Zu dem Thema habe ich schon eine Einschätzung geschrieben, als das Gesetz im Mai beschlossen wurde, das heute in Kraft tritt. Da sich bisher keine neuen Fakten ergeben haben und sich auch meine Einschätzung dazu nicht geändert hat, veröffentliche ich hier den Text meines Artikel vom 5. Mai 2019 mit kleinen Ergänzungen noch einmal.
Das neue Gesetz sieht vor, dass Russland in Zukunft seinen Internet-Traffic im eigenen Land halten soll und Provider inner-russischen Internet-Traffic nicht mehr über das Ausland laufen lassen dürfen. Dazu soll eine eigene Infrastruktur mit eigenen Internetservern und Knotenpunkten geschaffen werden. Und es soll klare Regeln geben, welcher Traffic die Grenze überschreiten darf.
Die Kritiker sagen, dass Russland dann volle Kontrolle über das russische Internet haben würde und somit völlig unbehelligt zensieren und abschalten kann, was es will. Bis hin zur vollständigen Abschaltung des Internets.
Die Befürworter verweisen darauf, dass derzeit die USA das russische Internet kontrollieren und dass die Gefahr gegeben ist, dass die USA im Zuge neuer Sanktionen das russische Internet, in Russland einfach „Runet“ genannt, manipulieren, behindern oder sogar abschalten könnten. Dagegen müsse man sich schützen, denn auch Russland ist heute ein digitalisierter Staat, in dem dann die Telemedizin, die vor allem in bevölkerungsarmen Gegenden wichtig geworden ist oder auch zum Beispiel der gesamte Zahlungsverkehr in Gefahr geriete. Und das sind nur zwei Beispiele, in dem größten Flächenstaat der Erde ist das Internet sehr wichtig geworden, um Kommunikation, Verwaltung und Datenverkehr zu gewährleisten.
Man muss hierzu wissen, dass 70% des inner-russischen Internet-Traffic über Knotenpunkte in den USA laufen, die Gefahr ist also real. Eine Email von einem russischen Postfach an ein anderes russisches Postfach läuft über die USA. Das gilt übrigens auch für Deutschland. Die USA haben das Internet so aufgebaut, dass sehr viel des weltweiten Traffics über Server-Knotenpunkte in den USA läuft. Sehr praktisch gelöst, wenn man spionieren oder Daten abfangen oder manipulieren möchte.
Nur zum Vergleich: Wenn es in Deutschland morgen kein Internet und keine Email mehr gäbe, könnte ein Brief mit der Post und dem LKW immer noch in der Regel innerhalb von 24 Stunden sein Ziel erreichen. Versuchen Sie das mal über 9.000 Kilometer durch ganz Russland. Das Internet ist in Russland also ungleich wichtiger für das Funktionieren von Wirtschaft und Verwaltung, als zum Beispiel in Deutschland.
Kritiker und Befürworter haben also gute Argumente und beide Seiten haben erst einmal recht: Ja, das Gesetz gibt Russland mehr Möglichkeiten zur Zensur und ja, es schützt Russland aber auch vor möglichen Sanktionen und Angriffen der USA.
Das Gesetz ist am 1. November in Kraft getreten. Und am liebsten würde ich mich zu dem Gesetz erst äußern, wenn es einige Zeit in Kraft ist, denn erst dann kann man sehen, ob die Befürchtungen der Kritiker wahr geworden sind, oder ob Russland das Gesetz tatsächlich nur defensiv anwendet. Aber da ich so oft danach gefragt wurde, werde ich nun eine Einschätzung wagen und begründen, wie ich zu ihr gekommen bin.
Über die Zensur im Runet kann ich heute schon schreiben, denn es gibt sie, so wie es sie auch in Deutschland und in jedem anderen Land gibt. Jedes Land hat auch heute schon die Möglichkeit, bestimmte Inhalte in seinem Land zu sperren. Und das wird fleißiger getan, als man denkt. Das fällt mir immer wieder auf, wenn ich zu Themen recherchiere, denn ich lebe in Russland und bin oft in Deutschland. Der Unterschied sticht einem dabei zwangsläufig ins Auge.
Es mag den einen oder anderen überraschen, aber in Deutschland ist recherchieren schwieriger, es sind viel mehr Inhalte in Deutschland gesperrt, als in Russland. In Russland ist das Internet weit weniger reguliert, als in Deutschland. Darum habe ich auch eine russische Domain gewählt, weil ich nicht unter die strengen europäischen und deutschen Regelungen fallen will.
Und nun kommt die Schwierigkeit für mich: Ich muss nun aus dem Vergleich der heutigen Beschränkungen im Internet in Deutschland und Russland eine Prognose dazu treffen, wie sehr Russland das Gesetz zur Verschärfung der Zensur nutzen wird. Das ist schwierig, aber nach den vielen Anfragen von Lesern, kann ich mich nicht mehr davor drücken.
Es gibt einen wichtigen Unterschied bei der Methode, wie Seiten im Internet gesperrt werden. Wenn eine Seite in Deutschland gesperrt wird, verschwindet sie quasi, man findet rein gar nichts über die Seite oder ihre Inhalte. Das macht es für mich immer sehr schwierig zu recherchieren, wenn ich in Deutschland bin, denn man findet viele Informationen gar nicht.
In Russland ist das anders. Wenn man dort eine vom Staat gesperrte Seite aufruft, dann erscheint eine Seite mit dem Hinweis, dass diese Seite in Russland gesperrt wurde. Man erfährt also von der Existenz der Seite und davon, dass sie im Land gesperrt ist, lediglich die Inhalte der Seite kann man nicht lesen.
Das betrifft zum Beispiel die Stiftungen von Soros, die in Russland nicht erreichbar sind. Wenn ich für eine Recherche dann Informationen von einer Soros-Seite brauche, kann ich sie trotzdem zum Beispiel über den Tor-Browser erreichen.
Man sieht also hieran schon den Unterschied: Wenn etwas in Deutschland gesperrt ist, erfährt man auch nichts mehr über die Existenz einer solchen Seite, in Russland hingegen erfährt man von der Existenz, nur die Inhalte sind gesperrt.
Meine Erfahrung ist, dass in Deutschland aufgrund der vielen Sperrungen von Seiten Recherchen zu bestimmten Themen fast unmöglich sind. In Russland ist das einfacher.
Noch extremer ist es bei YouTube, da sind in Deutschland sehr viele Videos gesperrt. Sehr oft bekomme ich, wenn ich in Deutschland zu Themen auf YouTube etwas suche, den Hinweis „Dieses Video ist in Deinem Land gesperrt“, in Russland habe ich das nur wenige Male erlebt.
Es mag also jemanden, der Russland nicht kennt und kein Russisch versteht, verwundern, aber das Internet ist in Russland wesentlich freier, als in Deutschland.
In sozialen Netzwerken ist die Situation einigermaßen vergleichbar. In Deutschland und Russland werden Inhalte gesperrt, die in dem jeweiligen Land als Volksverhetzung eingestuft sind. In beiden Ländern sind Nazi-Symbole verboten und ihre Benutzung wird strafrechtlich verfolgt. Das führt auch zu Sperrungen von Beiträgen in sozialen Netzwerken.
In Deutschland wurde mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz aber der Begriff des „Hate-Speach“ geschaffen und seit dem herrscht in sozialen Netzwerken in Deutschland eine gewisse Willkür, denn was genau „Hate-Speach“ ist, kann sehr unterschiedlich ausgelegt werden.
In Russland ist ein anderes Thema in sozialen Netzwerken Tabu. Russland ist ein Vielvölkerstaat und es achtet daher peinlich genau darauf, dass Rassismus und religiöse Beleidigungen nicht vorkommen. Mit solchen Dingen ließe sich die russische Gesellschaft spalten bis hin zu Unruhen, daher wird vom Staat sehr viel Wert darauf gelegt, dass vor allem religiöse Beleidigungen unterbleiben, auch sie gelten als Volksverhetzung.
Das bedeutet, dass zum Beispiel die anti-Islam Karikaturen der französischen Zeitung Charlie Hebdo in Russland verboten wären. Und auch entsprechende Posts in sozialen Netzwerken werden verfolgt. Dazu gab es in Russland vor kurzem eine heftige Diskussion, denn einige Staatsanwälte sind über das Ziel hinausgeschossen und haben auch bei Kleinigkeiten bereits Strafverfahren eingeleitet. Die russische Regierung hat darauf reagiert und Bestimmungen geändert, damit die Staatsanwälte weniger streng vorgehen.
Am meisten beschweren sich darüber Atheisten, die sich in ihrer Meinungsfreiheit beschränkt fühlen, weil sie beim Posten von anti-religiösen Karikaturen und Kommentaren vorsichtig sein müssen. Aber diese Angst ist übertrieben, wie ein Blick auf die Inhalte in der Gruppe „Atheist“ im russischen sozialen Netzwerk „vkontakte“ zeigt.
Man sieht also, dass in Deutschland und Russland die Zensur in sozialen Netzwerken da zuschlägt, wo der Straftatbestand der Volksverhetzung greift. Und was Volksverhetzung ist, legt jedes Land aufgrund seiner eigenen Geschichte und Situation anders fest, dafür gibt es keine international gültigen Definitionen.
In Deutschland wurde darüber hinaus der Begriff des „Hate-Speach“ geschaffen, den man je nach Lust und Laune auslegen kann. In Russland hingegen gibt es keine Political Correctness mit ihren „Sprachverboten“, daher gibt es auch derartige Einschränkungen der Meinungsfreiheit, sei es im Internet oder im „richtigen Leben“, nicht.
Ich habe also aus meiner eigenen Erfahrung keinen Grund anzunehmen, dass Russland mit dem neuem Gesetz plötzlich eine Welle der Zensur startet, Russland hat die bestehenden technischen Möglichkeiten der Beschränkungen im Internet bei weitem nicht ausgeschöpft und zensiert nur sehr wenige Inhalte und dies dann aber transparent und man bekommt den Hinweis, dass hier etwas verboten wurde.
Auch die Opposition in Russland kann sich im Internet frei bewegen. Der im Westen als großer Oppositioneller gefeierte Nawalny darf seine Seite, seinen Blog, seinen YouTube-Kanal und so weiter frei betreiben, nichts wird zensiert oder eingeschränkt. Und das obwohl der Mann in seinen Video-Beiträgen teilweise rassistische Töne anschlägt, die ihm in Deutschland bereits ein Strafverfahren eingebracht hätten.
Meine Prognose aus heutiger Sicht ist daher, dass Russland das Gesetz nicht zur Zensur einsetzen wird, denn es hätte auch ohne das Gesetz wesentlich strenger Inhalte im Internet sperren können, als es das bisher getan hat.
Die Gefahr, dass die USA das Runet mit Sanktionen beschränken, ist allerdings real. Und dass Russland sich dagegen absichert, ist nach den Erfahrungen mit US-Sanktionen in den letzten Jahren mehr als verständlich.
Ich neige daher dazu, der Argumentation der Befürworter des Gesetzes zu folgen. Aber ob Russland die Möglichkeiten des neuen Gesetzes missbraucht, werden wir erst erfahren, nachdem das Gesetz im November in Kraft tritt.
Daher habe ich mich bisher um das Thema gedrückt: Was das Gesetz tatsächlich in der Praxis bedeutet und ob die Befürchtungen der Kritiker berechtigt sind, werden wir sehen, wenn das Gesetz einige Monate oder sogar Jahre in Kraft ist. Bisher hat Russland die technischen Möglichkeiten, Inhalte im Internet zu sperren nur sehr zurückhaltend und dabei sehr transparent genutzt, in meinen Augen zurückhaltender und transparenter, als zum Beispiel Deutschland das tut.
Ich sehe keinen Grund, warum sich daran nun etwas ändern sollte.
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“
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