Wie das rus­sische Fern­sehen die Ergeb­nisse der Euro­pawahl sieht

Das rus­sische Fern­sehen hat am letzten Sonntag in der Sendung „Nach­richten der Woche“ einen Blick auf die Euro­pawahl geworfen und es ist eine inter­es­sante Analyse der Wahl­er­geb­nisse und Ereig­nisse rund um die Wahl ent­standen. Wie üblich weichen die Ein­schät­zungen Russ­lands weit ab von den Ein­schät­zungen deut­scher Jour­na­listen, was sie um so lesens­werter macht. Ich habe den Beitrag daher übersetzt.
Beginn der Übersetzung: 
Nach der Wahl wird ein neues Euro­pa­par­lament gebildet. Die Euro­skep­tiker und die Rechten haben ihre Ergeb­nisse ver­bessert, aber keine Mehrheit erhalten. Die erstarkte Rechte in Europa wurde bereits als „Putin-Fraktion“ bezeichnet. Einer­seits ist es ein Schreck­ge­spenst, um Kinder zu erschrecken, aber ande­rer­seits ist es auch die Aner­kennung des Anstiegs der Sym­pathie für Russland und Putin in Europa. Wie dem auch sei, das Euro­päische Par­lament sucht nach mög­lichen Koali­tionen und eine der wich­tigsten Fragen ist, wer die Euro­päische Kom­mission, die Regierung Europas, bilden und wer ihr Prä­sident wird.
Angela Merkel war im Land von Donald Trump. In Harvard wurde sie von dieser füh­renden US-Uni­ver­sität als Ehren­dok­torin geehrt. Eine Glocke läutete die Ver­an­staltung ein. Der Kor­re­spondent der Süd­deut­schen Zeitung fand eine uner­war­teten Asso­ziation: „Als die Kanz­lerin mit den ört­lichen Hono­ra­tioren die Bühne betrat, erklangen Glo­cken­schläge. Das ist in Harvard so üblich, die Glocke leitet die Ver­an­staltung ein, die Glocke beendet sie. Es klang wie Kon­zerte der aus­tra­li­schen Rockband AC/DC eine Zeitlang begonnen haben: Glo­cken­schläge bevor der Song „Hells Bells“ ertönt.“
Danch hielt die Kanz­lerin ihre Rede. Merkels Rede wurde in deut­schen Zei­tungen als ihr poli­ti­sches Tes­tament bezeichnet. Auf der einen Seite ist es bis zu den Wahlen 2021 noch weit, auf der anderen Seite könnte es schneller gehen nach den Ergeb­nissen der Europawahl.
Alles, was sich seit der Krise von 2008 abge­spielt hat, hat ihr den Boden bereitet, aber die Wahlen zum Euro­päi­schen Par­lament haben ein Zeichen gesetzt. Dort kommt jetzt alle gegen alle. Die Ver­bün­deten sind unzu­ver­lässig. Die Feinde wechseln je nach Situation. Der stra­te­gische Pla­nungs­ho­rizont in der EU beträgt maximal eine Woche. Jetzt müssen sie sich für einen neuen Vor­sit­zenden der Euro­päi­schen Kom­mission als Nach­folger für Junker entscheiden.
Das Konzept des „Spit­zen­kan­di­daten“ ist das gleiche, wie in Deutschland: Es wird eine par­la­men­ta­rische Koalition gebildet und der Par­tei­vor­sit­zende wird Kanzler, in diesem Fall von Europa. Vor der Wahl wurde erwartet, dass bei einem solchen System der Bayer Manfred Weber, Spit­zen­kan­didat der kon­ser­va­tiven Euro­päi­schen Volks­partei, die besten Chancen auf den Posten hat. Merkel unter­stützte ihn. Die Nummer zwei war der Vor­sit­zende der Sozi­al­de­mo­kraten, der Nie­der­länder Frans Tim­mermans. Diese beiden Par­teien hielten 40 Jahre lang die Mehrheit in Brüssel. Das ist vorbei und nun müssen die Regeln neu geschrieben werden.
Die Euro-Nomen­klatura hat die Initiative bei der wich­tigen Per­so­nal­frage. Vielen gefiel die Idee von Anfang an nicht, den deut­schen Weber als EU-Kanzler zu bekommen, weil das als Stärkung von Merkels Ein­fluss gewertet wurde. Ganz Ost­europa, die Griechen, die Ita­liener, die Spanier und Macron waren von dieser Aus­sicht nicht begeistert, und nun bekamen sie eine Gele­genheit, das zu ver­meiden. Immer häu­figer werden andere Namen erwähnt, dar­unter die EU-Kom­mis­sarin für Wett­bewerb, Mar­greet Ves­tager. Sie hat drei Vor­teile: Erfahrung für den Fall von Han­dels­kriegen, ihre Staats­bür­ger­schaft und ihr Geschlecht. Aber sie ist nicht die einzige.
Die Zer­störung der tra­di­tio­nellen zen­tris­ti­schen Mehrheit zwingt die Kon­ser­va­tiven und die Sozi­al­de­mo­kraten zur Suche nach Bünd­nis­partnern, dabei können die Karten bei der Wahl des euro­päi­schen Spit­zen­be­amten neu gemischt werden: Die Wahlen laufen Gefahr, einer mit­tel­al­ter­lichen Königswahl zu ähneln.
Zugleich wurde Webers Position auch durch den Miss­erfolg der deut­schen Regie­rungs­par­teien selbst geschwächt. Der Block aus CDU und CSU erzielte nur 28 Prozent der Stimmen, der Juni­or­partner, die SPD, kam auf nur 15 Prozent. Die SPD verlor den Status als Volks­partei und überließ diesen den Grünen, die sen­sa­tionell 22 Prozent bekamen und zusammen mit der Ultra­rechten der AfD (10,5 Prozent) wieder Deutschland geteilt haben: Der Westen stimmte für die Umwelt­schützer und der Osten gegen Migranten.
Am 4. Juni gibt Frau Nahles das Amt der SPD-Vor­sit­zenden auf. Auch die fatalsten Folgen für die aktuelle Regierung Merkels, in der die Sozi­al­de­mo­kraten Geiseln sind, die nur das „Stockholm-Syndrom“ vom Auf­stand abhält, sind nicht ausgeschlossen.
„Wie lange kann es so weiter gehen? Chaos in der SPD, eine Reihe von Miss­erfolgen von CDU/CDU, man muss kein Hell­seher sein, um zu ahnen, dass die wackelige Koalition zer­brechen kann“, schreibt die Süd­deutsche Zeitung.
Dass Merkel von ihrer Nach­fol­gerin im Amt der CDU-Chefin Kramp-Kar­ren­bauer ent­täuscht sei, schrieb zuerst die Agentur Bloomberg: AKK schei­terte im Wahl­kampf, der angeblich von der Kanz­lerin als Eig­nungstest gewertet wurde. AKK ist durch­ge­fallen. Es tauchten Zweifel auf, ob man Deutschland in ihre Hände über­geben könne. Das sagten Quellen aus dem Umfeld der Kanz­lerin, doch Merkel selbst nannte das Unsinn.
Dafür wurde ein Schul­diger außerhalb der Partei gefunden: Der Video­blogger Rezo. Er hat 900.000 Fol­lower. Er, sagen sie, hat den Wahl­kampf der Koali­ti­ons­par­teien mit der grünen Hor­ror­ge­schichte der glo­balen Erwärmung um ein­einhalb Grad „getötet“ und die Unfä­higkeit der Regierung bloß­ge­stellt, der Jugend eine Zukunft zu geben.
„Die CDU hat 29 Jahre regiert. In dieser Zeit nahm die Kluft zwi­schen Arm und Reich weiter zu. Die ärmsten 50 Prozent der Bevöl­kerung wurden ärmer, während die reichsten 10 Prozent immer reicher wurden. Nach der aktu­ellen Situation zu urteilen, wird sich daran in abseh­barer Zeit nichts ändern“, sagte er in einem seiner Videos.
Es hat 14 Mil­lionen Klicks. Im Großen und Ganzen ist das alles nicht neu. Dass der positive Effekt der Glo­ba­li­sierung erschöpft ist und die liberale Wirt­schaft kein Wachstum des Wohl­stands mehr bringt, ist lange bekannt. Schon Trump wurde deshalb gewählt, aber auch Zweifel brauchen Zeit, um zu reifen. Übrigens wird Trump als einer der grund­le­genden Gründe für die Zweifel gehandelt.
Der Prä­sident der Ver­ei­nigten Staaten hat seine Haltung zu den Ergeb­nissen der Wahlen zum Euro­pa­par­lament nicht geäußert, kein Wort auf Twitter. Ganz elo­quent. Und in der euro­päi­schen libe­ralen Presse wird Steve Bannon dämo­ni­siert, der ehe­malige Freund und Rat­geber Trumps, der Chef des Trump-Wahl­kampfes war. Er wird fast wie ein schlam­piger Kosak dar­ge­stellt, obwohl er mit seinem ehe­ma­ligen Chef im Moment nicht gut kann. Bannon hat bei diesen Wahl­kämpfen offen die extreme Rechte unter­stützt, in Italien, Frank­reich und Deutschland. Und dass es keinen direkten Kontakt zwi­schen ihm und Trump gibt, bedeutet nicht, dass die aktuelle US-Regierung ihm nicht die Daumen gedrückt hat.
„Trumps Interesse ist es, die poli­tische Klasse Europas zu schwächen. Der US-Prä­sident ver­sucht, die Strömung um Merkel und Macon zu schä­digen. Wie Bannon es aus­drückte, werden sie wie Kegel fallen. Diese Aussage war erfri­schend, aber leider ist seine Pro­gnose noch nicht wahr geworden. Washington ver­sucht, seinen euro­päi­schen Kon­kur­renten zu schwächen“, ist sich der Her­aus­geber des Magazins Compact Jürgen Elsässer sicher.
Die EU schwächen und noch enger durch Gas und Smart­phones an die USA binden, ist das Ziel. Washington braucht Europa als Absatz­markt für sein Flüssig-Gas, daher darf es kein Nord Stream geben, und als Bestandteil seiner Tech­no­logie-Zone, in der ame­ri­ka­nische IT-Kon­zerne und kein chi­ne­si­sches 5G domi­nieren. Aus dieser Sicht darf in Europa keine Einigkeit herr­schen, es ist ein­facher, die Länder einzeln zu brechen. Und Trump begann sofort, auf das wich­tigste EU-Land, Deutschland, ein­zu­schlagen. (Anm. d. Übers.: Die west­lichen Medien behaupten immer, Russland wolle die EU schwächen, das Gegenteil ist der Fall. Russland möchte die EU sogar stärken, damit sie stark genug wird, sich von Washington zu eman­zi­pieren. Daher sind den USA an einer Schwä­chung der EU inter­es­siert. Das wird besonders in meinem Buch über Putin sehr deutlich.)
Der Tief­punkt der deutsch-ame­ri­ka­ni­schen Bezie­hungen war die plötz­liche Absage des für Mitte Mai geplanten Berlin-Besuchs von Außen­mi­nister Pompeo. Die Deut­schen waren beleidigt, weil Washington es nicht für not­wendig gehalten hat, eine glaub­würdige Erklä­rungen dafür zu liefern. Offenbar demons­trierte die Trump-Admi­nis­tration im Vorfeld der Euro­pa­wahlen bewusst ihre Ver­achtung für die euro­päi­schen Partner.
Pompeo kam erst am 31. Mai und beendete die lange Pause im direkten Kontakt, in der es dafür reichlich schrift­liche Dro­hungen des US-Bot­schafters in Berlin gegen alles und jeden gab. Ein kurzes Treffen mit dem deut­schen Außen­mi­nister. Heiko Maas nannte seinen Kol­legen „Lieber Mike“, Pompeo blieb freundlich, schmerz­hafte Themen hat er nicht ange­sprochen und die Sank­tionen gegen „Nord Stream‑2“ nicht erwähnt. Dann ein Treffen mit der Kanz­lerin. Merkel war freundlich, und Pompeo sah glücklich aus.
Das Treffen war gut gelungen: Iran, Syrien, Ukraine, Russland, 5G. Und das sehr kom­pri­miert: Das Gespräch dauerte nur 45 Minten. Pompeo vergaß, wie sein Chef, Merkel zur Ehren­dok­tor­würde von Harvard zu gra­tu­lieren. Und das Kanz­leramt wurde danach auf den Empfang des nächsten Gastes vorbereitet.
Pompeo kam erst spät nach Berlin und alle haben ver­standen, dass Deutschland kein stra­te­gi­scher Partner mehr für die USA ist. Die Deut­schen fanden einen ele­ganten Weg, um ihren Ärger zu demons­trieren. Der unge­plante Besuch des US-Außen­mi­nisters wurde so in den Zeitplan der Kanz­lerin gelegt, dass es die viel­fäl­tigen außen­po­li­ti­schen Inter­essen Deutsch­lands demons­triert. Unmit­telbar nach ihm kam ein Gast aus China zu Merkel.
Mit dem stell­ver­tre­tenden Vor­sit­zenden der Volks­re­publik China Wang Tsishan sprach Merkel über gegen­sei­tigen Handel und Inves­ti­tionen. Peking inter­es­siert sich für den Ham­burger Hafen, jeder dritte Con­tainer, der aus China kommt, wird dort abge­laden. Sie sprachen über den Han­dels­krieg mit den USA und die Wahlen zum Euro­päi­schen Par­lament. Was genau besprochen wurde, ist nicht bekannt, nichts ist durchgesickert.
Doch die deutsche Zeitung Bild stellte eine Frage, die zunächst sehr seltsam erscheint, aber nun eine ganz aktuelle Bedeutung hat: „Welche Hand ist uns wich­tiger?“ In der Tat steht Europa heute vor der gleichen schweren Ent­scheidung, vor die es 2013 die Ukraine gestellt hat, bevor der Westen sie ins Chaos gestürzt hat: Mit wem in die Zukunft gehen? Welche Per­sön­lich­keiten, welche Eliten, werden bestimmen, was morgen und über­morgen pas­siert? Und hat die Euro­päische Union ein Morgen und Über­morgen? Es gibt viele Fragen, das Einzige, was, wie immer, nicht gefragt werden darf: Für wen läuten die Glocken als nächstes?
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Ende der Übersetzung
Wenn Sie sich dafür inter­es­sieren, wie Russland auf die Fragen der inter­na­tio­nalen Politik blickt, dann sollten Sie sich die Beschreibung meines Buches ansehen, in dem ich Putin direkt und unge­kürzt in langen Zitaten zu Wort kommen lasse. Vor allem Putins wahre Inter­essen gegenüber der EU werden für viele sehr über­ra­schend sein, denn darüber wird in den deut­schen und west­lichen Medien falsch berichtet, wie man bei der Lektüre des Buches schnell feststellt.


Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“