edu_castro27 / Pixabay

Mein Israel – was ist in den letzten 50 Jahren aus dir geworden?

Im November 1969 bereiste ich das Land erstmals mit einem Jugend­aus­tausch, seither hat sich die Bevöl­kerung mehr als ver­drei­facht – wie war das möglich?
(von Albrecht Künstle)
Du bist hässlich geworden, muss ich fest­stellen, wenn ich im Fern­sehen kri­tische Repor­tagen über Israel sehe. Das gilt jeden­falls für deine Grenzen zum West­jor­danland und Gaza­streifen hin, mit deinen bis zu acht Meter hohen Beton­wänden. Bei meinem letzten Besuch 2000 standen diese noch nicht. Schützen sie dich eigentlich vor den Raketen der Hamas, Isla­mi­scher Djihad und den Feu­er­drachen des Paläs­ti­nenser-Nach­wuchses? Und so viele Sied­lungen außerhalb deines eigent­lichen Staats­ge­bietes gab es bei meinem Erst­besuch 1969 auch noch nicht.
Was ist geschehen, dass 2002 mit dem Bau der Sperr­an­lagen begonnen wurde? Ein Blick in die Bevöl­ke­rungs­sta­tistik erklärt das meiste. Als ich vor genau 50 Jahren dort war – Golda Meir war Minis­ter­prä­si­dentin – hatte Israel noch unter 3 Mio. Ein­wohner. In diesem Jahr wurden 9 Mio. über­schritten! Über die unbe­fes­tigten Grenzen kamen nicht nur paläs­ti­nen­sische Ter­ro­risten, sondern – man höre und staune – viele mus­li­mische Araber, die den „Juden­staat“ Israel ihren isla­mi­schen Her­kunfts­ländern vor­ge­zogen haben. Deren Anteil beträgt 21 Prozent, dazu kommen zig­tau­sende jüdische Miz­rachim aus dem Nahen Osten, Afrika und Asien. Ein Viertel der Bevöl­kerung kommt aus diesen Ländern. Aber nicht nur diese, auch andere Afri­kaner kamen auf dem Landweg – nicht wie bei uns per Schiff, Bahn, Bus und Flugzeug.

Hier bestellen!

Aber jetzt steht das „anti­ara­bische Bollwerk“, und die Bevöl­kerung wächst immer noch, wird mir ent­gegen gehalten. Das Wachstum betrug in den letzten zehn Jahren knapp zwei Prozent im Jahr. Ein Grund ist der anhal­tende Zustrom aus Ost­europa und Russland, wo Juden immer noch kein gutes Leben haben. Nach dem Zerfall der Sowjet­union wan­derten über eine Mio. Juden aus den Nach­fol­ge­staaten nach Israel ein. Neun Prozent der Bevöl­kerung sprechen rus­sisch. Diese Migration nimmt jetzt ab – weil es in den Ost­ge­bieten immer weniger Juden gibt. Aber immerhin 24 Prozent der israe­li­schen Bevöl­kerung ist im Ausland geboren. Alt­kanzler Kohl hat in seinen Regie­rungs­jahren ein Mehr­faches her­geholt. Israel holte sie nicht, sie kamen einfach. Und wir Deutsche haben am wenigsten Grund, Israel Migra­ti­ons­eu­phorie vor­zu­werfen, sie ist bei uns aus­ge­prägter. Doch jetzt beginnt die Flucht von Juden aus Frank­reich (100.000) und zunehmend auch aus Deutschland nach Israel.
Israel ist auch Zufluchtsland von Christen aus Syrien und dem Nordirak. Seit 2014 sind dort die Aramäer als eigen­ständige Bevöl­ke­rungs­gruppe aner­kannt. Deutschland könnte sich eine Scheibe abschneiden, das seine Tore lieber für Muslime offen hält. Und Anti­se­mi­tismus nur aus der rechten Szene beklagt, statt zunehmend durch das koran­ge­prägte Umfeld. Was dazu führen könnte, dass es mehr Über­sied­lungen von Juden aus Deutschland nach Israel geben wird – nach Nahost, aus dem die Mer­kel­gäste kommen. Eine kleine, ent­ge­gen­ge­setzte Völkerwanderung.
Doch selbst wenn die Zuwan­derung nach Israel aus­bleibt: Die Bevöl­kerung würde trotzdem zunehmen. Die Gebur­tenrate in Israel beträgt 21 Pro­mille, bei nur 5 Pro­mille Ster­berate. Die Ursache sind durch­schnittlich 3,1 Kindern je Familie. Dabei sind 46 Prozent säkulare Juden durch Geburt. Diese haben ähn­liche Kin­der­zahlen wie bei uns, also ein oder zwei Kinder. Doch das wird über­kom­pen­siert durch ins­be­sondere sieben Prozent ultra­or­thodoxe Juden mit oft zehn Kindern. Noch mehr schlagen die mus­li­mi­schen Familien mit auch min­destens fünf Kindern zu Buche, weil diese Bevöl­ke­rungs­gruppe größer ist. Beide Gruppen zusammen machen 40 Prozent der Neu­ge­bo­renen aus.
Was hat das alles mit der umstrit­tenen Politik Israels zu tun, wird ent­gegnet. Doch die inzwi­schen 400 EW/km² brauchen Arbeits­stätten, Woh­nungen und die Land­wirte zur Ernährung der stei­genden Bevöl­kerung viel Land. Zieht man die Wüs­ten­ge­biete des Negev ab, der nur wenig besie­delbar ist, und die eben­falls dünn besie­delte Golanhöhe, beträgt die Ein­woh­ner­dichte im bewohnten Israel 700/km², damit dreimal so hoch wie im dicht besie­delten Deutschland, und die höchste im Nahen Osten.
Aber der Land­wirt­schaft in Israel steht nur ein Viertel des Landes zur Ver­fügung, mit der es ihre Bevöl­kerung ernähren und Devisen durch den Zitrus­früchte- und Gemü­se­export und anderem erwirt­schaften muss. In diesem Dilemma liegt begründet, weshalb Siedler auf eigene Faust auch ins West­jor­danland aus­weichen – und die Regierung ein Auge zudrückt, was sie nach dem Völ­ker­recht nicht dürfte. In den besetzten Gebieten gibt es über 200 solcher Sied­lungen, dar­unter vier Städte mit mehr als 15.000 Ein­wohnern. Nur wenige illegale Sied­lungen werden zwangs­ge­räumt, weil die Regierung sonst Gettos um ihre Zentren riskiert.
Könnte Israel sich aus der Westbank zurück­ziehen und die Ver­sorgung seiner Bevöl­kerung den Paläs­ti­nensern und Arabern im West­jor­danland über­lassen? Dieser Gedanke ist nahe­liegend, aber meine Erfahrung aus meh­reren Israel­be­suchen spricht dagegen. Bei einer meiner Visiten dort fuhren wir durch eine Modell­projekt-Siedlung (auf israe­li­schem Gebiet). Auf der einen Seite der Haupt­straße waren jüdische Familien ange­siedelt, auf der anderen ara­bische. Die Siedlung war erst fünf Jahre alt, aber man brauchte uns nicht zu sagen, wer auf welcher Seit wohnt. So ver­müllt wie es um die Häuser der einen Seite aussah, so ver­wahrlost waren auch die Felder dahinter. Und so sieht es leider auch im West­jor­danland aus. Soll dieses ohne die Siedler auch die israe­li­schen Nachbarn ernähren können?
Wem soll Nie­mandsland im Nahen Osten gehören? His­to­risch gesehen können dort alle Volks­gruppen aus irgend einer Epoche heraus Anspruch auf die Län­de­reien erheben, nicht nur die Juden. Dieser Aspekt ist m.E. Erachtens aber wenig ziel­führend. Eine Losung vieler „popu­lis­ti­scher“ Bewe­gungen lautet: „Gebt das Land denen, die es bewirt­schaften!“ Vor diesem Hin­ter­grund fällt zumindest mir eine Antwort leichter, wem solches Land gehören soll. Außer den Israelis ist niemand in der Lage, die zuneh­mende Bevöl­kerung in jener Region zu versorgen.
Noch ein Kri­terium: Im jüdi­schen Israel können auch mus­li­mische Araber, Christen und andere repres­si­onsfrei und gut leben. Sie können dort eigene Par­teien gründen und sind in der Knesseth ver­treten. Wo ist das in den Israel umge­benden Ländern der Fall? Würden die Juden in den ara­bi­schen Nach­bar­ländern akzep­tiert? Ein Blick in den Koran gibt die Antwort. Alleine im Libanon – aus dem die His­bollah immer wieder Nord­israel atta­ckiert – gibt es (fast) eine fried­liche Koexistenz zwi­schen Mus­limen und Christen. Juden jedoch nicht, die kann man dort zählen. Wer also für Mul­ti­kulti ist, müsste an der Seite des Viel­völ­ker­staates Israels stehen. 
Womit ich meinen Rück­blick auf 50 Jahre Israel schließe. Es gab Zeiten, da wusste ich nicht, ob das israe­lische oder paläs­ti­nen­sische Herz in meiner Brust stärker schlug. Seit ich weiß, dass die während und nach dem Unab­hän­gig­keits­krieg 1948 und nach dem Sechs­ta­ge­krieg 1967 geflo­henen paläs­ti­nen­si­schen Araber zum geringsten Teil ver­trieben, sondern von ihren Isla­misten-Führern zum Ver­lassen ihrer Dörfer auf­ge­fordert wurden, ist mein Mit­gefühl für die Paläs­ti­nenser nicht mehr ganz so aus­ge­prägt. Ins­be­sondere nicht, weil ich heute auch weiß, dass den Paläs­ti­nensern ebenso ein eigener Staat ange­boten worden war. Was sie aller­dings ablehnten, weil sie damals wie heute das Exis­tenz­recht Israels ablehnen.
Heute sage ich, „mein“ Israel, du bist doch nicht so hässlich, wie ich ein­gangs beklagte. Es ist höchste Zeit, dir den nächsten Besuch abzustatten.