Medien melden Zensur des Internets in Russland — Was ist da dran?

In der Presse wird heute berichtet, dass Russland ab 1. November das Internet massiv zen­sieren würde. Was ist da dran?
Zu dem Thema habe ich schon eine Ein­schätzung geschrieben, als das Gesetz im Mai beschlossen wurde, das heute in Kraft tritt. Da sich bisher keine neuen Fakten ergeben haben und sich auch meine Ein­schätzung dazu nicht geändert hat, ver­öf­fent­liche ich hier den Text meines Artikel vom 5. Mai 2019 mit kleinen Ergän­zungen noch einmal.
Das neue Gesetz sieht vor, dass Russland in Zukunft seinen Internet-Traffic im eigenen Land halten soll und Pro­vider inner-rus­si­schen Internet-Traffic nicht mehr über das Ausland laufen lassen dürfen. Dazu soll eine eigene Infra­struktur mit eigenen Inter­net­servern und Kno­ten­punkten geschaffen werden. Und es soll klare Regeln geben, welcher Traffic die Grenze über­schreiten darf.
Die Kri­tiker sagen, dass Russland dann volle Kon­trolle über das rus­sische Internet haben würde und somit völlig unbe­helligt zen­sieren und abschalten kann, was es will. Bis hin zur voll­stän­digen Abschaltung des Internets.
Die Befür­worter ver­weisen darauf, dass derzeit die USA das rus­sische Internet kon­trol­lieren und dass die Gefahr gegeben ist, dass die USA im Zuge neuer Sank­tionen das rus­sische Internet, in Russland einfach „Runet“ genannt, mani­pu­lieren, behindern oder sogar abschalten könnten. Dagegen müsse man sich schützen, denn auch Russland ist heute ein digi­ta­li­sierter Staat, in dem dann die Tele­me­dizin, die vor allem in bevöl­ke­rungs­armen Gegenden wichtig geworden ist oder auch zum Bei­spiel der gesamte Zah­lungs­verkehr in Gefahr geriete. Und das sind nur zwei Bei­spiele, in dem größten Flä­chen­staat der Erde ist das Internet sehr wichtig geworden, um Kom­mu­ni­kation, Ver­waltung und Daten­verkehr zu gewährleisten.
Man muss hierzu wissen, dass 70% des inner-rus­si­schen Internet-Traffic über Kno­ten­punkte in den USA laufen, die Gefahr ist also real. Eine Email von einem rus­si­schen Postfach an ein anderes rus­si­sches Postfach läuft über die USA. Das gilt übrigens auch für Deutschland. Die USA haben das Internet so auf­gebaut, dass sehr viel des welt­weiten Traffics über Server-Kno­ten­punkte in den USA läuft. Sehr prak­tisch gelöst, wenn man spio­nieren oder Daten abfangen oder mani­pu­lieren möchte.
Nur zum Ver­gleich: Wenn es in Deutschland morgen kein Internet und keine Email mehr gäbe, könnte ein Brief mit der Post und dem LKW immer noch in der Regel innerhalb von 24 Stunden sein Ziel erreichen. Ver­suchen Sie das mal über 9.000 Kilo­meter durch ganz Russland. Das Internet ist in Russland also ungleich wich­tiger für das Funk­tio­nieren von Wirt­schaft und Ver­waltung, als zum Bei­spiel in Deutschland.
Kri­tiker und Befür­worter haben also gute Argu­mente und beide Seiten haben erst einmal recht: Ja, das Gesetz gibt Russland mehr Mög­lich­keiten zur Zensur und ja, es schützt Russland aber auch vor mög­lichen Sank­tionen und Angriffen der USA.
Das Gesetz ist am 1. November in Kraft getreten. Und am liebsten würde ich mich zu dem Gesetz erst äußern, wenn es einige Zeit in Kraft ist, denn erst dann kann man sehen, ob die Befürch­tungen der Kri­tiker wahr geworden sind, oder ob Russland das Gesetz tat­sächlich nur defensiv anwendet. Aber da ich so oft danach gefragt wurde, werde ich nun eine Ein­schätzung wagen und begründen, wie ich zu ihr gekommen bin.
Über die Zensur im Runet kann ich heute schon schreiben, denn es gibt sie, so wie es sie auch in Deutschland und in jedem anderen Land gibt. Jedes Land hat auch heute schon die Mög­lichkeit, bestimmte Inhalte in seinem Land zu sperren. Und das wird flei­ßiger getan, als man denkt. Das fällt mir immer wieder auf, wenn ich zu Themen recher­chiere, denn ich lebe in Russland und bin oft in Deutschland. Der Unter­schied sticht einem dabei zwangs­läufig ins Auge.
Es mag den einen oder anderen über­ra­schen, aber in Deutschland ist recher­chieren schwie­riger, es sind viel mehr Inhalte in Deutschland gesperrt, als in Russland. In Russland ist das Internet weit weniger regu­liert, als in Deutschland. Darum habe ich auch eine rus­sische Domain gewählt, weil ich nicht unter die strengen euro­päi­schen und deut­schen Rege­lungen fallen will.
Und nun kommt die Schwie­rigkeit für mich: Ich muss nun aus dem Ver­gleich der heu­tigen Beschrän­kungen im Internet in Deutschland und Russland eine Pro­gnose dazu treffen, wie sehr Russland das Gesetz zur Ver­schärfung der Zensur nutzen wird. Das ist schwierig, aber nach den vielen Anfragen von Lesern, kann ich mich nicht mehr davor drücken.
Es gibt einen wich­tigen Unter­schied bei der Methode, wie Seiten im Internet gesperrt werden. Wenn eine Seite in Deutschland gesperrt wird, ver­schwindet sie quasi, man findet rein gar nichts über die Seite oder ihre Inhalte. Das macht es für mich immer sehr schwierig zu recher­chieren, wenn ich in Deutschland bin, denn man findet viele Infor­ma­tionen gar nicht.
In Russland ist das anders. Wenn man dort eine vom Staat gesperrte Seite aufruft, dann erscheint eine Seite mit dem Hinweis, dass diese Seite in Russland gesperrt wurde. Man erfährt also von der Existenz der Seite und davon, dass sie im Land gesperrt ist, lediglich die Inhalte der Seite kann man nicht lesen.
Das betrifft zum Bei­spiel die Stif­tungen von Soros, die in Russland nicht erreichbar sind. Wenn ich für eine Recherche dann Infor­ma­tionen von einer Soros-Seite brauche, kann ich sie trotzdem zum Bei­spiel über den Tor-Browser erreichen.
Man sieht also hieran schon den Unter­schied: Wenn etwas in Deutschland gesperrt ist, erfährt man auch nichts mehr über die Existenz einer solchen Seite, in Russland hin­gegen erfährt man von der Existenz, nur die Inhalte sind gesperrt.
Meine Erfahrung ist, dass in Deutschland auf­grund der vielen Sper­rungen von Seiten Recherchen zu bestimmten Themen fast unmöglich sind. In Russland ist das einfacher.
Noch extremer ist es bei YouTube, da sind in Deutschland sehr viele Videos gesperrt. Sehr oft bekomme ich, wenn ich in Deutschland zu Themen auf YouTube etwas suche, den Hinweis „Dieses Video ist in Deinem Land gesperrt“, in Russland habe ich das nur wenige Male erlebt.
Es mag also jemanden, der Russland nicht kennt und kein Rus­sisch ver­steht, ver­wundern, aber das Internet ist in Russland wesentlich freier, als in Deutschland.
In sozialen Netz­werken ist die Situation eini­ger­maßen ver­gleichbar. In Deutschland und Russland werden Inhalte gesperrt, die in dem jewei­ligen Land als Volks­ver­hetzung ein­ge­stuft sind. In beiden Ländern sind Nazi-Symbole ver­boten und ihre Benutzung wird straf­rechtlich ver­folgt. Das führt auch zu Sper­rungen von Bei­trägen in sozialen Netzwerken.
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In Deutschland wurde mit dem Netz­werk­durch­set­zungs­gesetz aber der Begriff des „Hate-Speach“ geschaffen und seit dem herrscht in sozialen Netz­werken in Deutschland eine gewisse Willkür, denn was genau „Hate-Speach“ ist, kann sehr unter­schiedlich aus­gelegt werden.
In Russland ist ein anderes Thema in sozialen Netz­werken Tabu. Russland ist ein Viel­völ­ker­staat und es achtet daher peinlich genau darauf, dass Ras­sismus und reli­giöse Belei­di­gungen nicht vor­kommen. Mit solchen Dingen ließe sich die rus­sische Gesell­schaft spalten bis hin zu Unruhen, daher wird vom Staat sehr viel Wert darauf gelegt, dass vor allem reli­giöse Belei­di­gungen unter­bleiben, auch sie gelten als Volksverhetzung.
Das bedeutet, dass zum Bei­spiel die anti-Islam Kari­ka­turen der fran­zö­si­schen Zeitung Charlie Hebdo in Russland ver­boten wären. Und auch ent­spre­chende Posts in sozialen Netz­werken werden ver­folgt. Dazu gab es in Russland vor kurzem eine heftige Dis­kussion, denn einige Staats­an­wälte sind über das Ziel hin­aus­ge­schossen und haben auch bei Klei­nig­keiten bereits Straf­ver­fahren ein­ge­leitet. Die rus­sische Regierung hat darauf reagiert und Bestim­mungen geändert, damit die Staats­an­wälte weniger streng vorgehen.
Am meisten beschweren sich darüber Athe­isten, die sich in ihrer Mei­nungs­freiheit beschränkt fühlen, weil sie beim Posten von anti-reli­giösen Kari­ka­turen und Kom­men­taren vor­sichtig sein müssen. Aber diese Angst ist über­trieben, wie ein Blick auf die Inhalte in der Gruppe „Atheist“ im rus­si­schen sozialen Netzwerk „vkon­takte“ zeigt.
Man sieht also, dass in Deutschland und Russland die Zensur in sozialen Netz­werken da zuschlägt, wo der Straf­tat­be­stand der Volks­ver­hetzung greift. Und was Volks­ver­hetzung ist, legt jedes Land auf­grund seiner eigenen Geschichte und Situation anders fest, dafür gibt es keine inter­na­tional gül­tigen Definitionen.
In Deutschland wurde darüber hinaus der Begriff des „Hate-Speach“ geschaffen, den man je nach Lust und Laune aus­legen kann. In Russland hin­gegen gibt es keine Poli­tical Cor­rectness mit ihren „Sprach­ver­boten“, daher gibt es auch der­artige Ein­schrän­kungen der Mei­nungs­freiheit, sei es im Internet oder im „rich­tigen Leben“, nicht.
Ich habe also aus meiner eigenen Erfahrung keinen Grund anzu­nehmen, dass Russland mit dem neuem Gesetz plötzlich eine Welle der Zensur startet, Russland hat die bestehenden tech­ni­schen Mög­lich­keiten der Beschrän­kungen im Internet bei weitem nicht aus­ge­schöpft und zen­siert nur sehr wenige Inhalte und dies dann aber trans­parent und man bekommt den Hinweis, dass hier etwas ver­boten wurde.
Auch die Oppo­sition in Russland kann sich im Internet frei bewegen. Der im Westen als großer Oppo­si­tio­neller gefeierte Nawalny darf seine Seite, seinen Blog, seinen YouTube-Kanal und so weiter frei betreiben, nichts wird zen­siert oder ein­ge­schränkt. Und das obwohl der Mann in seinen Video-Bei­trägen teil­weise ras­sis­tische Töne anschlägt, die ihm in Deutschland bereits ein Straf­ver­fahren ein­ge­bracht hätten.
Meine Pro­gnose aus heu­tiger Sicht ist daher, dass Russland das Gesetz nicht zur Zensur ein­setzen wird, denn es hätte auch ohne das Gesetz wesentlich strenger Inhalte im Internet sperren können, als es das bisher getan hat.
Die Gefahr, dass die USA das Runet mit Sank­tionen beschränken, ist aller­dings real. Und dass Russland sich dagegen absi­chert, ist nach den Erfah­rungen mit US-Sank­tionen in den letzten Jahren mehr als verständlich.
Ich neige daher dazu, der Argu­men­tation der Befür­worter des Gesetzes zu folgen. Aber ob Russland die Mög­lich­keiten des neuen Gesetzes miss­braucht, werden wir erst erfahren, nachdem das Gesetz im November in Kraft tritt.
Daher habe ich mich bisher um das Thema gedrückt: Was das Gesetz tat­sächlich in der Praxis bedeutet und ob die Befürch­tungen der Kri­tiker berechtigt sind, werden wir sehen, wenn das Gesetz einige Monate oder sogar Jahre in Kraft ist. Bisher hat Russland die tech­ni­schen Mög­lich­keiten, Inhalte im Internet zu sperren nur sehr zurück­haltend und dabei sehr trans­parent genutzt, in meinen Augen zurück­hal­tender und trans­pa­renter, als zum Bei­spiel Deutschland das tut.
Ich sehe keinen Grund, warum sich daran nun etwas ändern sollte. 

Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“