Die Euro­pawahl in deut­schen und rus­si­schen Medien – Ein Vergleich

Das EU-Par­lament hat weniger Rechte als der Reichstag unter Kaiser Wilhelm. Es darf nicht über den Haushalt ent­scheiden, keine Gesetze ein­bringen und über sie ent­scheiden, es darf nur abnicken, was die EU-Kom­mission ihm vorlegt. Die Kan­di­daten haben alle das gleiche Pro­gramm: „Mehr Europa!“. Wenn aber die Pro­gramme iden­tisch sind und das Par­lament nichts ent­scheiden darf, wozu die Wahl? 
Die Medien ver­suchen alles, diese Show-Ver­an­staltung als große Rich­tungswahl hin­zu­stellen. Wie unmöglich das ist, zeigt ein Artikel im Spiegel. Noch deut­licher wird das in einem Kom­mentar in der rus­si­schen TASS. Beide sind heute erschienen, und in beiden geht es um eine TV-Debatte zwi­schen den Spit­zen­kan­di­daten, die gestern statt­ge­funden hat.
Im Spiegel wird die dänische EU-Kom­mis­sarin Mar­grethe Ves­tager als eine Art Shooting-Star gefeiert, die für etwas völlig Neues steht:
„Vieles, was Ves­tager sagt, klingt daher neu und frisch, auch wenn es nicht gerade revo­lu­tionär ist.“
Wow, da ist man doch richtig gespannt, was die Dame wohl gesagt hat. Der Spiegel zitiert diese Aus­sagen von ihr als „neu und frisch“:

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„‘Es gebe viele Gründe, warum die Bürger sich von der EU abwenden’, sagt Mar­grethe Ves­tager. Die ganzen Abkür­zungen, damit fange es schon an. ‘Wie können wir erwarten, dass die Bürger das wert­schätzen? Wir müssen die Eti­ketten abreißen’, schimpft sie und erntet Applaus im Ple­narsaal des Brüs­seler Euro­pa­par­la­ments. (…) ‘Wer einen Ganz­ta­gesjob hat, sollte ein ordent­liches Leben führen können’, sagt Ves­tager. Oder zum Kli­ma­wandel: ‘Wir haben die Tech­no­logie, die wir brauchen. Wir können jetzt loslegen.’“
Wie weit die EU-Eliten sich von den Men­schen ent­fernt haben, kann man deut­licher kaum auf­zeigen. Die Bürger wenden sich also von der EU ab, weil die EU Abkür­zungen ver­wendet? Das meint sie ernst. Dass es an der Politik der EU und an deren Demo­kratie-Defi­ziten liegen könnte, kommt ihr nicht einmal in den Sinn.
Und was ist „neu und frisch“ daran, wenn jemand meint, dass man von einem Ganz­tagsjob leben können muss? Dass dies einer Real­satire gleicht, scheint der Spiegel gar nicht mehr zu merken.
Aber so zieht es sich durch den ganzen Artikel, es gibt einige wolkige und inhaltslose For­mu­lie­rungen der Kan­di­daten, und das soll dem Bürger den Ein­druck ver­mitteln, es ginge um einen inter­es­santen Wahlkampf.
Ganz anders in der rus­sische TASS, die mal genauer hin­ge­schaut hat. Ich habe den Kom­mentar in der TASS übersetzt.
Beginn der Übersetzung:
Die erste öffent­liche Debatte der Kan­di­daten für das Amt des Chefs der Euro­päi­schen Kom­mission in der EU-Geschichte fand am späten Abend in der Residenz des Euro­päi­schen Par­la­ments in Brüssel statt. Vor 2014 wurden die Chefs der Euro­päi­schen Kom­mission hinter ver­schlos­senen Türen ernannt.
Die fast zwei­stündige Dis­kussion der sechs Kan­di­daten für den Posten des EU-Chefs wurde im Internet über­tragen, unter anderem über ver­schiedene soziale Netz­werke, in denen die Nutzer auf­ge­fordert wurden, Fragen zu stellen, von denen einige auch den Kan­di­daten gestellt wurden. Die inter­na­tionale Politik wurde kaum dis­ku­tiert, die Lage in der Ukraine spielte keine Rolle.
An den Debatten nahmen die sechs füh­renden Frak­ti­ons­chefs des Euro­päi­schen Par­la­ments teil, von denen je nach den Ergeb­nissen der Wahlen zum Euro­päi­schen Par­lament am 23. bis 26. Mai einer beim EU-Gipfel als neuer Leiter der EU-Kom­mission vor­ge­schlagen werden soll.
Die Kan­di­daten waren der Vor­sit­zende der Euro­päi­schen Volks­partei, der Deutsche Manfred Weber, der erste stell­ver­tre­tende Leiter der EU-Kom­mission, der Nie­der­länder Frans Tim­mermans (Ver­treter der Sozia­listen) und die dänische Wett­be­werbs­kom­mis­sarin Mar­grethe Ves­tager (Kan­di­datin der Libe­ralen). Die drei wei­teren Kan­di­daten (die keine Chance auf den Posten haben) waren die Euro­pa­ab­ge­ordnete Ska Keller (eine Ver­tre­terin der Grünen), der Tscheche Jan Zahradil (Ver­treter der Fraktion der Euro­päi­schen Kon­ser­va­tiven und Refor­misten) und der bel­gische Kan­didat der Ver­ei­nigten Linken.
Die Beson­derheit dieser euro­päi­schen Debatten ist, dass alle Kan­di­daten für das Amt des Chefs der Euro­päi­schen Kom­mission in fast allen Themen einer Meinung sind, mit Aus­nahme einiger Details. Men­schen, die diese sechs Kan­di­daten nicht kennen, können ihre Posi­tionen kaum unterscheiden.
Alle Redner sprachen sich für die Rettung von Migranten im Mit­telmeer aus, freilich ohne zu prä­zi­sieren, was mit den Hun­derten oder Tau­senden geret­teten Flücht­lingen geschehen soll, in welches Land sie dann kommen sollen und wer das bezahlen soll, dabei sind diese Fragen das Haupt­problem der Mit­tel­meer­länder der EU.
Jeder Kan­didat hat sich für den Kampf gegen den glo­balen Kli­ma­wandel aus­ge­sprochen, der „sozial ver­ant­wortlich“ geführt werden soll, was bedeutet, dass die Wirt­schaft und die Beschäf­tigung in Europa nicht dar­unter leiden darf. Darüber hinaus sprach jeder Redner von der Not­wen­digkeit, die Mobi­lität junger Men­schen zu fördern, die gemein­samen Werte von Demo­kratie, Men­schen­rechten und Huma­nismus zu fördern und die Gleich­stellung der Geschlechter überall einzuführen.
Diese Gemein­samkeit der Ansichten ließ nur eine Frage offen: Warum sechs Kan­di­daten nomi­nieren, wenn die gemein­samen Posi­tionen auch einer allein ver­künden kann?
So gab diese Debatte eine sehr klare Antwort auf die Frage, warum radikale und euro­skep­tische Par­teien in Europa so schnell an Zulauf gewinnen. Weil sie sich nicht scheuen, zu sagen, was die euro­päi­schen Wähler wirklich denken, nicht poli­tisch korrekt die Pro­bleme der Migration nach Europa ver­schweigen, sys­te­mische Pro­bleme in der Wirt­schaft ansprechen, die zu einem realen Rückgang des Lebens­stan­dards der Bevöl­kerung geführt hat und die Sozi­al­systeme aus­höhlt. Sie sprechen auch die unsinnige EU-Außen­po­litik an, bei der Europa sich unter dem Druck der trans­at­lan­ti­schen Bezie­hungen selbst schadet, indem es sich zum Bei­spiel das Ziel setzt, mehr Flüs­siggas aus den USA zu kaufen, obwohl es im Durch­schnitt 30% teurer ist als rus­si­sches Pipeline-Gas. Oder indem die EU unter dem Druck aus den USA Sank­tionen gegen Russland ver­hängt, die die Wirt­schaft einer Reihe von EU-Ländern schwer beein­trächtigt haben, während die US-Wirt­schaft keine signi­fi­kanten Ver­luste erlitten hat, sondern im Gegenteil die frei­ge­wor­denen Nischen zum Teil selbst besetzt.
Nach dem Grund für die Beliebtheit der Radi­kalen wurde während der Debatte gefragt. Die deut­lichste Antwort gab Mar­grethe Ves­tager: „Wir geben kom­plexe Ant­worten und sprechen zu unklar, es scheint, dass die EU ver­sucht, etwas geheim zu halten. Unsere Ter­mi­no­logien und Abkür­zungen müssen ein­facher und offener werden, wir müssen den Men­schen etwas zum Nach­denken geben und falsche und schlechte Infor­ma­tionen bekämpfen.“
Der Kan­didat der Fraktion der Euro­päi­schen Kon­ser­va­tiven und Refor­misten wie­derum stellte fest, dass er, wenn er mit den Wählern über die Pro­bleme der EU dis­ku­tiert, das Gefühl hat, dass die Men­schen das einige Europa lieben, aber nicht alles mögen, was mit seiner Politik zu tun hat. Die Grüne Ska Keller äußerte sich nicht zu diesem Thema, sondern erklärte sofort, dass ver­ant­wor­tungs­volle Poli­tiker der EU „den Radi­kalen den poli­ti­schen Raum nicht über­lassen“, ihnen nicht zustimmen und keine Koali­tionen mit ihnen bilden dürfen.
Der Außen­po­litik wurde in der Debatte nur sehr wenig Auf­merk­samkeit geschenkt, aber ein paar inter­es­sante Thesen wurden ange­sprochen. Der Sozialist Tim­mermans for­derte die euro­päi­schen Staats-und Regie­rungs­chefs auf, die Inter­essen der EU „gegen Putin und Trump“ aktiver zu verteidigen.
„Zum ersten Mal in der Geschichte (das ist eine sehr umstrittene These, aber es ist die Meinung dieses Kan­di­daten für das Amt des Chefs der Euro­päi­schen Kom­mission, Anm. d. TASS) denkt der ame­ri­ka­nische Prä­sident, dass ein schwaches und gespal­tenes Europa in seinem Interesse ist, das ist gefährlich für uns. Schwach und gespalten werden wir nicht in der Lage sein, in der Welt für unsere Werte ein­zu­treten. Wir brauchen die euro­päische Einheit, wir müssen die poli­ti­schen Kräfte um den Vize-Minis­ter­prä­sident Ita­liens, Matteo Salvini, die denken, Putin sei ihr bester Freund, davon über­zeugen, dass sie nicht im besten Interesse der euro­päi­schen Bürger handeln“, meint Timmermans.
Aber Tim­mermans wurde sofort von seinem Haupt­kon­kur­renten Manfred Weber kor­ri­giert: „Das ame­ri­ka­nische Volk sind unsere Freunde, unsere engsten Ver­bün­deten, die unsere Grund­werte teilen, egal welche Regierung im Weißen Haus sitzt. Wir müssen daran arbeiten, die trans­at­lan­ti­schen Bezie­hungen zu stärken“ unter­strich er. Über Russland sagte Weber kein Wort.
Dafür sagte er aber, er sei dafür, Ent­schei­dungen zur Außen­po­litik im Euro­päi­schen Rat nicht mehr ein­stimmig zu treffen, wie es jetzt der Fall ist, sondern durch Abstimmung und Mehr­heits­be­schluss. Der Tscheche Jan Zahradil hat dem sofort wider­sprochen, weil dieser Vor­schlag innerhalb der EU sehr gefähr­liche Wider­sprüche her­vor­rufen könnte, weshalb die Länder der Gemein­schaft darauf nicht ein­gehen werden.
Die liberale EU-Kom­mis­sarin Ves­tager hat das Thema der künf­tigen Erwei­terung der EU ange­sprochen und darauf hin­ge­wiesen, dass sich dieser Prozess sehr ver­lang­samen wird: „Ich denke, dass die nächste Erwei­terung anders aus­fallen wird (als die erste Erwei­terung 2004, als auf einen Schlag 10 Länder der EU bei­traten, Anm. d. TASS). Weil wir uns ver­ändert haben, und weil sich die Kan­di­da­ten­länder ver­ändert haben. Es braucht mehr Zeit, um sie vor­zu­be­reiten, Land für Land.“
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Und die Ver­tre­terin der Grünen, Ska Keller, schlug vor, dass die Euro­päi­schen Union in ihren Han­dels­ab­kommen mit Dritt­ländern nicht nur die Grund­sätze des Frei­handels, sondern auch eine Reihe von Ver­pflich­tungen für die EU-Partner fest­schreiben solle: vom Kli­ma­wandel über Regeln zur Nutz­tier­haltung bis zu Arbeitnehmerrechten.
In dieser theo­re­ti­schen Dis­kussion wurden die wahren Pro­bleme und inter­na­tio­nalen Krisen gar nicht ange­sprochen. Über die Ukraine wurde nicht ein Wort gesagt, Russland wurde nur gemeinsam mit den USA als Länder erwähnt, vor denen Europa seine Inter­essen schützen sollte. Auch wurde kein ein­ziges Wort über die erwartete Ein­mi­schung Russ­lands in die Wahlen zum Euro­päi­schen Par­lament ver­loren, obwohl im Euro­päi­schen Par­lament solche Erklä­rungen bei jeder Sitzung bis zum letzten Tag der Arbeit der Abge­ord­neten ver­kündet wurden.
Gleich­zeitig kam in der Dis­kussion nie die Frage auf, wie man für die Kan­di­daten stimmen kann (obwohl das in den sozialen Netz­werken die meisten Bürger inter­es­sierte). Und das ist ver­ständlich: Die Europäer können nicht direkt für den künf­tigen Chef der Euro­päi­schen Kom­mission stimmen. Das System in der Euro­päi­schen Union sieht seit 2014 einen „Spit­zen­kan­di­daten“ vor, bei dem der Chef des größten Par­tei­en­bünd­nisses Chef der Kom­mission werden soll.
Die Euro­päische Volks­partei (EVP), die auf der christlich-demo­kra­ti­schen Ideo­logie beruht, domi­niert seit 30 Jahren im Euro­päi­schen Par­lament und diese Partei ist auch die größte poli­tische Struktur der Euro­päi­schen Union. Auf dem zweiten Platz stehen die Sozia­listen, auf dem dritten die Libe­ralen. Als 2014 die EVP ihren Kan­di­daten für das Amt des Chefs der Euro­päi­schen Kom­mission nomi­niert hatte, den ehe­ma­ligen Minis­ter­prä­si­denten Luxem­burgs, Jean-Claude Juncker, war ihm die Position schon vor den Wahlen zum Euro­päi­schen Par­lament garantiert.
Der Kan­didat der EVP ist diesmal der Deutsche Manfred Weber und dass er diesen Posten bekommt, kann nur ein Wunder ver­hindern. Dies würde zum Bei­spiel geschehen, wenn die EVP mehr als 30% Ein­bußen erleiden würde, was selbst bei den letzten Wahlen 2014 nicht der Fall war, als die Popu­la­rität der Euro­skep­tiker wirklich explo­diert ist.
Aber das Haupt­problem der Euro­pa­wahlen ist, dass alle poli­ti­schen Frak­tionen des Euro­päi­schen Par­la­ments keine Par­teien sind, sondern große supra­na­tionale Bünd­nisse ein­zelner Par­teien (aus ver­schie­denen EU-Staaten), vereint durch eine ähn­liche Ideo­logie. Mei­nungs­um­fragen zufolge wissen weniger als 10% der Europäer, zu welcher poli­ti­schen Ver­ei­nigung im Euro­päi­schen Par­lament ihre bevor­zugten natio­nalen Poli­tiker gehören, für die sie ihre Stimme abgeben werden.
Ein wei­teres sur­reales Element der anste­henden Wahlen ist die Betei­ligung des Ver­ei­nigten König­reichs, das die EU nicht recht­zeitig (bis zum 29. März) ver­lassen konnte und nach meh­reren Gipfeln der Gemein­schaft einen Auf­schub bis zum 31. Oktober erhielt. Zu diesem Zweck haben die Staats- und Regie­rungs­chefs der EU durch Gip­fel­be­schluss einfach eine der Bestim­mungen des Ver­trags von Lis­sabon auf­ge­hoben. London hat den Auf­schub unter zwei Bedin­gungen erhalten: Es wird an den Wahlen zum Euro­päi­schen Par­lament teil­nehmen, aber die gewählten bri­ti­schen Abge­ord­neten werden sich nicht in den Ent­schei­dungs­prozess in der Gemein­schaft ein­mi­schen, die sie ver­lassen wollen. Bei der Fest­stellung des Wahl­siegers und der Bestimmung der stärksten Fraktion im Euro­päi­schen Par­lament werden die bri­ti­schen Stimmen jedoch gezählt.
Ende der Übersetzung

Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“