Nächste Woche ist es wieder so weit. Mit ernstem Blick wird der scheidende Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi über die unzureichende Inflation und das schwächelnde Wachstum in der Eurozone klagen und damit eine weitere Runde expansiver Geldpolitik begründen. Dabei waren nicht wenige Beobachter noch vor einigen Monaten davon ausgegangen, Draghi würde zum Ende seiner Amtszeit höchst selbst die Abkehr von der Droge billigen Geldes verkünden. Eine naive Annahme, wie sich jetzt zeigt.
Stattdessen erleichtert er seiner Nachfolgerin Christine Lagarde den Arbeitsbeginn. Geöffnete Geldschleusen, die sie nur noch mehr aufstoßen muss – und wird. Dabei wäre es an der Zeit, die Geldpolitik der letzten Jahrzehnte zu stoppen.
„Whatever it takes“ war taktisch richtig
Bevor ich aufzeige, wie uns die Politik der EZB, der Fed und der anderen Zentralbanken in das Desaster führt, sei erwähnt, dass das Versprechen Mario Draghis „alles Erdenkliche“ zu tun, um den Euro zu erhalten, absolut richtig gewesen ist. Ohne das Bekenntnis, mit allen Mitteln zu intervenieren wäre der Euro schon längst Geschichte. Dabei wäre er in einem chaotischen Prozess zerfallen und der Schaden für Weltwirtschaft- und ‑finanzsystem wäre erheblich gewesen.
- Der Euro hat nicht zu einer Konvergenz, sondern zu einer Divergenz der Mitgliedsländer geführt.
- Einige Ländern sind demzufolge nicht in der Lage, innerhalb des Euro die Wettbewerbsfähigkeit wieder zu erlangen und bleiben gefangen in einem Umfeld geringen Wachstums.
- Die Verschuldung von Staaten und Privaten hat in den ersten Jahren des Euro in den heutigen Krisenländern und Frankreich stark zugenommen und hat damit nicht nur die Divergenz zwischen den Ländern weiter befördert, sondern lastet heute auch auf der Eurozone. Verbunden damit ist ein völlig überdimensioniertes und unterkapitalisiertes Bankensystem.
- Eine weitere Integration der Eurozone bis hin zu einem gemeinsamen Finanzminister und Budget, wie von der französischen Seite immer gefordert, würde an der Situation nichts ändern, da die erforderlichen Transfers die Leistungsfähigkeit Deutschlands übersteigen. Ohnehin zeigen Studien des IWF, dass es auf private Kapitalströme ankommt, wenn man Krisen bekämpfen will, staatliche Mittel können dies nicht bewältigen.
- Was zur Lösung der Eurokrise führt, die nur in einer Bereinigung der faulen Schulden, einer Sanierung des Bankensystems und einer Neuordnung der Mitgliedschaft liegen kann.
So blieb Mario allein zuhause und die Probleme wuchsen immer weiter an. Es verwundert auch nicht, dass mit Christine Lagarde nun auch offiziell eine Politikerin die Leitung der EZB übernimmt. Selbst wenn man ihre Jahre beim IWF als Lehrjahre anerkennt, ist doch angesichts ihrer dortigen Bilanz offensichtlich, dass sie eindeutig dem Primat der Politik folgt. Und dies kann bei der EZB nur heißen: weiter so!
Zentralbanken führen in den Sozialismus
Dabei ist die EZB mit ihrer einseitigen Politik nicht allein. Seit den 1980er-Jahren kennen die Zinsen weltweit nur eine Richtung: nach unten. Wann immer es eine Turbulenz an den Finanzmärkten und in der Wirtschaft gab, haben die Notenbanken gehandelt und die Zinsen gesenkt. Mit einer – wie es die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) nennt – „asymmetrischen“ Reaktion wurden die Zinsen immer gesenkt, jedoch nie wieder auf das ursprüngliche Niveau gehoben.
Damit haben die Notenbanken die Schuldner der Welt, egal ob sie mit den Schulden investiert, konsumiert oder spekuliert haben, immer wieder aus der Patsche geholfen. Bald war klar, dass die ursprünglich mit Blick auf den Aktienmarkt „Greenspan-Put“ genannte Absicherung durch die Notenbank für alle Schuldner galt. Folge war ein historisch einmaliger Schuldenanstieg, der bis heute andauert, und der wiederum eine immer weitergehende Senkung der Zinsen erforderlich macht, nur um die Illusion der Bedienbarkeit der bestehenden Schulden aufrechtzuerhalten. Oder um es erneut mit den Worten der BIZ zu sagen: Die Zinsen müssen morgen noch tiefer sein, weil sie heute schon tief sind.
Damit führen die Zentralbanken der Welt direkt in einen monetären Sozialismus. Denn was ist es, wenn die wichtigste Restriktion des Kapitalismus, die Budgetrestriktion entfällt? Die Staaten sparen jedes Jahr Milliarden an Zinsausgaben – allein zwischen 2009 und 2018 auf Bundesebene rund 140 Milliarden Euro. Den Banken genügt es, wenn ihre Schuldner noch die Zinsen bedienen können, was zu einem sprunghaften Anstieg an Zombies bei Banken und Unternehmen führt. Und Spekulanten drehen ein immer größeres Rad. Dabei gehören knappe Ressourcen und vor allem auch das Risiko, bei falschen Entscheidungen Konkurs zu machen, zwingend zum Kapitalismus.
Die Finanzkrise von 2009 wie auch die nächste Krise sind demzufolge nicht das Ergebnis von „Marktversagen“, wie die Politik dann erneut behaupten wird, sondern von der Abschaffung grundlegender marktwirtschaftlicher Prinzipien. Dafür trägt neben den Notenbanken auch die Politik Hauptverantwortung, hat sie doch staatliche und private Schuldenwirtschaft zum Rezept gegen jede Art von kurzfristigem Schmerz gemacht.
Vermögende und Hausbesitzer jubeln, Mieter und Sparer zahlen drauf
Dabei fühlt sich der monetäre Sozialismus zunächst gut an, so wie Sozialismus aller Art am Anfang. Der Mietendeckel in Berlin beispielsweise dürfte in den ersten Jahren durchaus populär sein, zeigen sich die negativen Folgen – Vetternwirtschaft, weniger Investitionen, Verfall der Gebäudesubstanz und letztlich noch mehr Mangel und deutlich höhere Mieten – erst nach einigen Jahren.
Der monetäre Sozialismus wirkt anders. Nicht nur nimmt er den Schuldnern immer mehr das Risiko, er bewirkt zusätzlich steigende Vermögenspreise und Geldvermögen. Neue Schulden führen zu immer mehr Geld, weil die Banken mit jedem Kreditschöpfungsakt neues Geld schaffen, neue Ansprüche auf Wertschöpfung in der Wirtschaft. In der Folge sprechen Ökonomen wie Larry Summers von einem zunehmenden „Ersparnisüberhang“, der hinter der erlahmenden Wirtschaftsleistung steht. In Wirklichkeit sind es die vielen zunehmend unproduktiv verwendeten Schulden, die das Wirtschaftswachstum immer mehr erdrücken. Die „säkulare Stagnation“ ist die Folge von zu vielen Schulden, dem Spiegelbild der vielen Ersparnisse.
Auf die Vermögenspreise wirken die neuen Schulden wie ein Turbo. Die Möglichkeit mit Kredit, Vermögenswerte zu kaufen, führt zu steigender Nachfrage und Preisen, was wiederum zu einem höheren Beleihungswert und damit zu noch mehr Nachfrage führt. Nichts beleihen Banken so gern wie Immobilien, weshalb es nur konsequent ist, dass die Preise von Immobilien weltweit mit der zunehmenden Verschuldung gestiegen sind, wie Moritz Schularick von der Universität Bonn in einer Studie vorrechnet.
Deshalb gibt es auch so viele Freunde der vorhandenen Ordnung: all jene, die Vermögenswerte besitzen und mit Kredit arbeiten können – seien es Private oder Politiker. Sie profitieren von der faktisch unbegrenzten Möglichkeit der Banken, Geld zu schaffen bei gleichzeitiger Rückversicherung der Notenbanken.
Negativzinsen geben der Wirtschaft den Rest
Spaß macht diese Entwicklung nur, solange sie funktioniert. Womit wir bei der aktuellen Problemstellung der Notenbanken – nicht nur der EZB, sondern faktisch der Notenbanken der westlichen Welt – wären: Was tun, wenn man bei null angekommen ist? Klar, man beginnt mit dem direkten Aufkauf von Schulden – „Wertpapiere“ genannt – und ist dabei immer weniger zimperlich, was die Qualität betrifft und man drückt die Zinsen unter null.
Warum nicht die Zinsen auf minus drei bis vier Prozent drücken, wenn es doch dazu dient, die Wirtschaft zu beleben und vor allem eine Deflation zu verhindern? Letztere wäre der Supergau für das System, führen fallende Preise doch dazu, dass die Illusion der bedienbaren Schulden platzt.
In der Theorie spricht wenig dagegen. Ja, die Bürger können dann auf Bargeld oder Gold ausweichen. Doch dem begeht man mit der Einschränkung von Bargeld- und Goldbesitz, am besten unter dem Deckmantel der Verhinderung von Geldwäsche und Schwarzgeschäften. Nur so ergeben die diversen Überlegungen zur Beststeuerung von Bargeld und den verschärften Meldepflichten einen Sinn.
Denn andererseits wissen Ökonomen nur zu gut, dass es eben nicht die gewünschte realwirtschaftliche Wirkung hat, die Zinsen in den Negativbereich zu treiben, wie von den Notenbankern behauptet. So zeigen Analysten der Fed-Niederlassung in San Francisco in einer Studie auf, dass die Negativzinsen in Japan statt zu höheren Inflationserwartungen zur Erwartung schneller fallender Preise geführt haben. So zeigt eine aktuelle Studie der Universität Bath, dass Negativzinsen zu geringerer Kreditvergabe führen und die Solvenzprobleme der Banken verschärfen. Dass die Notenbanker dennoch konsequent diesen Weg gehen, macht überdeutlich, worum es ihnen eigentlich geht: nicht darum Deflation und Stagnation zu bekämpfen, sondern den Kollaps der Schulden-Vermögens-Blase zu verhindern.
Und dabei gilt schon längst: jeder gegen jeden. Denn die Wirksamkeit der Medizin „billiges Geld“ ist schon lange verpufft. Um überhaupt noch die Illusion der Wirksamkeit auf die Realwirtschaft aufrechtzuerhalten, bedurfte es des Abwertungseffekts. In der Eurozone hat das gut funktioniert, wertete der Euro in den letzten Jahren doch deutlich ab. Dies und nicht die Brillanz hiesiger Politik steht hinter der guten Exportkonjunktur der letzten Jahre. Wer zuerst abwertet, ist der Gewinner, galt in den 1930er-Jahren und gilt auch heute. Nur droht jetzt der Gegenschlag der US-Regierung unter Donald Trump, die entweder den Dollar abwerten wird oder aber, wenn dies nicht gelingt, Strafzölle gegen deutsche Autos verhängt. Blickt man auf die aktuelle Zinsdifferenz, ist klar, dass die USA für eine Intensivierung des Währungskrieges deutlich besser gerüstet sind. Fallen die Zinsen in den USA, wie von einigen Auguren erwartet, im Zuge der kommenden Rezession ebenfalls unter null, dürfte der Dollar deutlich abwerten und die EZB hätte wenig Möglichkeiten, dagegenzuhalten. Spätestens dann wäre die Eurokrise wieder für jeden offensichtlich akut.
Die Finanzwirtschaft ruft „mehr!“
Kein Wunder, dass die Finanzwirtschaft wittert, dass die guten Zeiten sich unweigerlich dem Ende nähern. Die Geldpolitik verliert ihre Wirksamkeit und damit fehlt der entscheidende Treibstoff für die Vermögenswerte weltweit. Kommen die Märkte ins Rutschen, könnte es diesmal sein, dass die Medizin nicht mehr wirkt. Deshalb – und wohl wirklich nur deshalb – fordern anerkannte Branchengrößen wie BlackRock, dass die Notenbanken dazu übergehen sollen, Aktien zu kaufen. Die Bank of Japan tut dies schon seit Jahren und besitzt fast vier Prozent der Tokioter Börse. Ohne spürbaren Erfolg für die Kursentwicklung übrigens. Die Schweizer SNB ist ebenfalls Großaktionär führender Unternehmen wie Apple.
Konsequent zu Ende gedacht würde der Notenbank-Sozialismus damit zur Verstaatlichung der Wirtschaft führen. Kevin Kühnert dürfte es freuen. Er müsste dann nur noch die Notenbank ganz offen unter staatliche Kontrolle stellen. Eine Entwicklung, die auch ohne sein Zutun zu erwarten ist.
Mit dem Kauf von Aktien ist es aber nicht getan. BlackRock fordert nun auch den Einstieg in die direkte Finanzierung von Staaten und ist damit nicht mehr weit von den Ideen der sogenannten „Modern Monetary Policy“ (MMT) entfernt, die, wie bereits früher an dieser Stelle erklärt, weder modern noch monetär ist, sondern nichts anderes als eine Wiederauflage der Geldpolitik Venezuelas, Mosambik und Weimar-Deutschlands.
Zu kritisieren ist das nicht. Es ist nur konsequent. Angesichts der Schulden- und Vermögensblasen, der Tatsache, dass rund 20 Billionen Anleihen weltweit mit Negativzins notieren und ein Einbruch an den Finanzmärkten katastrophale Wirkungen hätte, muss man alles auf eine massive Monetarisierung der Schulden verbunden mit deutlicher Inflation setzen. Problem dabei ist bisher nur: Es will nicht klappen.
Falsche Lehre aus der Großen Depression
Die Notenbanken betonen immer wieder, aus den damaligen Fehlern gelernt zu haben. Es gilt als Gemeingut, dass es nur zur Großen Depression kam, weil die Notenbanken zu spät die Zinsen gesenkt hätten und damit die Krise erst entstanden wäre. So wurde auch beim alljährlichen Notenbanker-Treffen in Jackson Hole argumentiert. Die US-Fed hätte 2009 schneller und konsequenter reagiert und nur so eine Wiederholung der Depression verhindert.
Eine überaus optimistische Einschätzung. Damals gelang es erst mit der Aufrüstung für den Weltkrieg und durch die erhebliche finanzielle Repression der Nachkriegsjahre – das Zinsniveau wurde künstlich deutlich unter der Wachstumsrate der Wirtschaft gedrückt – aus der Krise zu kommen. Heute haben wir die Krise nicht überwunden, sondern sie nur mit noch billigerem Geld unterdrückt.
Vorstellen kann man sich das so: Die Notenbanken drücken den Schulden-Ballon unter Wasser, damit er nicht zum Problem wird. Derweil wird dieser Ballon jedes Jahr größer und drückt mehr an die Oberfläche. Nur durch noch mehr Druck kann er unter Wasser gehalten werden, nur bläht er sich umso mehr auf, je mehr man ihn unter Wasser drückt. Irgendwann kann ihn die Notenbank nicht mehr halten und er schießt mit aller Macht nach oben.
Dann haben wir die Krise mit voller Wucht. Je höher die Schulden und der Verschuldungsgrad – Leverage – im System, desto größer der deflationäre Druck. Das wissen wir seit der Großen Depression und der immer noch gültigen Erklärung durch Irving Fisher. In seiner Schulden-Deflations-Theorie großer Depressionen erklärt er den desaströsen Ablauf. Im Kern ist es nichts anders als ein gigantischer Margin Call.
Diesen versuchen die Notenbanken seit Jahren zu verhindern und machen damit das Problem immer größer. Mit jeder weiteren Rettungsaktion pumpen sie den Ball weiter auf und legen damit die Grundlage für die größte Schulden-Deflation aller Zeiten. Es ist eine große Wette: Gelingt es ihnen (doch noch) eine hohe Inflation zu erzeugen und damit einen etwas schmerzfreieren Weg zur Entschuldung zu finden oder platzt die Blase? Klar ist auf jeden Fall, dass es einen freiwilligen Ausstieg aus dem Spiel nicht geben wird. All-in ist das Motto. Dumm nur, dass wir da unfreiwillig mitspielen müssen.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.