewährte äuĂźerst groĂźÂzĂĽgige ZuschĂĽsse fĂĽr Essen, Wohnen, Wasser, ElekÂtriÂzität oder TeleÂfonÂkosten. Das Tanken an der TankÂstelle war prakÂtisch umsonst – meist war das Trinkgeld fĂĽr den Tankwart höher als die Kosten der TankÂfĂĽllung. Dollars, von denen es ja durch die Ă–leinÂnahmen genug gab, wurden zu VorÂzugsÂwechÂselÂkursen eingetauscht.
StaatÂliche UnterÂnehmen, die schlecht wirtÂschafÂteten, erhielten groĂźÂzĂĽgige SubÂvenÂtionen, so dass sie es sich leisten konnten, ArbeitsÂkräfte weiter zu beschäfÂtigen, auch wenn sie diese gar nicht mehr benöÂtigten. Schon 2001 hatte Chávez aufÂgehört, Geld aus Ă–leinÂkĂĽnften in den NotÂfonds einÂzuÂzahlen, der als Reserve fĂĽr die Zeiten sinÂkender Ă–lpreise gedacht war. Zudem reduÂzierte er InvesÂtiÂtionen in die Ă–linÂdustrie, obwohl das Land gerade von ihr so stark abhängt. Das Geld wurde fĂĽr die immer stärker ausÂufernden SoziÂalÂproÂgramme benötigt.
Viele linke BewunÂderer von Chávez auf der ganzen Welt sahen ein soziales Wunder, denn nach offiÂziÂellen Angaben halÂbierte sich die Zahl der extrem armen MenÂschen in VeneÂzuela durch diese ProÂgramme. AllerÂdings kann man den offiÂziÂellen Angaben des Regimes nicht unbeÂdingt trauen. So behauptete Chávez beiÂspielsÂweise immer wieder, er habe die Zahl der AnalphaÂbeten um minÂdestens 1,5 MilÂlionen reduÂziert – eine Zahl, die um etwa das ZehnÂfache ĂĽberÂtrieben war. Auch die StaÂtisÂtiken ĂĽber Morde wurden verÂfälscht, um die im interÂnaÂtioÂnalen VerÂgleich extrem hohe Zahl von 15.000 Morden pro Jahr (in den Jahren 2000 bis 2005) zu verschleiern.
Selbst manche linken WisÂsenÂschaftler kriÂtiÂsierten, die sozialen MaĂźÂnahmen von Chávez hätten wenig an der Armut geändert. Seine SoziÂalÂpoÂlitik habe einen „stark kliÂenÂteÂlisÂtiÂschen und wenig nachÂhalÂtigen BeiÂgeschmack“, hieĂź es kriÂtisch. Und: „Ein konÂsumÂoriÂenÂtierter Lebensstil ĂĽberÂformt in KonÂjunkÂturÂzeiten die sozialen GegenÂsätze und mildert ĂĽber sozial- und wirtÂschaftsÂpoÂliÂtische VerÂteiÂlungsÂmeÂchaÂnismen die schlimmsten sozialen AusÂwĂĽchse einer abhänÂgigen Ă–koÂnomie […] An der Lebenslage von MenÂschen in Armut ändert sich dadurch […] jedoch strukÂturell relativ wenig.“ Ergebnis der Reformen von Chávez war also nicht die BeseiÂtigung von Armut, sondern die HerÂausÂbildung einer „quasi ‚staatsÂsoÂziaÂlisÂtiÂschen’ BĂĽroÂkraÂtenÂkaste […], die ĂĽber SpitÂzenÂlöhne und korÂrupte PrakÂtiken einen rasanten sozialen AufÂstieg vollzieht.“
Nicolás Maduro setzt die Politik von Chávez fort
Nach dem Tod von Chávez 2013 ĂĽbernahm dessen StellÂverÂtreter Nicolás Maduro die Macht. Er beschleuÂnigte die EntÂeigÂnungen von Betrieben: MolÂkeÂreien, KafÂfeeÂproÂduÂzenten, SuperÂmärkte, DĂĽnÂgeÂmitÂtelÂherÂsteller und SchuhÂfaÂbriken wurden verÂstaatÂlicht. In der Folge ging die ProÂduktion in die Knie oder wurde ganz einÂgeÂstellt. Dann stĂĽrzten die Ă–lpreise. Lagen die NotieÂrungen fĂĽr Rohöl Ende 2013 noch bei 111 Dollar je Barrel (rund 159 Liter), so waren sie ein Jahr später um fast die Hälfte auf 57,60 Dollar gefallen. Und wieder ein Jahr später, Ende 2015, lagen sie mehr als ein Drittel niedÂriger bei nur noch 37,60 Dollar. 2016 schwankte der Ă–lpreis zwiÂschen 27,10 und 57,30 Dollar.
Das hätte jedes Land vor ProÂbleme gestellt, aber ganz besonders war es ein Problem fĂĽr ein Land mit einer extrem inefÂfiÂziÂenten, soziaÂlisÂtiÂschen WirtÂschaft und strikten PreisÂkonÂtrollen. Jetzt wurden die fatalen AusÂwirÂkungen der soziaÂlisÂtiÂschen Politik von Chávez vollends offenÂsichtlich. Das gesamte System geriet aus den Fugen. Wie auch in anderen Ländern zeigte es sich, dass mit PreisÂkonÂtrollen der Inflation nicht beiÂzuÂkommen war, sondern sie nur noch verÂschlimÂmerten. Die Inflation erreichte 225 Prozent im Jahr 2016 und war damit die zweitÂhöchste (nach dem SĂĽdÂsudan) auf der ganzen Welt. VerÂmutlich lag sie tatÂsächlich bei fast 800 Prozent, wie ein interner Bericht des GouÂverÂneurs der NatioÂnalbank zeigte, der den RĂĽckgang der WirtÂschaftsÂleistung im Jahr 2016 auf 19 Prozent taxierte.
Obwohl VeneÂzuela die modernsten GeldÂdruckÂmaÂschinen der Welt (unter anderem die Super Simultan IV aus Deutschland) besaĂź, waren die KapaÂziÂtäten nicht mehr ausÂreiÂchend, um die immer gröÂĂźeren Mengen an benöÂtigten GeldÂscheinen zu drucken. VeneÂzuela war gezwungen, briÂtische und deutsche UnterÂnehmen und die ZenÂtralÂbanken befreunÂdeter Länder zu beaufÂtragen, die BankÂnoten herÂzuÂstellen. Alle zwei Wochen landete eine Boeing 747 in VeneÂzuela, die zwiÂschen 150 und 200 Tonnen GeldÂscheine ins Land brachte.
Der Preis fĂĽr einen LebensÂmitÂtelÂbaÂsiskorb war im Januar 2017 gegenĂĽber dem Vorjahr um 481 Prozent gestiegen. Um ihn zu kaufen, musste man ĂĽber 15 Gehälter des MinÂdestÂlohns verÂdienen. Um zu verÂstehen, was das heiĂźt, muss man berĂĽckÂsichÂtigen, dass ein Lehrer das DopÂpelte des MinÂdestÂlohns verÂdiente. TaxiÂfahrer nahmen bald deutlich mehr ein als Ă„rzte oder ArchiÂtekten. Bereits 2014 wurde geschätzt, dass 1,2 MilÂlionen der am besten ausÂgeÂbilÂdeten FachÂkräfte in die VerÂeiÂnigten Staaten oder Europa ausÂgeÂwandert waren.
Weil viele Preise staatlich festÂgeÂsetzt waren, die fĂĽr die ProÂduktion der Waren notÂwenÂdigen RohÂstoffe und GĂĽter jedoch in Dollar gezahlt werden mussten, hatte der Verfall der Währung draÂmaÂtische AusÂwirÂkungen und fĂĽhrte dazu, dass das WarenÂanÂgebot immer knapper wurde. Da viele ProÂdukte zu extrem niedÂrigen Preisen verÂkauft wurden, horÂteten die MenÂschen Waren aller Art und standen oft Stunden vor den Geschäften an, um irgendÂetwas kaufen zu können, das sie dann später viel teurer auf dem SchwarzÂmarkt verkauften.
Ein BeiÂspiel war ToiÂletÂtenÂpapier, das es nur noch sehr selten in den Geschäften gab. Grund: Die UnterÂnehmen, die es proÂduÂzierten, waren gezwungen, es zu einem niedÂrigen staatlich festÂgeÂsetzten Preis zu verÂkaufen, während die ProÂdukÂtiÂonsÂkosten mit der Inflation stiegen. Und wenn die ProÂduktion stillÂstand, weil RohÂmaÂteÂrialien fehlten, mussten die Arbeiter dennoch weiter bezahlt werden, weil es verÂboten war, ohne ausÂdrĂĽckÂliche staatÂliche GenehÂmigung die BelegÂschaft zu reduÂzieren. Der Chef des NatioÂnalen StaÂtisÂtiÂschen InstiÂtutes von VeneÂzuela hatte allerÂdings eine andere Erklärung fĂĽr die Knappheit an ToiÂletÂtenÂpapier: In einem FernÂsehÂinÂterview meinte er, dies sei sogar ein gutes Zeichen, denn der Grund sei, dass VeneÂzoÂlaner wegen der SoziÂalÂpoÂlitik der revoÂluÂtioÂnären Regierung nun mehr essen wĂĽrden und daher folÂgeÂrichtig auch mehr ToiÂletÂtenÂpapier verbrauchten.
Gab es doch einmal ToiÂletÂtenÂpapier zu staatlich niedrig gehalÂtenen Preisen, dann war es blitzÂschnell ausÂverÂkauft. Viele MenÂschen gaben ihren Beruf auf, weil die Löhne nicht mit den rapide steiÂgenden Preisen mitÂhielten und sie als Händler auf dem SchwarzÂmarkt viel mehr verÂdienten, indem sie beiÂspielsÂweise bilÂliges, zu den staatlich festÂgeÂsetzten NiedÂrigÂpreisen erworÂbenes ToiÂletÂtenÂpapier teuer auf dem SchwarzÂmarkt weiÂterÂverÂkauften. HygieÂneÂarÂtikel wie Tampons und Binden gab es nur noch selten. StattÂdessen gab es AnleiÂtungen im FernÂsehen, wie man diese selbst zu Hause herÂstellen konnte. Die Frau, die die HerÂstellung der Binden erklärte, konnte dem einen antiÂkaÂpiÂtaÂlisÂtiÂschen Aspekt abgeÂwinnen: „Wir entÂgehen dem WirtÂschaftsÂkreislauf des barÂbaÂriÂschen KapiÂtaÂlismus. Wir leben bewusster und in HarÂmonie mit der Umwelt.“
Im Juli 2016 sahen sich 500 Frauen aus VeneÂzuela zu einem auĂźerÂgeÂwöhnÂlichen Schritt gezwungen und ĂĽberÂquerten einen geschlosÂsenen Grenzgang nach Kolumbien, um im NachÂbarland LebensÂmittel zu besorgen. „Wir verÂhungern, wir sind verÂzweifelt“, sagte eine der Frauen dem kolumÂbiaÂniÂschen Sender Caracol Radio. In ihrem Land gebe es nichts mehr zu essen.
In einem Altenheim berichtete die PfleÂgerin von ihrem trauÂrigen Alltag. Nur noch neun von frĂĽher 24 Senioren lebten hier. Die anderen seien verÂstorben oder mussten wegÂgeÂschickt werden, weil es nicht genug zu essen gab und MediÂkaÂmente fehlten, etwa gegen DiaÂbetes oder BlutÂhochÂdruck. Eigentlich dĂĽrften JourÂnaÂlisten staatÂliche KranÂkenÂhäuser nicht besichÂtigen. Eine Ă„rztin zeigte Reportern dennoch heimlich die kataÂstroÂphalen Zustände. Das einzige RöntÂgenÂgerät war seit Langem kaputt. Im Labor konnten weder Urin- noch BlutÂproben unterÂsucht werden, auf den ToiÂletten gab es kein LeiÂtungsÂwasser, die AufzĂĽge funkÂtioÂnierten nicht. MenÂschen, die ins KranÂkenhaus mussten, waren gezwungen, ihre eigene Medizin mitÂzuÂbringen, weil keine MediÂkaÂmente vorÂrätig waren – weder SchmerzÂmittel noch AntiÂbiotika und erst Recht keine MediÂkaÂmente zur Krebsbehandlung.
Die KinÂderÂsterbÂlichkeit stieg in VeneÂzuela in nur einem Jahr, von 2015 auf 2016, um 33 Prozent, die MĂĽtÂterÂsterbÂlichkeit sogar um 66 Prozent. Nachdem die GesundÂheitsÂmiÂnisÂterin diese Zahlen verÂöfÂfentÂlichte, wurde sie von Maduro entÂlassen, der generell die VerÂöfÂfentÂliÂchung von Sozial- und WirtÂschaftsÂinÂdiÂkaÂtoren verbot, um „poliÂtische InterÂpreÂtaÂtionen“ zu verÂmeiden. Die SäugÂlingsÂsterbÂlichkeit in VeneÂzuela, die unter Chávez in 13 Jahren zunächst von 20,3 auf 12,9 Prozent gesunken war, lag 2016 sogar ĂĽber der in dem vom Krieg geschunÂdenen Syrien.
Vier von fĂĽnf veneÂzoÂlaÂniÂschen HausÂhalten lebten laut einer Umfrage der ZenÂtralÂuniÂverÂsität von VeneÂzuela in Armut. 73 Prozent der BevölÂkerung verÂloren aufÂgrund des Hungers im Jahr 2016 Gewicht, und zwar im DurchÂschnitt 8,7 KiloÂgramm. In einer Anhörung des US-KonÂgresses im März 2017 berichtete ProÂfessor Hector E. Schamis von der Georgetown UniÂversity, der Anteil der Armen sei in VeneÂzuela auf 82 Prozent gestiegen und jener der extrem Armen auf 52 Prozent. Das waren hisÂtoÂrische Höchststände.
Die BevölÂkerung begehrte immer wieder auf, bei Wahlen bekam die OppoÂsition die Mehrheit im ParÂlament. Aber Manduro entÂmachtete das ParÂlament, schaffte die PresÂseÂfreiheit ab und auch gleich dazu die Reste, die von der einstÂmaÂligen DemoÂkratie ĂĽbrigÂblieben. Ăśber 120 MenÂschen verÂloren bis zum Oktober 2017 ihr Leben bei DemonsÂtraÂtionen und ProÂtesten gegen das Regime. Wieder einmal war ein soziaÂlisÂtiÂsches ExpeÂriment gescheitert.
Auszug aus dem Buch: KapiÂtaÂlismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung