Die etwas andere Weih­nachts­ge­schichte: Jesus wäre in der Irren­an­stalt gelandet

Im Prinzip ist kein Mensch sicher vor einer Zwangs­ein­weisung in die Psychiatrie!
(von Vera Wagner)
Gustl Mollath ist das wohl bekann­teste Jus­tiz­opfer Deutsch­lands. Er war 2006 nach einem Prozess wegen angeb­licher Gewalt gegen seine Ehefrau in die Psych­iatrie ein­ge­wiesen worden – zu Unrecht, wie sich Jahre später in einem Wie­der­auf­nah­me­ver­fahren her­aus­stellte. Mehr als sieben Jahre hatte er in der Psych­iatrie ver­bracht. Durch den Fall geriet der Para­graph 63 zur „Unter­bringung in einem psych­ia­tri­schen Kran­kenhaus“ in die Kritik. Die Rechtslage hat sich geändert. Doch damals wie heute ist es ziemlich leicht, einen Men­schen in die Psych­iatrie abzuschieben.
Die Ein­weisung von Anna S. (Name von der Red. geändert) in die Psych­iatrie liegt 20 Jahre zurück; doch wenn sie davon erzählt, wird sie zurück­ka­ta­pul­tiert in die Zeit, die sie wie einen Alp­traum erlebt hat. Sie spricht im Präsenz, läuft rastlos hin und her, ihre Stimme wird laut vor Erregung.
Sep­tember 2000: Nach dem Tod ihrer Mutter ist Anna S. in einem see­li­schen Aus­nah­me­zu­stand. Nachts macht sie eine „Got­tes­er­fahrung“, wie sie es nennt. Sie bekommt eine Bot­schaft: „Im Leben geht es darum, sich auf die andere Welt hinter dem Vorhang vor­zu­be­reiten.“ Diese Bot­schaft ver­kündet die 36Jährige in den fol­genden Tagen in ihrem Hei­matort. Das löst Irri­tation aus. Ihr Mann ist der Ansicht, dass Anna S. in The­rapie gehört. Es gibt eine kurze Ver­handlung, die Anwältin, die Anna S. pflicht­ver­teidigt, sieht sie das erste Mal im Gerichtssaal. Nach drei­mi­nü­tiger Ver­handlung verfügt der Richter die Ein­weisung in die Psych­iatrie. Knapp zwei Monate ver­bringt Anna S. in der geschlos­senen Abteilung zweier psych­ia­tri­scher Kli­niken. Die Dia­gnose lautet „Manie“. Anna S. bekommt Psy­cho­pharmaka in hoher Dosierung: Timonil (Neu­ro­lep­tikum) 30 mg 2 x täglich, Dia­zepam (Valium) 2 x täglich, Ciatyl (Neu­ro­lep­tikum) 3 x täglich, Truxal (Neu­ro­lep­tikum), 3 x täglich, Flu­anxol (ein Anti-Psy­cho­tikum, obwohl bei Anna „nur“ Manie, aber keine Psy­chose dia­gnos­ti­ziert ist) 2 x täglich. Anna S. bekommt auch ein Ver­hü­tungs­mittel. Sie schluckt die Pillen. Die Neben­wir­kungen sind massiv. U.a. starke Bewe­gungs­stö­rungen. Anna S. zeigt, wie sie sich damals bewegt hat: in extremer Zeitlupe. Weitere Neben­wir­kungen sind Lust­lo­sigkeit, Depres­sionen, Müdigkeit, Antriebs­schwäche. Sich zu unter­werfen und Krank­heits­ein­sicht vor­zu­täu­schen, ist aus Annas Sicht die einzige Chance, so schnell wie möglich aus der geschlos­senen Anstalt raus­zu­kommen. Nach zwei Monaten Zwangs­auf­enthalt in der Psych­iatrie heißt es im Ent­las­sungs­be­richt: „Zum Ende der Zeit war sie gut koope­rativ, gut im Kontakt und konnte auch ein­sehen, dass sie zu Beginn der Behandlung manisch ent­gleist gewesen war.“
Helen F. (Name von der Redaktion geändert) ist nicht bereit, sich zu unter­werfen. Helen F. will den Staat Deutschland am Euro­päi­schen Gerichtshof ver­klagen – wegen Folter. Ihr Vater hat mich gebeten, sie in der Psych­iatrie zu besuchen und ihren Fall zu doku­men­tieren. In einem signal­roten Mantel sitzt die attraktive 37jährige mit den wachen braunen Augen im Auf­ent­haltsraum. In ihrer Hand­tasche jede Menge Papier: Anwalts­schreiben, Arzt­schreiben. Und ein rie­siger Bei­pack­zettel, auf dem unzählige Neben­wir­kungen auf­ge­listet sind. Es geht um Ari­pi­prazol, ein Neu­ro­lep­tikum, das bei Schi­zo­phrenie und Manie ver­ordnet wird. Das hält der Oberarzt für die richtige The­rapie. „Ich habe Angst zu sterben, wenn ich das nehme“, sagt Helen. Seit Neu­ro­leptika in den 1950er-Jahren ein­ge­führt wurden, ist die Ster­berate in der Psych­iatrie stark gestiegen. Neben dem Tod gibt es noch viele andere Nebenwirkungen.
In einer deut­schen medi­zi­ni­schen Datenbank fanden sich im Jahr 2006 bei Ari­pi­prazol 286 Mel­dungen zu psych­ia­tri­schen Stö­rungen, was 72 Prozent aller Mel­dungen zu Ari­pi­prazol über­haupt ent­spricht. Unter anderem: 5 mal Aggression, 13 mal Angst, 15 mal Depression, 6 mal Suizid, 14 mal Sui­zid­versuch, 10 mal Suizid-Ideen. In der WHO-Datenbank wird unter 1.109 Berichten 67 mal „aggressive Reaktion“ und 189 mal Agi­tation genannt. Die ame­ri­ka­nische Zulas­sungs­be­hörde FDA wies 2016 auf „Impuls­kon­troll-Pro­bleme“ unter Ari­pi­prazol hin: Spiel­sucht, Ess­sucht, Sex­sucht, Kauf­sucht und weitere Störungen.
Helen ist außer sich, denn weil sie sich weigert, das Neu­ro­lep­tikum zu nehmen, hat der Oberarzt der Station eine Zwangs-Medi­kation ange­ordnet. Weil sie „nicht krank­heits-ein­sichtig sei und wei­terhin Anhalt auf Fremd­ge­fährdung bestehe“, soll sie fixiert und das Medi­kament inji­ziert werden. Diese Zwangs­be­handlung ist nur noch in abso­luten Aus­nah­me­fällen erlaubt! Dazu gibt es mehrere Urteile. U.a. eines des Ober­lan­des­ge­richts Celle aus dem Jahr 2005: „… Eine Zwangs­be­handlung ist auf betreu­ungs­recht­licher Grundlage rechtlich nicht zulässig und daher nicht geneh­mi­gungs­fähig.“ Und am 24.7.2018 ent­schied das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, dass die Fixierung eines Pati­enten ein Ein­griff in dessen Grund­recht auf Freiheit der Person nach Artikel 104 des Grund­ge­setzes sei. Sie sei nur als letztes Mittel zulässig und müsse von einem Richter genehmigt werden.
Doch warum ist Helen, die auf mich einen see­lisch sehr sta­bilen Ein­druck macht, über­haupt in der geschlos­senen Anstalt gelandet? Sie ist anscheinend das Opfer einer Familien-Intrige. „Meine Mutter und mein Bruder wollten mich los­werden“, sagt sie. Es gehe auch um Geld. Sie zeigt mir das Foto einer haus­ärzt­lichen Über­weisung in die Psych­iatrie mit den Dia­gnosen „para­noide Schi­zo­phrenie, Fremd-Aggres­si­vität, Beein­träch­ti­gungs- und Ver­fol­gungswahn und feh­lende Behand­lungs­mo­ti­vation“. Helen beteuert, dass sie keine Pati­entin ist bei dem Arzt, der die Über­weisung unter­schrieben hat, geschweige denn am Tag der Aus­stellung der Über­weisung in seiner Praxis war. Helens Vater hat eine unab­hängige Psych­ia­terin und Neu­ro­login zu ihr in die Klinik geschickt. In ihrem Gut­achten kommt sie zu dem Schluss: Es gab keinen Grund, Helen in die Psych­iatrie ein­zu­weisen, sie erfreut sich bester see­li­scher Gesundheit, hat aller­dings durch die Ein­weisung einen emo­tio­nalen Schock erlitten. Es gelingt ihrem Vater, Helen mit juris­ti­schem Bei­stand noch vor der ange­drohten Zwangs­be­handlung aus der Psych­iatrie zu holen.
Das Erschre­ckende an diesen beiden Fällen ist: Es ist manchmal ganz einfach, einen Men­schen in die geschlossene Anstalt abzu­schieben. Man braucht anscheinend nur einen guten Plan und die rich­tigen Kon­takte. Das zeigt der Fall von Gustl Mollath, der einen Skandal in der Bank auf­deckte, in der seine Frau arbeitete und wegen angeb­lichen Wahns in der Psych­iatrie landete. Das zeigt der Fall des Tep­pich­kunst­händlers Eberhart Herrmann, der 1995 von einem Psych­iater per Fern­dia­gnose als psy­chisch gestört dia­gnos­ti­ziert wurde. Auf­trag­ge­berin des Gut­achtens war Herr­manns Frau. Das Ehepaar hatte einen Rosen­krieg. Das zeigt der Fall von Ilona Hasel­bauer, die im Clinch mit einer Haus­meis­terin lag. Die Sache ging vor Gericht. Ein Gut­achter beschei­nigte Hasel­bauer eine „que­ru­la­to­rische Per­sön­lich­keits­störung“, Hasel­bauer ver­brachte sieben Jahre in der geschlos­senen Anstalt, bis es Freunden gelang, sie raus­zu­holen. Das Problem der Psych­iatrie: Während soma­tische Krank­heiten sich durch medi­zi­nische Tests nach­weisen lassen, ent­behren alle psych­ia­tri­schen Dia­gnosen jeg­licher wis­sen­schaft­lichen Grundlage. Die Seele lässt sich nicht medi­zi­nisch diagnostizieren.
„Die Psych­iatrie ist ein Tabu-Raum, der jen­seits des Rechts­staates exis­tiert“, sagt Anna S. und drückt mir ihren dicken Ordner mit der Auf­schrift „Unter­lagen psych­ia­trische Klinik“ in die Hand. Sie hatte überlegt zu klagen gegen das Unrecht, das ihr widerfuhr. Und hatte nicht die Kraft dazu. Sie führt ein nor­males Leben. Der Auf­enthalt in der geschlos­senen Anstalt ist eine schlimme Erin­nerung. Die Spi­ri­tua­lität ist seit ihrer Got­tes­er­fahrung in der Nacht nach dem Tod der Mutter geblieben. Eigentlich, meint Anna S., hätte Jesus in der Irren­an­stalt landen müssen. Tat­sächlich haben ihm schon einige Psych­iater Per­sön­lich­keits­stö­rungen attes­tiert. Von reli­giöser Paranoia über dis­so­ziative Iden­ti­täts­störung bis hin zu Schi­zo­phrenie. Im Jahr 2011 ver­öf­fent­lichte ein Team von Psych­iatern, Ver­hal­tens­psy­cho­logen, Neu­ro­logen und Neu­ro­psych­iatern der Harvard Medical School For­schungen  über psych­ia­trische Stö­rungen im Zusam­menhang mit reli­giöser Täu­schung und Hyper­re­li­gio­sität. Sie attes­tierten Abraham, Mose und Jesus Christus schi­zo­af­fektive Störung, manische Depression, Wahn­störung, Grö­ßenwahn, Geschwind-Syndrom und abnorme Erfah­rungen im Zusam­menhang mit der Tem­poral-Lappen-Epi­lepsie. Da fragt man sich, wer hier unter einer para­noiden Per­sön­lich­keits­störung leidet!
Vera Wagner www.weihrauchplus.de