Machtlose EZB als Gefahr für die Märkte

Die EZB ist nicht weniger skru­pellos als andere Noten­banken. Auf­grund der unter­schied­lichen Auf­fas­sungen in der Eurozone kann sie jedoch immer erst dann richtig aktiv werden, wenn es für jeden offen­sichtlich brennt. 
Um es gleich vor­weg­zu­schicken. Ich glaube nicht, dass die EZB keine Munition mehr hat, wenn es um die weitere Mani­pu­lation der Finanz­märkte und damit um das Ver­tu­schen der unge­lösten Euro- und Schul­den­krise geht. Ich glaube aller­dings, dass die EZB erst ver­spätet agieren kann und deshalb von den anderen Noten­banken überholt werden wird: mit erheb­lichen Folgen für die Eurozone und die hie­sigen Assets. Ange­sichts einer sich zunehmend abküh­lenden Welt­kon­junktur müssen wir uns mit diesem Sze­nario auseinandersetzen. 
Nega­tiv­zinsen auch in den USA
Albert Edwards, der schon seit Ende der 1990er-Jahre vor japa­ni­schen Ver­hält­nissen in Europa und den USA warnt und von einer Eiszeit an den Kapi­tal­märkten spricht, steht mit seiner Pro­gnose nicht allein da: Immer mehr nam­hafte Beob­achter erwarten auch in den USA im Zuge der nächsten Rezession negative Zinsen auf zehn­jährige Staats­an­leihen. Dies geschieht vor dem Hin­ter­grund, dass schon heute weltweit Anleihen im Wert von über zehn Bil­lionen US-Dollar nur Nega­tiv­zinsen abwerfen. 
Der Grund für diese Erwartung ist regel­mä­ßigen Lesern von STELTER STRA­TE­GISCH sicherlich bekannt: Nach Jahr­zehnten der zu laschen und asym­me­tri­schen Geldpolitik 
  • sind die welt­weiten Ver­mö­gens­werte zu hoch (und dürfen nicht fallen),
  • sind die Schulden zu hoch (und können nicht fallen, ohne die Ver­mö­gens­werte kol­la­bieren zu lassen),
  • ist der Ver­schul­dungsgrad („Leverage“) von Real­wirt­schaft und Finanz­sektor zu hoch,
  • ist der real­wirt­schaft­liche Impuls neuer Schulden zu gering
  • und die Zom­bi­fi­zierung der Unter­nehmen zu weit fortgeschritten.
Kurz gesagt: Wir haben uns in die Ecke manö­vriert und es fällt immer schwerer, sich einen schmerz­losen Ausweg vor­zu­stellen. Oder fällt den Noten­banken noch etwas ein, um das System eine Runde wei­ter­zu­drehen und allen noch ein paar ange­nehme Jahre stei­gender Ver­mö­gens­preise, sta­biler Kon­junktur und Wohl­stands­il­lusion auf Pump zu ermöglichen? 
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Geld- und Fis­kal­po­litik werden Eins
Dass Noten­banker und Poli­tiker über dieses Thema intensiv nach­denken, zeigt die Flut an Test­ballons, die in den letzten Jahren aus der aka­de­mi­schen Welt lan­ciert wurden. Die Liste der in die Dis­kussion gebrachten Ideen ist durchaus in sich kon­sistent. Es geht darum, den Noten­banken den Weg zu noch nega­ti­veren Zinsen und wei­teren umfang­reichen Liqui­di­täts­spritzen zu ermög­lichen und zugleich die Flucht­mög­lich­keiten aus dem System zu begrenzen: 
  • Kampf gegen das Bargeld: Schon seit Jahren läuft eine Kam­pagne gegen die Nutzung von Bargeld. Zunächst haben Öko­nomen wie der ehe­malige Chef­volkswirt des IWF, Kenneth Rogoff, dafür plä­diert, Bargeld mög­lichst weit­gehend abzu­schaffen; vor­der­gründig, um Schat­ten­wirt­schaft und Kri­mi­na­lität zu bekämpfen. Dann wurde der 500-Euro-Schein abge­schafft, was die Lager­kosten für Bargeld deutlich erhöht. Nun kam der IWF mit der Idee, Bargeld zu ver­steuern für den Fall, dass es auf dem Bank­konto Nega­tiv­zinsen gibt. All dies passt zu dem Sze­nario einer geplanten Ent­wertung von Geld und damit von For­de­rungen und Schulden.
  • Kampf gegen das Gold: Ergänzend dazu erklärt der IWF in einem wei­teren Arbeits­papier, dass Gold ein desta­bi­li­sie­render Faktor für die Wirt­schaft ist. Dies ist natürlich richtig, wenn man ein System unter­stützt, in dem beliebig viel Liqui­dität geschaffen werden kann und soll, um die Wirt­schaft zu beleben. Da nir­gendwo eine Rückkehr zum Gold­standard erkennbar ist, fragt man sich schon, wieso der IWF gerade heute mit diesem Thema kommt. Ein Grund könnte sein, eine solide Finanz- und Geld­po­litik (wie sie in der guten alten Zeit von Deutschland betrieben und gefordert wurde) zu dis­kre­di­tieren. Ein anderer, die mora­lische Argu­men­tation für eine Ein­schränkung pri­vaten Gold­be­sitzes zu liefern. Denn Gold ist das ulti­mative Geld, in das man flüchten kann und sollte, ange­sichts dessen, was uns bevor­steht. Wer denkt, ein Verbot pri­vaten Gold­be­sitzes sei undenkbar, der sei an die deutsche, aber auch US-ame­ri­ka­nische Geschichte erinnert!
  • Kapi­tal­ver­kehrs­be­schrän­kungen: Adäquat werden Beschrän­kungen des freien Kapi­tal­ver­kehrs in Abhän­gigkeit vom Umfeld als geeig­netes Instrument gesehen, um Krisen vor­zu­beugen und Finanz­märkte zu sta­bi­li­sieren. Dabei sind sie unver­meidbar, wenn man die Flucht der Sparer ver­hindern will. Fallen Bargeld und Gold als Aus­weich­mög­lich­keiten weg, muss nur noch die Flucht in aus­län­dische Wäh­rungen abge­wendet werden, um die Sparer unter Kon­trolle zu bekommen.
  • Mone­ta­ri­sierung der Schulden: Sind Aus­weich­re­ak­tionen unter Kon­trolle gebracht, kann man sich auf die weitere Mani­pu­lation kon­zen­trieren. Da ist zunächst die schon länger dis­ku­tierte „Mone­ta­ri­sierung“ der Schulden. Gemeint ist, dass die Noten­banken die auf­ge­kauften Schulden von Staaten und Pri­vaten einfach annul­lieren. Sie könnten sie auch einfach für hundert Jahre zins- und til­gungsfrei stellen, was öko­no­misch auf das Gleiche hin­aus­liefe. Beob­achter gehen davon aus, dass eine solche Maß­nahme, so sie denn ein­malig bleibt, keine Gefährdung für den Geldwert dar­stellte. Was wirklich pas­siert, wird man sehen. In Japan, das uns auf dem Weg der Mone­ta­ri­sierung einige Jahre voraus ist, dürfte es schon in wenigen Jahren dazu kommen.
  • Heli­kopter-Geld: Das Ent­sorgen der Alt­schulden über die Bilanzen der Noten­banken dürfte zur Lösung der Pro­bleme nicht genügen. Die Zombies wären weiter da, die unge­deckten Ver­bind­lich­keiten der Staaten blieben unge­deckt, die Pro­duk­ti­vi­täts­fort­schritte wären immer noch schwach und die Erwerbs­be­völ­ke­rungen würden weiter deutlich zurück­gehen. Das Wachstum bliebe also zu gering, um soziale Span­nungen zu mindern. Die Antwort darauf liegt in staat­lichen Kon­junk­tur­pro­grammen, direkt von den Noten­banken finan­ziert. In Anlehnung an Milton Friedman spricht man von „Heli­kopter-Geld“. Das wird in diesem Fall nicht aus Heli­ko­ptern abge­worfen, sondern dem Staat geschenkt, damit der es unter die Leute bringt, zum Bei­spiel, indem er inves­tiert. Auch hier mehren sich die Stimmen in der Wis­sen­schaft, die in diesem Vor­gehen das Nor­malste aller Dinge sehen.
  • Modern Monetary Theory (MMT): Doch warum eigentlich nur im Kri­senfall den Staat direkt von der Notenbank finan­zieren lassen? Wäre es nicht ohnehin besser, wenn man den Staat dau­erhaft und groß­zügig direkt von der Notenbank finan­zierte, anstatt wie heute den Umweg über die Geschäfts­banken zu gehen? Vor­reiter dieser Über­le­gungen bezeichnen es als „Modern Monetary Theory“. Als Skep­tiker müsste man anführen, dass es so „modern“ nicht ist, wurde es doch schon in der Wei­marer Republik aus­pro­biert. Die Befür­worter sehen das natürlich ganz anders. Ihnen zufolge können Staaten, die die Kon­trolle über die eigene Notenbank haben (also z.B. die USA, aber eben nicht Italien) so viel neu geschaf­fenes Geld aus­geben, wie sie wollen, solange die Wirt­schaft unaus­ge­lastete Kapa­zi­täten hat sowie inno­vativ und pro­duktiv genug ist, um alle Wünsche zu erfüllen! Und sollte dennoch Inflation drohen, müsste der Staat über Steuern nur einen grö­ßeren Teil des Geldes, das er in den Kreislauf gebracht hat, wieder ent­ziehen. So gesehen, waren Zim­babwe, Vene­zuela und Weimar-Deutschland auf dem rich­tigen Weg und haben nur bei der Besteuerung nicht richtig aufgepasst.
Klar ist auf jeden Fall, dass im Zuge der nächsten Krise oder Rezession, die Noten­banken den bis­he­rigen Weg mit noch mehr Kon­se­quenz fort­setzen werden. Man könnte als ratio­naler Beob­achter meinen, dass sie aus den bis­he­rigen Fehlern gelernt hätten. Dem ist aber nicht so, würde doch jeder Noten­banker ent­rüstet von sich weisen, über­haupt einen Fehler gemacht zu haben. 
EZB wieder zu spät
Was der Heli­kopter-Einsatz für die Geld­anlage bedeutet, habe ich schon mehrfach an dieser Stelle dis­ku­tiert, ebenso die Frage der unter­schied­lichen Reak­ti­ons­ge­schwin­digkeit der Noten­banken und den sich daraus erge­benden Konsequenzen. 
Es lohnt sich, diese Über­le­gungen wieder in Erin­nerung zu rufen: Es ist unstrittig, dass Eng­länder und Ame­ri­kaner – von den Japanern ganz zu schweigen – sehr prag­ma­tisch die Rotoren anwerfen werden. Die EZB wird sich, ange­sichts der schon herr­schenden Kritik an ihrer Rolle, nicht so leicht auf diesen Kurs bringen lassen. Sie agiert bekanntlich nicht für ein ein­zelnes Land, sondern für einen sehr hete­ro­genen Wäh­rungsraum.
Zwar wäre es der EZB theo­re­tisch möglich, jedem Bürger direkt Geld zu schenken, in der Praxis dürfte eine solche Idee die Wäh­rungs­union in ihren Grund­festen erschüttern. Auch die direkte Finan­zierung von Staaten mit Heli­kopter-Geld, von MMT ganz zu schweigen, sind nur im äußersten Kri­senfall denkbar. Ein Auf­schrei ginge durch Deutschland, und es würde schon einer deut­lichen Ver­tiefung der Krise bedürfen, bevor die deutsche Politik und Öffent­lichkeit diesen Weg mitgingen. 
Die Folgen? Nun, da hilft ein Blick in die Geschichte der Großen Depression. Es ging jenen Staaten damals am schnellsten wieder besser, die den Gold­standard auf­gaben und durch dras­tische (noten­bank­fi­nan­zierte) Kon­junk­tur­pro­gramme gegen­steu­erten. Zunächst Japan, dann Groß­bri­tannien und schließlich den USA, die bei der Gele­genheit auch gleich den pri­vaten Gold­besitz ver­boten. Länder, die nicht auf diesen Kurs ein­schwenkten, ver­harrten dagegen in tiefer Depression auch aus­gelöst durch die relative Aufwertung. 
Starten also die Heli­kopter in den kom­menden Jahren, bedeutet dies: einen (sehr) starken Euro, Rezession in Euroland, fal­lende Aktien und Zinsen sowie per­spek­ti­visch ein Zerfall der Eurozone. Wie man sich auf Letz­teres vor­be­reitet, habe ich hier erläutert. Zusätzlich emp­fehlen sich der Kauf aus­län­di­scher Aktien mit Absi­cherung des Wäh­rungs­ri­sikos, phy­si­sches Gold, Gold­minen und Staats­an­leihen von Deutschland. Ja, Letzt­ge­nanntes ist irre, aber bei Deflation und Euro­stärke nicht so blöd.

Dr. Daniel Stelter – www.think-beyondtheobvious.com
→ wiwo.de: „Machtlose EZB als Gefahr für die Märkte“, 11. April 2019