Bei guter Prognose sollen bald Sicherungsverwahrte, besonders gefährliche Straftäter tagsüber Freigang in der Stadt haben dürfen. Wohnen sollen sie in einer Doppelhaushälfte mitten in einem Wohngebiet JVA Tegel, Tor 1, Bildquelle: Wikimedia Commons, Olaf Meister , Bildlizenz: CC BY-SA 3.0

Berlin: „Offener Vollzug“ für Mörder und Sexualstraftäter

Die Ber­liner Mor­genpost meldete schon im März diesen Jahres, dass laut Jus­tiz­se­nator Dirk Beh­rendt (die Grünen) ein Teil der Siche­rungs­ver­wahrten sich bei güns­tigen Pro­gnosen künftig frei in Berlin bewegen können sollen.
Ver­ur­teilte Straf­täter in Sicher­heits­ver­wahrung sind Täter, bei denen das Gericht auf­grund ihrer beson­deren Gefähr­lichkeit ange­ordnet hat, dass sie auch nach Ver­büßen ihrer Strafe wei­terhin – zum Schutz der All­ge­meinheit – in beson­deren abge­schlos­senen Unter­künften unter­ge­bracht werden. Siche­rungs­ver­wahrung ist eine besondere Form des Frei­heits­ent­zuges. Die Siche­rungs­ver­wahrung muss vom Gericht schon im Urteil zur Haft­strafe fest­gelegt werden. Gerichte ordnen Siche­rungs­ver­wahrung nur an, wenn alle Pro­gnosen zu dem Ergebnis geführt haben, dass ein Straf­täter auch nach Ver­büßung seiner Strafe zu wei­teren Straf­taten neigt und eine große Gefahr für die All­ge­meinheit dar­stellt. Seit einer Ent­scheidung des euro­päi­schen Gerichts­hofes und des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richtes müssen in der Siche­rungs­ver­wahrung die Betrof­fenen jährlich neu über­prüft werden. Außerdem müssen sich die Bedin­gungen erheblich von regu­lären Haft­be­din­gungen unterscheiden.
Das bedeutet, dass das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt nicht dahin­gehend geur­teilt hat, dass für jeden Siche­rungs­ver­wahrten eine Mög­lichkeit zum offenen Vollzug geschaffen werden muss. In dem Urteil wurden lediglich gelo­ckerte Bedin­gungen nach dem Ende der ver­hängten Strafhaft ver­langt, aber auch dies in einer immer noch absolut kon­trol­lierten Umgebung. Wie viele JVA-Bedienstete müssten dann für die ange­dachten 15 Schwer­kri­mi­nellen im offenen Vollzug ein­ge­setzt werden, um Flucht oder Straf­taten wirksam zu ver­hindern, und geht das über­haupt? Die Leute in der Nach­bar­schaft der JVA fragen zu Recht, ob es denn sein muss, dass so ein Feld­versuch mit unge­wissem Ausgang in unmit­tel­barer Nach­bar­schaft zu Familien mit Kindern durch­ge­führt wird?
Berlins Ex-Bür­ger­meister Eberhard Diepgen (CDU) findet das auch unan­ge­bracht: „Ich halte es nicht für sinnvoll, diese Über­prüfung im Rahmen eines offenen Voll­zuges und aller damit ver­bun­denen Gefähr­dungen vorzunehmen.“
Es sind Gewalt­täter, Mörder und Sexu­al­straf­täter, die schon mehrfach straf­fällig geworden sind, bei denen Gut­achter und ein Gericht diese prä­ventive, frei­heits­ent­zie­hende Maß­regel der Bes­serung und Sicherung ver­hängen. Auf Nach­frage der Ber­liner Zeitung erklärt die Ber­liner Senats­jus­tiz­ver­waltung, dass alle infrage kom­menden Siche­rungs­ver­wahrten wegen „Straf­taten gegen die sexuelle Selbst­be­stimmung und Gewalt­de­likten“ ver­ur­teilt wurden. Einige dieser Täter sollen in Zukunft auch im offenen Vollzug unter­ge­bracht werden und sollen sich (unter Begleitung) tagsüber frei in der Stadt bewegen können. Wie Jus­tiz­se­nator Dirk Beh­rendt damals mit­teilte, sollen einige dieser soge­nannten Siche­rungs­ver­wahrten künftig in einer dann zur Ver­fügung zu stel­lenden, neuen offenen Vollzugs-Ein­richtung außerhalb der Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt (JVA) Tegel, an der Sei­del­straße, leben.
In Berlin gibt es zurzeit 50 Siche­rungs­ver­wahrte, die nach Ein­schätzung der Gut­achter wegen der Schwere und Bru­ta­lität ihrer Taten immer noch eine erheb­liche Gefahr für die Öffent­lichkeit dar­stellen. Sie wohnen bisher getrennt von den nor­malen Straf­ge­fan­genen in Unter­bringung auf dem Gelände der JVA Tegel und dürfen diese Ein­richtung auch nicht ver­lassen. Die jähr­liche Über­prüfung, ob eine weitere Ver­wahrung noch nötig ist, wird von der Straf­voll­stre­ckungs­kammer durch­ge­führt. Psy­cho­lo­gische Gut­achten ent­scheiden jährlich darüber, ob die pro­gnos­ti­zierte Gefähr­lichkeit des Täters wei­terhin gegeben ist.
Der Gesetz­geber habe schon seit Jahren solche Ein­rich­tungen gefordert, die Vor­gaben hätten schon seit 2013 umge­setzt werden müssen, heißt es. Jus­tiz­se­nator Dirk Beh­rendt legte Wert auf die Fest­stellung, dass diese gesetz­liche Bestimmung noch zu Zeiten der SPD-CDU-Koalition vom Abge­ord­ne­tenhaus beschlossen worden war. Offenbar möchte der Grü­nen­po­li­tiker nicht als Initiator der offenen Dop­pelhaus-Siche­rungs­ver­wahrung ver­ant­wortlich gemacht werden. In dem besagten CDU-SPD-Gesetz steht, dass die in Frage kom­menden Siche­rungs­ver­wahrten „vor allem zur Ent­las­sungs­vor­be­reitung im offenen Vollzug unter­ge­bracht werden, wenn sie dessen beson­deren Anfor­de­rungen genügen, ins­be­sondere nicht zu befürchten ist, dass sie sich dem Vollzug ent­ziehen oder die Mög­lich­keiten des offenen Vollzugs zur Begehung von Straf­taten miss­brauchen werden.“
Den Plänen des grünen Senators zufolge soll jetzt tat­sächlich eine solche Ein­richtung in der JVA Berlin-Tegel mit so einem Pilot­projekt starten. Siche­rungs­ver­wahrte, bei denen die Anstalts­leitung von ihrer bal­digen Ent­lassung ausgeht, so schrieb damals schon die „Ber­liner Mor­genpost“ sollen dafür eine Dop­pel­haus­hälfte beziehen, in der früher Beamte aus dem Straf­vollzug gewohnt haben. Es soll dann Wohnraum für acht bis zehn Siche­rungs­ver­wahrte geschaffen werden. Das Ganze werde ein bis zwei Mil­lionen Euro kosten.
Der Plan, das war von vor­ne­herein klar, würde wahr­scheinlich auf hef­tigen Wider­stand stoßen, denn in der Nach­bar­schaft wohnen ganz normale Leute mit Familie und Kindern in den Miets­häusern, die ziemlich sicher nicht angetan sein werden von der neuen Nach­bar­schaft. Die Idylle in den Dop­pel­haus­hälften und netten Gärten rund­herum dürfte dabei viel­leicht etwas leiden. „Uns ist bewusst, dass eine Ein­richtung des offenen Voll­zuges für Siche­rungs­ver­wahrte Fragen und Befürch­tungen auf­wirft“, räumt daher der Leiter der JVA, Martin Riemer, ein.
Letzte Woche lud die JVA Tegel die Anwohner zu einem Infor­ma­ti­ons­abend im Kul­turraum in der JVA ein. Etwa 400 Anwohner wurden ein­ge­laden, 100 waren gekommen und sie alle sahen wenig glücklich aus. Die Ber­liner Mor­genpost berichtet:
„Es dauerte fast ein­einhalb Stunden, bevor sich dann doch hörbar Unmut breit machte. ‚Das haben sich die Straf­täter doch selber ein­ge­brockt und jetzt wird ihnen der rote Teppich aus­ge­rollt‘, beschwerte sich ein Anwohner. ‚Ich werde mein Kind sicher nicht in Kontakt mit Sexu­al­straf­tätern treten lassen.‘ Eine Anwoh­nerin raunte: ‚Die Kinder werden denen ja auf dem Sil­ber­ta­blett präsentiert.‘“
Was die 48 Siche­rungs­ver­wahrten in Zukunft dürfen und können und wie man mit diesen Men­schen umgehen wird, das erklärte die Lei­terin der Abteilung für „besonders schwere Fälle“ der JVA Tegel, Kerstin Becker. Es wird nicht ver­schwiegen, dass von diesen Männern auch nach ihrer Frei­lassung eine erheb­liche Gefahr aus­gehen werde. Zwei Drittel dieser hoff­nungs­vollen Aspi­ranten sind Sexu­al­straf­täter. Also genau die Kli­entel, deren Ver­stand und Ein­sichts­fä­higkeit gegen über­mächtige Triebe wenig Chancen hat, was ihr Vor­leben ein­drucksvoll beweist.
Seit 2013 wurden in Berlin 15 Siche­rungs­ver­wahrte aus der Haft ent­lassen, einer davon wurde rück­fällig. Man habe ihn wegen eines Jus­tiz­fehlers ohne Vor­be­rei­tungszeit ent­lassen müssen. Der Mann beging mehrere weitere Straf­taten. Die anderen 14, die auf ihre Eignung geprüft wurden und eine Vor­be­rei­tungszeit durch­liefen, seien nach ihrer Ent­lassung nicht mehr straf­rechtlich auf­fällig geworden.
Dennoch räumt Kerstin Becker ein: „Niemand kann in deren Köpfe sehen.“ Tat­sächlich liegt die Rück­fäl­lig­keitsrate von Straf­tätern bei fast fünfzig Prozent. Bei Räubern und Erpressern ist sie mit 72 Prozent besonders hoch, Mord und Tot­schlag begehen „nur“ 34 Prozent der ent­las­senen Straf­täter. Der Großteil wie­derholt jedoch nicht in die genau gleichen Taten. Nur 0,4 Prozent der Mörder morden wie­derholt, begehen aber andere Delikte, wie Kör­per­ver­letzung oder andere Gewalt­de­likte. Bei Dieb­stahl ist jeder zweite ein Wie­der­ho­lungs­täter. Diese „Fakultät“ bleibt aller­dings in ihrem Metier. Generell gilt: Männer haben höhere Rück­fall­raten als Frauen, jüngere höhere als ältere Täter, Ver­ur­teilte mit Vor­strafen höhere als nicht Vorbestrafte.
Die Ber­liner Zeitung bemerkt besorgt:
„Der Schutz der Bevöl­kerung vor Wie­der­ho­lungs­tätern muss damit in diesen Fällen ein her­vor­ge­ho­benes Ziel der Jus­tiz­po­litik sein. In der öffent­lichen Dis­kussion ver­mittelt die Ber­liner Jus­tiz­ver­waltung leider den Ein­druck, diese Prio­rität zugunsten des Reso­zia­li­sie­rungs­ge­danken zu stark in den Hin­ter­grund zu drängen.“

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Der Sprecher der Poli­zei­ge­werk­schaft GdP, Ben­jamin Jendro, kann dem ganzen Offenen-Vollzug-Projekt nur bedingt etwas abgewinnen:
„Unser Rechts­staat setzt auf Reso­zia­li­sierung. Die Mög­lichkeit des offenen Vollzugs ist im Regelfall hilf­reich und fol­ge­richtig, darf aber nie die Antwort auf Kapa­zi­täts­pro­bleme sein. Siche­rungs­ver­wahrung wird nicht umsonst ange­ordnet, sondern weil von diesen Straf­tätern belegbar eine Gefahr für die Gesell­schaft ausgeht. Sie aber trotz dieser Ein­schätzung auf die Straße lassen zu wollen, ist grob fahr­lässig und lässt sich keinem recht­schaf­fenen Bürger mehr erklären.“
Im Übrigen sei es ein Irr­glaube, so Ben­jamin Jendro, man könne „der­artige Per­sonen außerhalb der Gefäng­nis­mauern und den damit ver­bun­denen Sicher­heits­maß­nahmen rund um die Uhr im Blick haben.“
Die Stra­tegie der Abtei­lungs­lei­terin Becker, den Anwe­senden Anrainern ihre Sorgen zu nehmen, ist zumindest ori­ginell: „In der JVA Tegel werden jeden Tag Häft­linge ent­lassen, sie sitzen neben ihnen in der U‑Bahn oder ziehen in ihre Nach­bar­wohnung ein.“
Dann aber führt sie ins Feld, dass die­je­nigen Siche­rungs­ver­wahrten, die für das Pro­gramm über­haupt in Frage kommen, sich einem Ver­fahren unter­ziehen müssen, dass in meh­reren Jahren durch mehrere Stufen geht. Erst dann, sagt sie, wenn mehrere externe Gut­achter, Psych­iater und Psy­cho­logen und auch die Jus­tiz­ver­waltung über­ein­stimmen, dass sich der Kan­didat „ernsthaft um die Ver­än­derung seines Ver­haltens bemühe“, dürfe er erstmals in Begleitung von JVA-Ange­stellten das Gefängnis ver­lassen und „draußen“, in der Stadt unterwegs sein. Funk­tio­niert das, folgten weitere Unter­su­chungen und Prü­fungen des Kan­di­daten, bevor weitere Haft­er­leich­te­rungen möglich seien.
Nur, wenn dieses jah­re­lange Pro­zedere absol­viert worden sei, gebe es den Übergang in den „Offenen Vollzug“. Dazu sind bisher nur drei Gefangene „qua­li­fi­ziert“ worden. Alle drei seien, so Kerstin Becker, über sechzig Jahre alt und litten unter gesund­heit­lichen Pro­blemen. Neun andere Gefangene seien in der Phase, in der sie in Begleitung von JVA-Bediens­teten kurze Wege außerhalb der JVA unter­nehmen können, sei es für Erle­di­gungen auf Behörden oder für eine ehren­amt­liche Tätigkeit.