Vera Lengsfeld klagt an: Mediale Schüt­zen­hilfe für Gysi, den Möch­tegern-Retter der DDR

Nachdem die Leip­ziger Phil­har­mo­niker von ihrem skan­da­lösen Vor­haben, aus­ge­rechnet den letzten SED-Par­teichef und erfolg­reichen SED-Ver­mö­gens­si­cherer Gregor Gysi, im ersten Leben Mit­ar­beiter der Staats­si­cherheit, wie der Immu­ni­täts­sau­schuss des Deut­schen Bun­des­tages 1998 in seinem Abschluss­be­richt über die Unter­su­chung des Abge­ord­neten Gysi auf Sta­si­mit­arbeit fest­ge­stellt hat, als Fest­redner zur Ehrung der Demons­tranten des 9. Oktober 1989 zu instal­lieren, Abstand nehmen mussten, ist eine Debatte in den Medien losgebrochen.
Dabei wird jede Menge Schüt­zen­hilfe für Gysi geleistet. Der unver­meid­liche Friedrich Schor­lemmer, behauptet pres­se­wirksam, es handele sich um Zensur. Schor­lemmer, dessen Ver­dienste in der Oppo­si­ti­ons­be­wegung der DDR unbe­stritten sind, pro­fi­lierte sich damit wieder einmal als SED-Gesundbeter.
In der Debatte wurde den Bür­ger­rechtlern auch vor­ge­worfen, dass sie die Groß­de­mons­tration am 4. November 1989 in Berlin, bei der Gysi eine ent­schei­dende Rolle gespielt hat, wohl nicht als Teil der Fried­lichen Revo­lution ansähen.
Weil die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht, wie mein Lieb­lings-Apho­ris­tiker Sta­nisław Jerzy Lec, gesagt hat, möchte ich in Erin­nerung rufen, was sich am 4.11.1989 abge­spielt hat. Damals gab es zwei Demons­tra­tionen: Eine zur Rettung der DDR auf der Red­ner­tribüne und eine zu ihrer Abschaffung unter den Demonstranten.
Hier zitiere ich, was ich in meinem 1989 – Tagebuch der Fried­lichen Revo­lution dazu geschrieben habe:


Vierter November 1989
Groß­de­mons­tration in Berlin. Es ist die erste von der SED geneh­migte Kund­gebung, zu der nicht von der SED, einer Block­partei oder einem anderen staat­lichen Organ auf­ge­rufen wurde. Aber die SED hat erfolg­reich Ein­fluss genommen. Dem Vor­be­rei­tungs­kreis gehörten nicht nur Oppo­si­tio­nelle und Künstler, sondern auch Ver­trau­ens­leute der SED, wie Gregor Gysi an, der sein bekanntes rhe­to­ri­sches Talent dafür ein­ge­setzt hatte, dass neben ihm auch der ehe­malige Spio­na­gechef der Staats­si­cherheit Markus Wolf und Polit­bü­ro­mit­glied Günter Schab­owski einen Platz auf der endlos langen Red­ner­liste bekamen.
Der Wunsch der SED-Führung ist es, mit dieser Demons­tration das Heft des Han­delns wieder in die Hand zu bekommen. Es soll ein Bekenntnis zu Reformen mit dem Ziel, einen demo­kra­ti­schen Sozia­lismus auf­zu­bauen, werden. Natürlich unter Führung der SED.
Außer in Berlin gibt es Demons­tra­tionen in fast 50 Städten und Gemeinden der DDR. Über eine Million Men­schen sind an diesem Tag auf den Beinen. Die Hälfte davon in Berlin, was die Kund­gebung zur größten der Fried­lichen Revo­lution macht. Dass die Ver­an­staltung dennoch ein zwie­späl­tiges Gefühl hin­terließ, lag an ihrer Kon­zeption, die bewirkte, dass es am Schluss zwei Kund­ge­bungen gab: Eine fand auf dem Podium statt, die andere auf dem Platz.
Zunächst bewegt sich der Demons­tra­ti­onszug am Gebäude der Nach­rich­ten­agentur ADN vorbei zum Palast der Republik. Von dort geht es zum Alex­an­der­platz, eine große, zugige Frei­fläche. Dort ist eine höl­zerne Tribüne auf­gebaut, die Walter Kem­powski, der vor dem Fern­seher sitzt, an ein mit­tel­al­ter­liches Schafott erinnert.
Als erster Redner besteigt Spio­na­gechef a. D. Markus Wolf dieses Schafott. Gysi hatte den Künstlern in der Vor­be­rei­tungs­gruppe ein­ge­redet, bei Wolf handele es sich um einen Reformer. Den Men­schen vor der Tribüne ist das nicht weis­zu­machen. Wolf, den Kem­powski als „Typ Wehr­machts­of­fizier“ ein­ordnet, wird bald durch Pfiffe und Sprech­chöre am Wei­ter­reden gehindert. Damit ist seine Reform­kar­riere beendet, bevor sie beginnen konnte.
Polit­bü­ro­mit­glied Schab­owski wagt dennoch den Versuch, die Masse auf Partei‑, und Staatschef Egon Krenz, Reformen und demo­kra­ti­schen Sozia­lismus ein­zu­schwören. Er behauptet, Krenz hätte den Schul­ter­schluss mit Gor­bat­schow voll­zogen, stellt sogar mehr Rei­se­freiheit in Aus­sicht. Auch ihn wollen die Men­schen nicht hören. Pfiffe, Buh-Rufe, Sprech­chöre, die „Auf­hören, Auf­hören!“ fordern.
Der Bür­ger­rechtler Jens Reich, der neben Schab­owski steht, sieht, wie dessen Gesichtszüge ver­fallen. Er kann die Zurück­weisung der Menge nicht ertragen. Wider­spruch aus­zu­halten gehört nicht zu den Tugenden eines Politbüromitglieds.
Später beschreibt Schab­owski dieses Erlebnis als den Wen­de­punkt in seinem Leben, da ihm bei dieser Gele­genheit klar wurde, dass die SED ihre Macht ver­spielt hat.
Gysi, der zu diesem Zeit­punkt noch unbe­kannt ist, sieht deutlich ein Trans­parent, das „Rechts­si­cherheit statt Staats­si­cherheit“ fordert und kann sich mit Spitzen gegen die Stasi vor allzu vielen Pfiffen schützen. Aber auch ihm nehmen die Men­schen die Reform-Rhe­torik nicht ab.
Außer den vier Genannten spricht noch eine Reihe von Schrift­stellern, Künstlern und Bür­ger­rechtlern. Alle halten sich an die Vor­gaben und werben für Reformen und den demo­kra­ti­schen, den „rich­tigen“ Sozia­lismus. Nur Christa Wolf geht auf die Demons­tranten ein. Sie bekennt ihre Schwie­rig­keiten mit dem Begriff Wende und führt den Wen­dehals in die Debatte ein. Sie weist auf die Rolle der Sprache bei der Befreiung von Dik­tatur und Zensur hin. „Was bisher so schwer aus­zu­sprechen war, geht uns auf einmal frei über die Lippen.“ Aus den Sprüchen und Losungen der Demons­tranten leitet sie ein lei­den­schaft­liches Bekenntnis zur Revo­lution ab, die für die beken­nende Sozia­listin eben­falls nur den „rich­tigen“ Sozia­lismus zum Ziel haben durfte. Wenn Christa Wolf noch genauer hin­ge­schaut hätte, wäre ihr nicht ent­gangen, dass die Men­schen auf dem Platz etwas ganz anderes wollen. Sie haben sich bereits sichtbar vom Sozia­lismus ver­ab­schiedet, nur die Intel­lek­tu­ellen wollen es nicht wahrhaben.
Während auf der Tribüne unver­drossen für den Sozia­lismus geworben wird, ver­ab­schieden sich die Men­schen auf dem Platz mit Sprech­chören und Trans­pa­renten von der SED, ihren Wen­de­ma­növern und dem „rich­tigen“ Sozialismus.
„Der Sozia­lismus in der DDR steht zur Dis­po­sition“, ist in Abwandlung eines Krenz-Spruchs zu lesen. Und. „Es lebe die Straße“. Damit machen die Men­schen klar, dass sie ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen haben und sich von nie­mandem mehr vor­schreiben lassen wollen, was sie tun und lassen dürfen. Wenn die Sonne ab und zu durch die Wolken bricht, ertönt sofort der Ruf: „Rei­se­wetter, Rei­se­wetter“! Gegenüber Egon Krenz sind die Demons­tranten unmiss­ver­ständlich: „Zirkus Krenz – die Vor­stellung ist aus“, „Abschaffung der Krenz-Truppe“, „Krenz-Xiaoping? – Nein, danke!“.
Auch die Debatte über die füh­rende Rolle der SED ist auf dem Alex­an­der­platz längst ent­schieden: „SED in die Oppo­sition“, „SED-Ade!“ und: „8, 9, 10 – SED kann geh’n!“
Auf­merk­samen poli­ti­schen Beob­achtern hätte es spä­testens am 4. November 1989 dämmern müssen, dass es mit der DDR vorbei war.


Dass die SED nicht gegangen ist, sondern heute nach vier Namens­wechseln immer noch unter uns ist, haben wir Gregor Gysi zu ver­danken, der ihre Auf­lösung erfolg­reich ver­hindert und ihr Ver­mögen gesi­chert hat.
Wie soll sein „Zeit­zeu­gen­be­richt“ aus­sehen? Will er seine Bemü­hungen, die DDR und die SED zu erhalten, recht­fer­tigen? Wird er ver­suchen Geschichts­fäl­schung zu betreiben mit der Behauptung, die SED-Reformer wären eine ent­schei­dende Kraft in der Fried­lichen Revo­lution gewesen?
Aber egal, was der ehe­malige SED-Chef sagen wird, es ist auf jeden Fall ein Schlag ins Gesicht der Men­schen, die das SED-Regime zu Fall gebracht und die Ver­ei­nigung erzwungen haben.
Mehr im 1989 – Tagebuch der Fried­lichen Revo­lution.