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In Öster­reichs staats(bürgerschafts)rechtlicher Souveränität

Wie es um den Dop­pelpass für Tiroler südlich des Brenners steht
(von Reynke de Vos)
Vor gut ein­einhalb Jahren deutete sich für einen Teil der soge­nannten Alt­ös­ter­reicher eine poli­tische Großtat andeutete. Erstmals schien es, als könnten hundert Jahre nach Annexion des süd­lichen Tiroler Lan­des­teils durch Italien (1918) Süd­ti­roler die Chance  auf Wie­der­erlangung der öster­rei­chi­schen Staats­bür­ger­schaft erhalten, derer ihre Vor­fahren mit der in St. Germain-en-Laye voll­zo­genen dik­tat­frie­dens­ver­trag­lichen Über­eignung ihrer Heimat an den Stie­fel­staat (1919) ver­lustig gegangen waren. Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Welt­kriegs hatte sich eine öster­rei­chische Bun­des­re­gierung dazu ent­schlossen, dem schon seit 2010 immer mal wieder ver­nehm­lichen, aber meist wieder durch unwillige poli­tische Kräfte in Wien mittels allerlei Aus­flüchten zurück­ge­wie­senen, ent­sagten oder zer­re­deten  Begehr endlich zum Durch­bruch zu verhelfen.
So stellte die aus der Natio­nal­ratswahl im Herbst 2017 her­vor­ge­gangene  türkis-blaue Koalition die Mög­lichkeit des Erwerbs der öster­rei­chi­schen Staats­bür­ger­schaft für Süd­ti­roler – und andere Alt­ös­ter­reicher – in Aus­sicht. Im Koali­ti­ons­ab­kommen, respektive Regie­rungs­über­ein­kommen wurde dies unter Punkt „Dop­pel­staats­bür­ger­schaft neu denken“ näher aus­ge­führt: „Dop­pel­staats­bür­ger­schaft Süd­tirol und Alt-Öster­reicher: Im Geiste der euro­päi­schen Inte­gration und zur För­derung einer immer engeren Union der Bür­ge­rinnen und Bürger der Mit­glied­staaten wird in Aus­sicht genommen, den Ange­hö­rigen der Volks­gruppen deut­scher und ladi­ni­scher Mut­ter­sprache in Süd­tirol, für die Öster­reich auf der Grundlage des Pariser Ver­trages und der nach­fol­genden spä­teren Praxis die Schutz­funktion ausübt, die Mög­lichkeit ein­zu­räumen, zusätzlich zur ita­lie­ni­schen Staats­bür­ger­schaft die öster­rei­chische Staats­bür­ger­schaft zu erwerben.“ 
Dass es über­haupt zu dieser Fest­legung kam, ist maß­geblich der Initiative der FPÖ zuzu­schreiben. Vor allem Werner Neu­bauer, einer ihrer Natio­nal­rats­ab­ge­ord­neten,  hatte das Thema seit Jahren  in Par­lament und Öffent­lichkeit  lan­ciert und  seinen Ein­fluss geltend gemacht, damit es die damalige Par­tei­führung in den Ver­hand­lungen mit der ÖVP als Koali­ti­ons­be­dingung  reklamierte.
Die „türkise“ Kanz­ler­partei  stand dieser Frage reser­viert bis ablehnend gegenüber. Gewisse „Granden“ aus dem „schwarzen“ Teil der Volks­partei suchten unter Berufung auf das Risiko einer kli­ma­ti­schen Störung des bila­te­ralen Ver­hält­nisses mit Italien das Vor­haben offen zu hin­ter­treiben. Ablehner und Skep­tiker sahen, begünstigt vom ambi­va­lenten Ver­halten der (damals neuen und oft den Ein­druck einer gewissen „Ita­lianità her­vor­ru­fenden)  Führung der (seit 1945 regie­renden) Süd­ti­roler ÖVP-„Schwester“ SVP  Gefahren  für das eth­nische Neben- und Mit­ein­ander  und sagten eil­fertig eine „Spaltung der Gesell­schaft“ voraus. Amts­träger wie bei­spiels­weise die Lan­des­haupt­leute  Tirols (Günter Platter) und der ita­lie­ni­schen Pro­vincia Autonoma di Bolzano Alto Adige (Arno Kom­patscher), glichen in ihren Äuße­rungen gegenüber Medien oder in for­mellen  Ver­laut­ba­rungen  bis­weilen dem  je nach Lage und Situation die Farben wech­selnden Chamäleon.
In Öster­reich waren die Oppo­si­ti­ons­par­teien und der größte Teil der für die ver­öf­fent­lichte Meinung sor­genden Medien gegen „die Dop­pel­staats­bür­ger­schaft, in Süd­tirol die „inter­eth­ni­schen“ Grünen sowie die ita­lie­ni­schen Land­tags­par­teien. Und in Rom sprachen sich vom Staats­prä­si­denten über gewichtige Ver­treter der – ein­ander nach den Kammer- und Senats­wahlen im Frühjahr 2018 ablö­senden – Regie­rungen und Par­teien, ein­schließlich der erstarkten und nunmehr wieder in Oppo­sition befind­lichen  Lega, auf die in Wien haupt­sächlich die FPÖ setzt(e), in zum Teil dras­ti­schen Stel­lung­nahmen gegen das Vor­haben aus.
Unge­achtet dessen stimmte der Süd­ti­roler Landtag mehr­heitlich für den haupt­sächlich von den drei deutsch­ti­roler Oppo­si­ti­ons­par­teien getra­genen for­mellen Antrag an Natio­nalrat und Regierung in Wien auf Schaffung der Mög­lichkeit zur Erteilung der öster­rei­chi­schen Staats­bür­ger­schaft für anspruchs­be­rech­tigte und bean­tra­gungs­willige Süd­ti­roler. Darüber hinaus ver­schafften 27 soge­nannte „Alt­man­datare“ der SVP – u.a. des lang­jäh­rigen Lan­des­haupt­manns a.D. Luis Durn­walder, des vor­ma­ligen Kul­tur­lan­desrats Bruno Hosp, des frü­heren Par­tei­ob­manns Sieg­fried Brugger, und nicht zuletzt des expo­nierten frü­heren Land­tags­ab­ge­ord­neten und Regio­nal­rats­prä­si­denten Franz Pahl – als Unter­zeichner eines an Kanzler (und ÖVP-Obmann) Sebastian Kurz sowie Vize­kanzler (und FPÖ-Obmann) Heinz Christian Strache gerich­teten gleich­lau­tenden Schreibens dem for­mellen Süd­ti­roler Begehr ein zusätz­liches Gewicht. Damit konnte  der miss­günstige Ein­druck geglättet werden, den die SVP-Fraktion im Bozner Landhaus  hin­ter­lassen hatte, weil nicht alle ihre Man­dats­träger den mehr­heitlich zustande gekom­menen und als for­mellen Wunsch Süd­tirols nach Wien über­mit­telten Land­tags­be­schluss mit­ge­tragen hatten. Zudem erklärten reihum die Oberen  gesell­schaft­licher Grup­pie­rungen – des Auto­nomen Gewerk­schaftsbund, des Bau­ern­bunds, des Hei­mat­bunds, des Schüt­zen­bunds und anderer mehr – ihr Ein­ver­ständnis und bekun­deten den Wunsch nach Ermög­li­chung der Doppelstaatsbürgerschaft.
Dass sich Rom nicht nur quer­legte, sondern geradezu ein Getöse ent­fachte, welches über den Alpen­hauptkamm hinweg bis an die Donau Wellen schlug, war nach anfänglich eher mode­rater Zurück­haltung nicht in dieser Dimension zu erwarten gewesen. Doch alsbald gewannen die alt­be­kannten Reflexe  die Oberhand, woraus im Grunde der von links bis rechts des Tibers stets ver­nehmbare dok­trinäre, aber his­to­risch-poli­tisch ver­fehlte Anspruch wieder durch­schlug, wonach alles, was Süd­tirol angehe, eine „rein ita­lie­nische Ange­le­genheit“ sei. Dies trotz Pariser Abkommens, trotz Auto­nomie-Sta­tuten, ver­briefter Kom­mis­sionen und – UN-begüns­tigter sowie ver­trags­rechtlich  aner­kannter — Schutz(macht)funktion Öster­reichs für Südtirol(er).
Die römische Ablehnung des Wiener Vor­habens fand ihren  Gip­fel­punkt in einem Interview des  „starken Mannes“ der dama­ligen ita­lie­ni­schen Regierung, Innen­mi­nister Matteo Salvini. Kur­zerhand befand der Lega-Chef  sei­nerzeit: „Sie können nicht ohne unsere Zustimmung Pässe aus­geben“, und machte mit dem Zusatz „Eine dop­pelte Staats­bür­ger­schaft wird es nicht geben“ seine Kon­zi­lianz zunichte, die er Wochen zuvor nach einem Treffen mit dem dama­ligen Vize­kanzler und FPÖ-Obmann Strache gezeigt hatte, als er in der anschlie­ßenden Pres­se­kon­ferenz  sagte „Wir werden schon eine gemeinsame Lösung finden“. 
Zu diesem Klad­de­ra­datsch (auf „öster­rei­chisch“ Pala­watsch)  trug  auch eine gewisse Selbst­fes­selung bei, welche durch Äuße­rungen von Kanzler Kurz und Stel­lung­nahmen der – auf FPÖ-Vor­schlag zur Res­sort­chefin avan­cierten – par­tei­losen Außen­mi­nis­terin Karin Kneissl her­vor­ge­rufen worden war, wonach das Projekt Staats­bür­ger­schaft für Süd­ti­roler „ im Ein­ver­nehmen mit Italien“ rea­li­siert werden solle. Es hätte beiden klar sein müssen, dass sich Öster­reich damit seiner von nie­mandem beein­spruch­baren, absolut sou­ve­ränen Ent­scheidung darüber begibt. Alle Rechts­gut­achten weisen aus, dass allein Öster­reich für diese Ange­le­genheit Zustän­digkeit bean­spruchen kann; es ist dazu nicht einmal eine Ver­fas­sungs­än­derung not­wendig, sondern es genügt eine durch ein­fachen mehr­heit­lichen Natio­nal­rats­be­schluss her­bei­ge­führte Novellierung/Ergänzung des gel­tenden Staats­bür­ger­schafts­ge­setzes. Im Übrigen hat gerade Italien am wenigsten Grund zum Ein­spruch, hat es doch schon in den 1990er Jahren allen eth­ni­schen Ita­lienern seiner Nach­bar­staaten sowie den Nach­kommen einst nach Übersee aus­ge­wan­derter Ita­liener, die dies wollten, seine Staats­bür­ger­schaft erteilt, ohne mit den betref­fenden Staaten  „Ein­ver­nehmen“ darüber her­zu­stellen – Rom hat sie nicht einmal informiert.
Die in Wien zum Zwecke der Erar­beitung eines Geset­zes­ent­wurfs ein­ge­setzten Experten unter­brei­teten ihren Auf­trag­gebern schon nach drei Kom­mis­si­ons­sit­zungen bereits ihre Vor­schläge. Das war im Sep­tember 2018, mithin vor einem Jahr. Doch während des seit 1. Juli lau­fenden Halb­jahres-EU-Rats­vor­sitzes Öster­reichs, bei dem „Brexit“ mehr oder weniger im Mit­tel­punkt stand, wollte Wien – dem Usus folgend, als „ehr­licher Makler auf­zu­treten“ – die Ange­le­genheit  nicht mit (EU-Grün­dungs­mit­glied) Italien erörtern. Zudem wählten die Süd­ti­roler im Herbst einen neuen Landtag;  aus dem Wahl­kampf hielten die Par­teien das Thema weit­gehend heraus. Auch danach blieb die „Causa Dop­pel­staats­bür­ger­schaft“ in Wien unter Ver­schluss und die Geset­zes­expertise der Kom­mission  im Schub­laden. Schließlich ließen die Wirbel um „Ibiza“, Kurz‘ (frag­würdige, weil ohne wirk­liche Not getroffene Ent­scheidung zur) Auf­kün­digung der Koalition, seine kür­zest­lebige Wochenend-Über­gangs­re­gierung, deren par­la­men­ta­rische Abwahl sowie das bis nach der Natio­nal­ratswahl  bestehende poli­tische Inter­regnum einer Beam­ten­re­gierung das Thema von der Agenda verschwinden.
Ob es nach der Wahl (29. Sep­tember)  wieder auf die Tages­ordnung gelangt und dann auch wirklich im Staats­bür­ger­schafts­gesetz sowie im Staats­an­zeiger seinen Nie­der­schlag findet, wird ent­scheidend davon abhängen, wer die künftige Regierung bildet. Wobei schon jetzt für die Süd­ti­roler, denen es zum öster­rei­chi­schen Pass ver­helfen und damit auch zur Ver­ge­wis­serung und Fes­tigung ihrer Iden­tität als öster­rei­chische Min­derheit bei­tragen soll, der vor hundert Jahren die fremd­na­tionale Umgebung auf­ge­zwungen wurde, ebenso klar ist wie für alle an der Sache Inter­es­sierten:  Allen­falls unter einer neu­er­lichen türkis-blauen Regie­rungs­ko­alition dürfte dies möglich werden.