Noten­bankso­zia­lismus

Zehn­jährige deutsche Staats­an­leihen bringen weniger als die japa­ni­schen Pen­dants. Klarer kann man nicht zeigen, wie weit wir schon auf dem Weg in unser eigenes „japa­ni­sches Sze­nario“ von Deflation und Sta­gnation sind.

Nächste Woche ist es wieder so weit. Mit ernstem Blick wird der schei­dende Prä­sident der Euro­päi­schen Zen­tralbank (EZB) Mario Draghi über die unzu­rei­chende Inflation und das schwä­chelnde Wachstum in der Eurozone klagen und damit eine weitere Runde expan­siver Geld­po­litik begründen. Dabei waren nicht wenige Beob­achter noch vor einigen Monaten davon aus­ge­gangen, Draghi würde zum Ende seiner Amtszeit höchst selbst die Abkehr von der Droge bil­ligen Geldes ver­künden. Eine naive Annahme, wie sich jetzt zeigt.
Statt­dessen erleichtert er seiner Nach­fol­gerin Christine Lagarde den Arbeits­beginn. Geöffnete Geld­schleusen, die sie nur noch mehr auf­stoßen muss – und wird. Dabei wäre es an der Zeit, die Geld­po­litik der letzten Jahr­zehnte zu stoppen.
„Wha­tever it takes“ war tak­tisch richtig
Bevor ich auf­zeige, wie uns die Politik der EZB, der Fed und der anderen Zen­tral­banken in das Desaster führt, sei erwähnt, dass das Ver­sprechen Mario Draghis „alles Erdenk­liche“ zu tun, um den Euro zu erhalten, absolut richtig gewesen ist. Ohne das Bekenntnis, mit allen Mitteln zu inter­ve­nieren wäre der Euro schon längst Geschichte. Dabei wäre er in einem chao­ti­schen Prozess zer­fallen und der Schaden für Welt­wirt­schaft- und ‑finanz­system wäre erheblich gewesen.

  • Der Euro hat nicht zu einer Kon­vergenz, sondern zu einer Divergenz der Mit­glieds­länder geführt.
  • Einige Ländern sind dem­zu­folge nicht in der Lage, innerhalb des Euro die Wett­be­werbs­fä­higkeit wieder zu erlangen und bleiben gefangen in einem Umfeld geringen Wachstums.
  • Die Ver­schuldung von Staaten und Pri­vaten hat in den ersten Jahren des Euro in den heu­tigen Kri­sen­ländern und Frank­reich stark zuge­nommen und hat damit nicht nur die Divergenz zwi­schen den Ländern weiter befördert, sondern lastet heute auch auf der Eurozone. Ver­bunden damit ist ein völlig über­di­men­sio­niertes und unter­ka­pi­ta­li­siertes Bankensystem.
  • Eine weitere Inte­gration der Eurozone bis hin zu einem gemein­samen Finanz­mi­nister und Budget, wie von der fran­zö­si­schen Seite immer gefordert, würde an der Situation nichts ändern, da die erfor­der­lichen Transfers die Leis­tungs­fä­higkeit Deutsch­lands über­steigen. Ohnehin zeigen Studien des IWF, dass es auf private Kapi­tal­ströme ankommt, wenn man Krisen bekämpfen will, staat­liche Mittel können dies nicht bewältigen.
  • Was zur Lösung der Euro­krise führt, die nur in einer Berei­nigung der faulen Schulden, einer Sanierung des Ban­ken­systems und einer Neu­ordnung der Mit­glied­schaft liegen kann.

So blieb Mario allein zuhause und die Pro­bleme wuchsen immer weiter an. Es ver­wundert auch nicht, dass mit Christine Lagarde nun auch offi­ziell eine Poli­ti­kerin die Leitung der EZB über­nimmt. Selbst wenn man ihre Jahre beim IWF als Lehr­jahre aner­kennt, ist doch ange­sichts ihrer dor­tigen Bilanz offen­sichtlich, dass sie ein­deutig dem Primat der Politik folgt. Und dies kann bei der EZB nur heißen: weiter so!
Zen­tral­banken führen in den Sozialismus
Dabei ist die EZB mit ihrer ein­sei­tigen Politik nicht allein. Seit den 1980er-Jahren kennen die Zinsen weltweit nur eine Richtung: nach unten. Wann immer es eine Tur­bulenz an den Finanz­märkten und in der Wirt­schaft gab, haben die Noten­banken gehandelt und die Zinsen gesenkt. Mit einer – wie es die Bank für Inter­na­tio­nalen Zah­lungs­aus­gleich (BIZ) nennt – „asym­me­tri­schen“ Reaktion wurden die Zinsen immer gesenkt, jedoch nie wieder auf das ursprüng­liche Niveau gehoben.
Damit haben die Noten­banken die Schuldner der Welt, egal ob sie mit den Schulden inves­tiert, kon­su­miert oder spe­ku­liert haben, immer wieder aus der Patsche geholfen. Bald war klar, dass die ursprünglich mit Blick auf den Akti­en­markt „Greenspan-Put“ genannte Absi­cherung durch die Notenbank für alle Schuldner galt. Folge war ein his­to­risch ein­ma­liger Schul­den­an­stieg, der bis heute andauert, und der wie­derum eine immer wei­ter­ge­hende Senkung der Zinsen erfor­derlich macht, nur um die Illusion der Bedien­barkeit der bestehenden Schulden auf­recht­zu­er­halten. Oder um es erneut mit den Worten der BIZ zu sagen: Die Zinsen müssen morgen noch tiefer sein, weil sie heute schon tief sind.
Damit führen die Zen­tral­banken der Welt direkt in einen mone­tären Sozia­lismus. Denn was ist es, wenn die wich­tigste Restriktion des Kapi­ta­lismus, die Bud­get­re­striktion ent­fällt? Die Staaten sparen jedes Jahr Mil­li­arden an Zins­aus­gaben – allein zwi­schen 2009 und 2018 auf Bun­des­ebene rund 140 Mil­li­arden Euro. Den Banken genügt es, wenn ihre Schuldner noch die Zinsen bedienen können, was zu einem sprung­haften Anstieg an Zombies bei Banken und Unter­nehmen führt. Und Spe­ku­lanten drehen ein immer grö­ßeres Rad. Dabei gehören knappe Res­sourcen und vor allem auch das Risiko, bei fal­schen Ent­schei­dungen Konkurs zu machen, zwingend zum Kapitalismus.
Die Finanz­krise von 2009 wie auch die nächste Krise sind dem­zu­folge nicht das Ergebnis von „Markt­ver­sagen“, wie die Politik dann erneut behaupten wird, sondern von der Abschaffung grund­le­gender markt­wirt­schaft­licher Prin­zipien. Dafür trägt neben den Noten­banken auch die Politik Haupt­ver­ant­wortung, hat sie doch staat­liche und private Schul­den­wirt­schaft zum Rezept gegen jede Art von kurz­fris­tigem Schmerz gemacht.

Ver­mö­gende und Haus­be­sitzer jubeln, Mieter und Sparer zahlen drauf

Dabei fühlt sich der monetäre Sozia­lismus zunächst gut an, so wie Sozia­lismus aller Art am Anfang. Der Mie­ten­deckel in Berlin bei­spiels­weise dürfte in den ersten Jahren durchaus populär sein, zeigen sich die nega­tiven Folgen – Vet­tern­wirt­schaft, weniger Inves­ti­tionen, Verfall der Gebäu­de­sub­stanz und letztlich noch mehr Mangel und deutlich höhere Mieten – erst nach einigen Jahren.
Der monetäre Sozia­lismus wirkt anders. Nicht nur nimmt er den Schuldnern immer mehr das Risiko, er bewirkt zusätzlich stei­gende Ver­mö­gens­preise und Geld­ver­mögen. Neue Schulden führen zu immer mehr Geld, weil die Banken mit jedem Kre­dit­schöp­fungsakt neues Geld schaffen, neue Ansprüche auf Wert­schöpfung in der Wirt­schaft. In der Folge sprechen Öko­nomen wie Larry Summers von einem zuneh­menden „Erspar­nis­überhang“, der hinter der erlah­menden Wirt­schafts­leistung steht. In Wirk­lichkeit sind es die vielen zunehmend unpro­duktiv ver­wen­deten Schulden, die das Wirt­schafts­wachstum immer mehr erdrücken. Die „säkulare Sta­gnation“ ist die Folge von zu vielen Schulden, dem Spie­gelbild der vielen Ersparnisse.
Auf die Ver­mö­gens­preise wirken die neuen Schulden wie ein Turbo. Die Mög­lichkeit mit Kredit, Ver­mö­gens­werte zu kaufen, führt zu stei­gender Nach­frage und Preisen, was wie­derum zu einem höheren Belei­hungswert und damit zu noch mehr Nach­frage führt. Nichts beleihen Banken so gern wie Immo­bilien, weshalb es nur kon­se­quent ist, dass die Preise von Immo­bilien weltweit mit der zuneh­menden Ver­schuldung gestiegen sind, wie Moritz Schul­arick von der Uni­ver­sität Bonn in einer Studie vor­rechnet.
Deshalb gibt es auch so viele Freunde der vor­han­denen Ordnung: all jene, die Ver­mö­gens­werte besitzen und mit Kredit arbeiten können – seien es Private oder Poli­tiker. Sie pro­fi­tieren von der fak­tisch unbe­grenzten Mög­lichkeit der Banken, Geld zu schaffen bei gleich­zei­tiger Rück­ver­si­cherung der Notenbanken.

Nega­tiv­zinsen geben der Wirt­schaft den Rest
Spaß macht diese Ent­wicklung nur, solange sie funk­tio­niert. Womit wir bei der aktu­ellen Pro­blem­stellung der Noten­banken – nicht nur der EZB, sondern fak­tisch der Noten­banken der west­lichen Welt – wären: Was tun, wenn man bei null ange­kommen ist? Klar, man beginnt mit dem direkten Aufkauf von Schulden – „Wert­pa­piere“ genannt – und ist dabei immer weniger zim­perlich, was die Qua­lität betrifft und man drückt die Zinsen unter null.
Warum nicht die Zinsen auf minus drei bis vier Prozent drücken, wenn es doch dazu dient, die Wirt­schaft zu beleben und vor allem eine Deflation zu ver­hindern? Letztere wäre der Supergau für das System, führen fal­lende Preise doch dazu, dass die Illusion der bedien­baren Schulden platzt.
In der Theorie spricht wenig dagegen. Ja, die Bürger können dann auf Bargeld oder Gold aus­weichen. Doch dem begeht man mit der Ein­schränkung von Bargeld- und Gold­besitz, am besten unter dem Deck­mantel der Ver­hin­derung von Geld­wäsche und Schwarz­ge­schäften. Nur so ergeben die diversen Über­le­gungen zur Best­steuerung von Bargeld und den ver­schärften Mel­de­pflichten einen Sinn.
Denn ande­rer­seits wissen Öko­nomen nur zu gut, dass es eben nicht die gewünschte real­wirt­schaft­liche Wirkung hat, die Zinsen in den Nega­tiv­be­reich zu treiben, wie von den Noten­bankern behauptet. So zeigen Ana­lysten der Fed-Nie­der­lassung in San Fran­cisco in einer Studie auf, dass die Nega­tiv­zinsen in Japan statt zu höheren Infla­ti­ons­er­war­tungen zur Erwartung schneller fal­lender Preise geführt haben. So zeigt eine aktuelle Studie der Uni­ver­sität Bath, dass Nega­tiv­zinsen zu gerin­gerer Kre­dit­vergabe führen und die Sol­venz­pro­bleme der Banken ver­schärfen. Dass die Noten­banker dennoch kon­se­quent diesen Weg gehen, macht über­deutlich, worum es ihnen eigentlich geht: nicht darum Deflation und Sta­gnation zu bekämpfen, sondern den Kollaps der Schulden-Ver­mögens-Blase zu verhindern.
Und dabei gilt schon längst: jeder gegen jeden. Denn die Wirk­samkeit der Medizin „bil­liges Geld“ ist schon lange ver­pufft. Um über­haupt noch die Illusion der Wirk­samkeit auf die Real­wirt­schaft auf­recht­zu­er­halten, bedurfte es des Abwer­tungs­ef­fekts. In der Eurozone hat das gut funk­tio­niert, wertete der Euro in den letzten Jahren doch deutlich ab. Dies und nicht die Brillanz hie­siger Politik steht hinter der guten Export­kon­junktur der letzten Jahre. Wer zuerst abwertet, ist der Gewinner, galt in den 1930er-Jahren und gilt auch heute. Nur droht jetzt der Gegen­schlag der US-Regierung unter Donald Trump, die ent­weder den Dollar abwerten wird oder aber, wenn dies nicht gelingt, Straf­zölle gegen deutsche Autos ver­hängt. Blickt man auf die aktuelle Zins­dif­ferenz, ist klar, dass die USA für eine Inten­si­vierung des Wäh­rungs­krieges deutlich besser gerüstet sind. Fallen die Zinsen in den USA, wie von einigen Auguren erwartet, im Zuge der kom­menden Rezession eben­falls unter null, dürfte der Dollar deutlich abwerten und die EZB hätte wenig Mög­lich­keiten, dage­gen­zu­halten. Spä­testens dann wäre die Euro­krise wieder für jeden offen­sichtlich akut. 

Die Finanz­wirt­schaft ruft „mehr!“

Kein Wunder, dass die Finanz­wirt­schaft wittert, dass die guten Zeiten sich unwei­gerlich dem Ende nähern. Die Geld­po­litik ver­liert ihre Wirk­samkeit und damit fehlt der ent­schei­dende Treib­stoff für die Ver­mö­gens­werte weltweit. Kommen die Märkte ins Rut­schen, könnte es diesmal sein, dass die Medizin nicht mehr wirkt. Deshalb – und wohl wirklich nur deshalb – fordern aner­kannte Bran­chen­größen wie BlackRock, dass die Noten­banken dazu über­gehen sollen, Aktien zu kaufen. Die Bank of Japan tut dies schon seit Jahren und besitzt fast vier Prozent der Tokioter Börse. Ohne spür­baren Erfolg für die Kurs­ent­wicklung übrigens. Die Schweizer SNB ist eben­falls Groß­ak­tionär füh­render Unter­nehmen wie Apple.
Kon­se­quent zu Ende gedacht würde der Notenbank-Sozia­lismus damit zur Ver­staat­li­chung der Wirt­schaft führen. Kevin Kühnert dürfte es freuen. Er müsste dann nur noch die Notenbank ganz offen unter staat­liche Kon­trolle stellen. Eine Ent­wicklung, die auch ohne sein Zutun zu erwarten ist.
Mit dem Kauf von Aktien ist es aber nicht getan. BlackRock fordert nun auch den Ein­stieg in die direkte Finan­zierung von Staaten und ist damit nicht mehr weit von den Ideen der soge­nannten „Modern Monetary Policy“ (MMT) ent­fernt, die, wie bereits früher an dieser Stelle erklärt, weder modern noch monetär ist, sondern nichts anderes als eine Wie­der­auflage der Geld­po­litik Vene­zuelas, Mosambik und Weimar-Deutschlands.
Zu kri­ti­sieren ist das nicht. Es ist nur kon­se­quent. Ange­sichts der Schulden- und Ver­mö­gens­blasen, der Tat­sache, dass rund 20 Bil­lionen Anleihen weltweit mit Nega­tivzins notieren und ein Ein­bruch an den Finanz­märkten kata­stro­phale Wir­kungen hätte, muss man alles auf eine massive Mone­ta­ri­sierung der Schulden ver­bunden mit deut­licher Inflation setzen. Problem dabei ist bisher nur: Es will nicht klappen.
Falsche Lehre aus der Großen Depression

Die Noten­banken betonen immer wieder, aus den dama­ligen Fehlern gelernt zu haben. Es gilt als Gemeingut, dass es nur zur Großen Depression kam, weil die Noten­banken zu spät die Zinsen gesenkt hätten und damit die Krise erst ent­standen wäre. So wurde auch beim all­jähr­lichen Noten­banker-Treffen in Jackson Hole argu­men­tiert. Die US-Fed hätte 2009 schneller und kon­se­quenter reagiert und nur so eine Wie­der­holung der Depression ver­hindert.

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Eine überaus opti­mis­tische Ein­schätzung. Damals gelang es erst mit der Auf­rüstung für den Welt­krieg und durch die erheb­liche finan­zielle Repression der Nach­kriegs­jahre – das Zins­niveau wurde künstlich deutlich unter der Wachs­tumsrate der Wirt­schaft gedrückt – aus der Krise zu kommen. Heute haben wir die Krise nicht über­wunden, sondern sie nur mit noch bil­li­gerem Geld unterdrückt.
Vor­stellen kann man sich das so: Die Noten­banken drücken den Schulden-Ballon unter Wasser, damit er nicht zum Problem wird. Derweil wird dieser Ballon jedes Jahr größer und drückt mehr an die Ober­fläche. Nur durch noch mehr Druck kann er unter Wasser gehalten werden, nur bläht er sich umso mehr auf, je mehr man ihn unter Wasser drückt. Irgendwann kann ihn die Notenbank nicht mehr halten und er schießt mit aller Macht nach oben.
Dann haben wir die Krise mit voller Wucht. Je höher die Schulden und der Ver­schul­dungsgrad – Leverage – im System, desto größer der defla­tionäre Druck. Das wissen wir seit der Großen Depression und der immer noch gül­tigen Erklärung durch Irving Fisher. In seiner Schulden-Defla­tions-Theorie großer Depres­sionen erklärt er den desas­trösen Ablauf. Im Kern ist es nichts anders als ein gigan­ti­scher Margin Call.
Diesen ver­suchen die Noten­banken seit Jahren zu ver­hindern und machen damit das Problem immer größer. Mit jeder wei­teren Ret­tungs­aktion pumpen sie den Ball weiter auf und legen damit die Grundlage für die größte Schulden-Deflation aller Zeiten. Es ist eine große Wette: Gelingt es ihnen (doch noch) eine hohe Inflation zu erzeugen und damit einen etwas schmerz­freieren Weg zur Ent­schuldung zu finden oder platzt die Blase? Klar ist auf jeden Fall, dass es einen frei­wil­ligen Aus­stieg aus dem Spiel nicht geben wird. All-in ist das Motto. Dumm nur, dass wir da unfrei­willig mit­spielen müssen.