Eine lehr­reiche Lektion über Geld

Kürzlich – ich hatte mir gerade die Live­über­tragung einer EZB-Pres­se­kon­ferenz im Internet ange­schaut – stand ich mit einer Tasse Kaffee auf meiner Ter­rasse und blickte hin­unter auf meinen Hei­matort. EZB-Prä­sident Mario Draghi hatte einmal mehr darauf hin­ge­wiesen, die Inflation im Euroraum sei zu niedrig und deshalb sollten die Anlei­he­käufe wieder auf­ge­nommen werden.
(von Andreas Marquart)

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Meine Hei­mat­ge­meinde hat etwa 2.500 Ein­wohner, und, während mein Blick über die Häuser streifte, stellte ich mir in meiner Fan­tasie vor, der Ort läge völlig abge­legen, völlig abge­schnitten vom Rest der Welt und dass mein Ort in der Lage sei, kom­plett für sich selbst zu sorgen. Die Men­schen hätten alles, was sie brauchten. Es gab Land­wirte, Bäcker und Metzger, ver­schiedene Läden, einen metall­ver­ar­bei­tenden Betrieb, ja sogar einen kleinen Maschi­nen­bauer. Woher das Metall kam? Ein kleines Stück außerhalb des Ortes gab es eine Eisen­erzmine und in einer kleinen, beschei­denen Stahl­hütte wurde das Erz verarbeitet.
Die Men­schen waren fleißig und sparsam. Als Geld ver­wen­deten sie Silber, das in kleinen Mengen als Bei­produkt in der Mine gewonnen wurde. Ihr Silber hatten sie aber nicht zuhause liegen oder trugen es mit sich herum. Nein, es gab im Ort eine Bank. Dorthin brachten die Men­schen ihr Erspartes. Die Bank hatte einen großen Tresor, in dem das Silber ver­wahrt wurde. Der Bankier stellte denen, die ihr Silber brachten, Bestä­ti­gungen aus, auf ganz spe­zi­ellem Papier, mit Stempel und Siegel. Diese Bestä­ti­gungen liefen im Ort als Geld um, als all­gemein akzep­tiertes Tausch­mittel. Die Kunden des Ban­kiers konnten jederzeit in die Bank kommen, um bei Bedarf gegen Vorlage einer solchen Bestä­tigung einen Teil oder ihr ganzes Silber zu holen. Es lag ja im Tresor.
Manche Bewohner teilten dem Bankier mit, wenn sie ihr Silber für eine bestimmte Zeit nicht brauchten, wenn sie bei­spiels­weise aus­rei­chend Erspar­nisse hatten und in nächster Zukunft auch keine Anschaf­fungen planten. Der Bankier ver­merkte das in einer Art Vertrag. Ab und zu kamen nämlich auch Bewohner des Ortes und fragten nach, ob sie einen Kredit bekommen könnten – wenn sie bei­spiels­weise eine Firma gründen wollten, eine gute Geschäftsidee hatten, aber keine Erspar­nisse. Andere wie­derum wollten ein Haus bauen, hatten aber eben­falls nicht genug gespart. Der Bankier prüfte die Pläne der Antrag­steller sehr sorg­fältig. Und wenn er die Risiken für ver­tretbar hielt, gewährte er die Kredite. Er selbst übernahm dafür die Haftung. Er konnte sehr viel Silber sein Eigen nennen und auch mal einen Verlust ver­kraften, wenn – was so gut wie nie pas­sierte – jemand seinen Kredit nicht zurück­zahlen konnte.
Die Bewohner der Gemeinde erzeugten im Laufe der Zeit über sehr viele Güter, Konsum- wie auch Kapi­tal­güter. Die Sil­ber­geld­menge dagegen stieg nur gering­fügig an, denn der Sil­ber­gehalt in den Erz­adern der Mine war sehr niedrig. Die Folge war, dass die Güter­menge schneller anstieg als die Geld­menge und die Kauf­kraft des Geldes im Laufe der Zeit zunahm. Der Zins, der für Kredite zu zahlen war, schwankte. War die Nach­frage nach Kre­diten hoch, dann stieg der Zins an. Dar­aufhin ging die Nach­frage nach Kre­diten eher wieder zurück. Eine Sache von Angebot und Nach­frage eben.
In letzter Zeit war im Ort viel inves­tiert worden. Die Nach­frage nach Kre­diten über­stieg schon beinahe das Angebot, also das, was die Leute gespart und dem Bankier zum Ver­leihen über­lassen hatten. Die Kre­dit­zinsen waren ent­spre­chend hoch. Die meisten Inves­ti­tionen lohnten schon nicht mehr.
Der Bür­ger­meister im Ort war ein ganz ehr­gei­ziger Typ. Geduld war nicht gerade seine größte Cha­rak­ter­stärke. Immer wieder über­legte er, wie der Ort sich noch schneller wei­ter­ent­wi­ckeln könnte, welche Pro­jekte man in Angriff nehmen könnte. Ein großes Gemein­de­zentrum, das war sein Traum, doch dafür reichte das Geld in der Gemein­de­kasse nicht. Und die aller­meisten Bewohner im Ort waren ohnehin der Meinung, dass das eine Nummer zu groß sei für einen solch kleinen Ort und außerdem unnötig. Sie waren nicht bereit, höhere Steuern in Kauf zu nehmen, nur um den über­trie­benen Ehrgeiz des Bür­ger­meisters zu befriedigen.
Der Bür­ger­meister lag dem Bankier schon längere Zeit in den Ohren, ob er der Gemeinde nicht einen grö­ßeren Kredit zur Ver­fügung stellen könne. Der Bankier ver­neinte das, so viel Silber zum Ver­leihen sei nicht da. Eines Tages schlug der Bür­ger­meister, ehr­geizig und findig wie er war, dem Bankier schließlich vor, er könne doch zusätz­liche Bestä­ti­gungen, über die ver­wahrte Sil­ber­menge hinaus, aus­stellen – die Leute würden ihr Silber doch ohnehin nicht holen, daher würde doch auch niemand bemerken, dass mehr Geld in Umlauf käme.
Das sei doch Betrug, ent­gegnete der Bankier ihm. Doch der Bür­ger­meister wollte das nicht hören. Statt­dessen rechnete er dem Bankier vor, wie viel zusätz­lichen Ertrag seine Bank erwirt­schaften könne. Der Bankier zögerte zunächst, doch am Ende dachte er sich: „Eigentlich hat er recht, und den Bewohnern im Ort tue ich sogar noch was Gutes. Schließlich können sie ihre Vor­haben dann früher als geplant und zu güns­ti­geren Kon­di­tionen in Angriff nehmen.“ Gesagt, getan.
Einige Tage später hing ein großes Plakat im Schau­fenster der Bank, auf dem zu lesen war: „Kredit-Son­der­aktion – Zinsen für Kredite wieder gesunken!“ Die Bewohner im Ort wun­derten sich, das hatte es zuvor noch nie gegeben: Kredite im Son­der­an­gebot. Aber sie dachten nicht weiter darüber nach. Im Gegenteil, viele freuten sich sogar, konnten sie ihre Vor­haben nun doch rea­li­sieren, schneller als gedacht – und zu uner­wartet güns­tigen Darlehensbedingungen.
Es dauerte nicht lange und das neue, aus dem Nichts geschaffene Papiergeld zeigte Wirkung. Es boomte regel­recht im Ort. Neue Häuser wurden gebaut, neue Unter­nehmen gegründet und bestehende Unter­nehmen inves­tierten in neue Maschinen. Inves­ti­tionen, die zuvor nicht ren­tabel waren, schienen es nun zu sein. Die Mine kam mit dem Fördern von Erz kaum mehr hin­terher. Und auch das Gemein­de­zentrum wurde schließlich gebaut. Der Bür­ger­meister konnte sowohl den Bankier als auch seinen Gemein­derat über­zeugen. Die zögerten zunächst zwar, aber ange­sichts der güns­tigen Dar­le­hens­kon­di­tionen und der zu erwar­tenden Steu­er­mehr­ein­nahmen wegen der boo­menden Wirt­schaft im Ort gaben sie schließlich grünes Licht.
Aber nicht jeder betei­ligte sich am neuen Kre­ditwahn. Manche wollten nicht, weil sie keine Schulden haben, sondern unab­hängig sein wollten. Andere konnten es sich vom Ein­kommen her einfach nicht leisten, Ange­stellte und Arbeiter mit nied­ri­geren Ein­kommen oder auch Rentner bei­spiels­weise. Schlimmer noch, die hatten unter dem durch den Boom aus­ge­lösten Anstieg der Preise, sowohl für Güter des täg­lichen Bedarfs als auch für Dienst­leis­tungen, sogar zu leiden. Löhne und Renten wurden, wenn über­haupt, dem all­ge­meinen Preis­an­stieg nur mit einer gewissen, zeit­lichen Ver­zö­gerung angepasst.
Die Gemeinde, wie auch Unter­nehmer, konnten dagegen stark pro­fieren. Bei der Gemeinde stiegen wie erwartet die Steu­er­ein­nahmen, bei den Unter­nehmern die Gewinne. Der Bür­ger­meister war der Meinung, für den Erfolg seiner Politik hätte er eine deut­liche Gehalts­er­höhung ver­dient. Der Gemein­derat stimmt dem zu. Auch für die ört­lichen Beamten gab es eine satte Gehalts­stei­gerung. Ober­pro­fiteur war der Bankier – er brauchte nur Zettel aus­zu­stellen und konnte dafür Zinsen einstreichen.
Im Ort herrschte aber trotz des Booms nur bedingt gute Stimmung. Anders als früher. Der Boom teilte die Gemeinde in zwei Lager, in Gewinner, aber noch mehr Ver­lierer. Einige ver­spürten sogar Neid und Miss­gunst. So etwas kannte man vorher nicht. Unter­schiede im Ort gab es schon immer. Die einen war sehr ehr­geizig und ver­dienten eben mehr als andere, denen es auch wichtig war, Freizeit zu haben. Aber die Ungleichheit war nicht sehr groß. Jetzt war alles anders.
Die Nach­frage nach Kre­diten wollte nicht abreißen, sodass sich der Bankier bald nicht mehr wohl­fühlte in seiner Haut. „Ich muss etwas tun“, dachte er sich, „die Preise steigen immer weiter.“ Außerdem grü­belte er immer öfter darüber nach, was denn wohl pas­sieren würde, wenn jemand merken würde, welch betrü­ge­ri­sches Spiel er trieb. Würden die Bürger in großer Zahl in die Bank stürmen und ihre Hin­ter­le­gungs­scheine ein­lösen wollen, hätte er ein echtes Problem und ihm bliebe wohl nichts anderes übrig, als bei Nacht und Nebel das Dorf zu ver­lassen. Seine Befürch­tungen ließen ihn nicht mehr zur Ruhe kommen. Er über­legte hin und her, wie er das Problem, das er sich im Grunde selbst geschaffen hatte, lösen konnte. Hätte er nur nicht auf den Bür­ger­meister gehört.
Nach langem Über­legen beschloss er, die Zinsen für Dar­lehen deutlich anzu­heben. Und zwar so deutlich, dass er die Kre­dit­nach­frage damit in kür­zester Zeit abwürgen würde. Wenn er dann für eine gewisse Zeit keine neuen Kredite mehr vergäbe, könnte er die über­zäh­ligen, unge­deckten Hin­ter­le­gungs­scheine aus dem Umlauf bringen. Darin sah er die einzige Chance, heil aus der Nummer herauszukommen.
Am nächsten Tag hängte der Bankier ein Plakat ins Schau­fenster der Bank, auf dem er die neuen Kre­dit­kon­di­tionen mit­teilte. Wieder war das Erstaunen im Ort groß, vor allem bei denen, die dau­erhaft auf bil­liges Kre­ditgeld gesetzt hatten. Sie sahen plötzlich ihre Inves­ti­tionen bedroht. Wenn die erwar­teten Umsatz­stei­ge­rungen aus­blieben, würden alle ursprüng­lichen Kal­ku­la­tionen zur Maku­latur. Und so kam es.
Die Stimmung im Ort kippte in Richtung Depression: Geplante Inves­ti­tionen wurden gestrichen. Auf­träge stor­niert. Arbeiter ent­lassen. Zahl­reiche Firmen mussten in die Insolvenz gehen. Die Preise für fast alle Güter und Dienst­leis­tungen fielen zurück auf das Niveau, wie es vor dem künst­lichen Boom geherrscht hatte. Einige Unter­nehmen und auch Pri­vat­leute konnten Ihre Kredite beim Bankier nicht mehr zurück­zahlen. Der ver­folgte die Ent­wicklung mit Argus­augen. Hätte er nur nicht auf den Bür­ger­meister gehört, so dachte er immer wieder. Der hatte ihn seit Aus­bruch der Krise schon mehrmals auf­ge­sucht und ihn ani­miert, die Zinsen wieder zu senken und wieder mehr Hin­ter­le­gungs­scheine aus­zu­geben. Doch der Bankier blieb hart. Er war fest ent­schlossen, die über­schüs­sigen Scheine aus dem Verkehr zu ziehen. Seine größte Angst war jedoch, dass so viele Kre­dit­nehmer ihre Schulden nicht zurück­zahlen konnten, dass es ihn am Ende seine eigene Existenz kosten würde.
Es ver­gingen mehrere Monate, bis sich die wirt­schaft­liche Situation halbwegs nor­ma­li­siert hatte. Die Bewohner im Ort hatten begonnen, wieder mehr zu sparen und sich wieder auf ihre alten Tugenden besonnen. Inzwi­schen gingen auch keine Unter­nehmen mehr bankrott. Der Bankier war mit einem blauen Auge davon­ge­kommen. Dem Bür­ger­meister hatte er in einer ruhigen Stunde erklärt, warum er so unnach­giebig geblieben war und war über­zeugt, dass es für den Bür­ger­meister am Ende genauso eine lehr­reiche Lektion war wie für ihn selbst. „Wohl­stand lässt sich nun einmal nicht aus dem Nichts erzeugen“, so der Bankier ein­sichtig zum Bürgermeister.
Meinen Kaffee hatte ich inzwi­schen aus­ge­trunken und war mit meinen Gedanken wieder in der Rea­lität ange­kommen. Ich dachte: „Hätte es im Ort eine Zen­tralbank gegeben, hätte es länger gedauert und erst noch schlimmer kommen müssen, bis der Lern­effekt ein­ge­treten wäre.“
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Andreas Mar­quart ist Vor­stand des “Ludwig von Mises Institut Deutschland”. Er ist Honorar-Finanz­be­rater und ori­en­tiert sich dabei an den Erkennt­nissen der Öster­rei­chi­schen Geld- und Kon­junk­tur­theorie. Im Mai 2014 erschien sein gemeinsam mit Philipp Bagus geschrie­benes Buch “WARUM ANDERE AUF IHRE KOSTEN IMMER REICHER WERDEN … und welche Rolle der Staat und unser Papiergeld dabei spielen”, im März 2017, eben­falls gemeinsam mit Philipp Bagus: Wir schaffen das – alleine! Im August neu erschienen im Finanz­Buch­verlag: Crashkurs Geld.

Quelle: misesde.org