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Libyen: Die Chro­no­logie und die aktuelle Situation

Die Situation in Libyen ist unüber­sichtlich, taucht aber immer wieder in den Schlag­zeilen auf. Daher habe ich eine Chro­no­logie zusam­men­ge­stellt und die heutige Situation zusammengefasst.

Ich wollte schon lange zu der Situation in Libyen schreiben, bin dazu aber bisher nicht gekommen. Heute fand ich ich bei der TASS eine gute und kom­pakte Zusam­men­stellung, die ich auch ähnlich geschrieben hätte. Ich habe sie daher über­setzt, auch um Ihnen zu zeigen, wie die Situation in Libyen von rus­si­schen Jour­na­listen beur­teilt wird.

Beginn der Übersetzung:

Der seit 2014 andau­ernde Bür­ger­krieg in Libyen nimmt eine uner­wartete Wendung. Die Türkei tritt in die Kämpfe ein, die von der von den Ver­einten Nationen unter­stützten Regierung gegen das von ihr nicht aner­kannte Par­lament geführt werden. Auf Ersuchen der Regierung ent­sandte Ankara Streit­kräfte in das Kon­flikt­gebiet. Die dem Par­lament loyale Armee von Kom­mandant und Feld­mar­schall Haftar reagierte, indem sie die stra­te­gisch wichtige Stadt Sirte an der Mit­tel­meer­küste eroberte. So kam Haftar der Haupt­stadt Tri­polis, die er schon seit April 2019 erobern will, näher. Eine Chro­no­logie der Ent­wicklung des Kon­fliktes in dem Land.

Wer und warum haben die Kämpfe begonnen?

Seit 2011, als die von der NATO unter­stützten liby­schen Rebellen Muammar al-Gaddafi stürzten, hat das Land keinen dau­er­haften Frieden mehr gekannt. Seit 2014 kommt es zu Zusam­men­stößen, die bis heute andauern. Die damals abge­hal­tenen Par­la­ments­wahlen stießen auf Kritik von gemä­ßigten Isla­misten, die ihre Posten ver­loren hatten. Aus Angst um ihre Sicherheit zogen die Abge­ord­neten von Tri­polis, das von ihnen feindlich gesinnten Milizen kon­trol­liert wurde, in die Stadt Tobruk im Osten des Landes. Die Gesetz­geber bil­deten dann ihre eigenen Kampf­ein­heiten: so wurde die Libysche Natio­nal­armee (LNA) gegründet, die bald von Feld­mar­schall Chalifa Haftar ange­führt wurde. Die Macht in Tri­polis blieb bei der Regierung der Natio­nalen Rettung, die im vor­he­rigen Par­lament die Macht gehabt hatte.

2015 hatte Libyen kurz­zeitig Hoffnung auf Frieden: Das neue Par­lament und seine Gegner schlossen das Sherat-Abkommen über die Bildung der Regierung der Natio­nalen Einigung. Die neue Regierung bekam die Unter­stützung der UNO. Jedoch hatte es niemand eilig, ihr die nötigen Befug­nisse zu über­tragen. Die Bezie­hungen zwi­schen den Ver­trags­par­teien ver­schlech­terten sich wieder. Und während es der Regierung der Natio­nalen Einheit gelang, mit der Regierung der Natio­nalen Rettung fertig zu werden, gelang ihr das mit dem Tobruk-Par­lament nicht. Anfang 2019 star­teten par­la­mentstreue Truppen eine Offensive auf Tri­polis. Sie konnten die Stadt jedoch nicht erobern: Der geschei­terte Angriff ver­wan­delte sich in einen lang­wie­rigen Stel­lungs­krieg. Die Kämpfe erfassten nicht das ganze Land: Im Süden blieb die Macht in den Händen lokaler Stammesmilizen.

Wer ist Feld­mar­schall Haftar?

Chalifa Haftar, 76 Jahre alt, ist eine Schlüs­sel­figur in den Ereig­nissen. In den Gebieten, die die Macht des Par­la­ments aner­kennen, genießt sein Militär bedin­gungslose Auto­rität. Unter­stützung bekommt der Mar­schall von den Gegnern aller Isla­misten, ein­schließlich der Gemä­ßigten. Es gibt viele Unter­stützer für diesen Kurs, zum Bei­spiel Ägypten und die Ver­ei­nigten Ara­bi­schen Emirate. Nach Angaben des Pen­tagon sind diese Länder bereits in die inner­li­bysche Kon­fron­tation ver­wi­ckelt: Sie helfen der Armee des Par­la­ments mit ihren Flugzeugen.

Auf Haftars Seite ist auch ein Teil derer, die nost­al­gisch der Zeit von Muammar al-Gaddafi nach­trauern. 1969 gehörte der zukünftige Mar­schall zu denen, die dem zukünf­tigen Dik­tator halfen, an die Macht zu kommen. Doch in den späten 1980er Jahren trennten sich ihre Wege: Haftar wurde im benach­barten Staat Tschad gefangen genommen und schloss sich, einmal im Gefängnis, den Ver­schwörern an, die in seiner Heimat einen Staats­streich planten. Nach dessen Scheitern lebte Haftar in den Ver­ei­nigten Staaten: Ihm hätte die Todes­strafe gedroht, wäre er nach Libyen zurück­ge­kehrt. Trotz der Tat­sache, dass Gaddafi und Haftar zu Feinden geworden sind, hatten sie viel gemeinsam: mili­tä­ri­sches Cha­risma, den Regie­rungsstil, die kate­go­risch negative Haltung gegenüber dem radi­kalen Islam und die Bereit­schaft, mit Gewalt gegen ihn vor­zu­gehen. Haftar ist bereit, auch in Bezug auf illegale Migration als Nach­folger Gad­dafis zu agieren: er will sie mit allen Mitteln eindämmen.

Wer steht gegen Haftar?

Die von den Ver­einten Nationen aner­kannte Regierung der Natio­nalen Einigung wird von einem Poli­tiker geleitet, der nicht zu Gad­dafis Entourage gehörte. Faiz Sar­radsch, 59, ist der Sohn eines Ministers in der Regierung von König Idris I., der 1969 von dem zukünf­tigen Dik­tator gestürzt wurde. Er genießt die Sym­pathie der EU-Länder und vor allem der Türkei. Die mili­tä­ri­schen Fähig­keiten der legi­timen Regierung lassen jedoch zu wün­schen übrig. Anfang 2020 kon­trol­lieren sie nur einen schmalen Teil des Küs­ten­streifens mit Tri­polis im Zentrum.

Im Dezember 2019 rief Sar­radsch die inter­na­tionale Gemein­schaft auf, ihn gegen Haftar zu unter­stützen. Ankara reagierte auf den Aufruf. Es folgte eine Ver­ein­barung über die Ent­sendung tür­ki­scher Truppen auf liby­sches Ter­ri­torium. Das Mandat für ihren Auf­enthalt gilt für ein Jahr. Nach Angaben des tür­ki­schen Prä­si­denten Recep Tayyip Erdogan wird sich sein Militär auf die Aus­bildung der lokalen Streit­kräfte und die Koor­di­nierung ihrer Aktionen beschränken. Gleich­zeitig hat er nicht aus­ge­schlossen, dass Kämpfer syri­scher Gruppen, die mit Ankara befreundet sind, in Libyen ein­treffen werden. Diese könnten direkt an vor­derster Front stehen.

Neben der mili­tä­ri­schen hat das tür­kisch-libysche Bündnis auch eine wirt­schaft­liche Kom­po­nente. Die Länder haben einen Vertrag über die Abgrenzung aus­schließ­licher Wirt­schafts­zonen im Mit­telmeer geschlossen. Das Abkommen erlaubt es der Türkei, Ansprüche auf einen bisher nicht in ihrem Besitz befind­lichen Teil des Meeres geltend zu machen. In Grie­chenland, Israel und Zypern ist man der Ansicht, der Pakt schade den Inter­essen anderer Mit­tel­meer­an­rainer. Ob sie wollen oder nicht, sie werden so auch in den inner­li­by­schen Kon­flikts gezogen.

Was droht dem Rest der Welt durch den Krieg in Libyen?

Die Bedeutung Libyens für seine Nachbarn und für Russland wird durch seine geo­gra­fische Lage am Kno­ten­punkt der Migra­ti­ons­ströme bestimmt. Migranten aus Afrika südlich der Sahara sind seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi 2011 in das Land gekommen. Die Gesamtzahl der ille­galen Migranten wird auf 800.000 geschätzt. Die Rückkehr des Friedens nach Libyen würde es der neuen Regierung ermög­lichen, diesen Strom zu stoppen. Ande­rer­seits könnte ein wei­teres Abgleiten des Landes ins Chaos zu einem neuen Zustrom ille­galer Ein­wan­derer in die Euro­päische Union führen.

Die Angst der EU vor Migranten ist eine der Trumpf­karten in den Händen von Feld­mar­schall Haftar, der bereit ist, mili­tä­risch zu handeln, um die Migranten zu stoppen. Die Kehr­seite dieses Ansatzes ist eine massive Ver­letzung der Menschenrechte.

Wenn der Bür­ger­krieg in Libyen endet, könnten sich auch Ver­än­de­rungen auf dem glo­balen Ölmarkt ergeben. Die Heimat von Haftar und Gaddafi hat die größten bekannten Reserven an schwarzem Gold in Afrika. Während des anhal­tenden Kon­flikts sind die Mög­lich­keiten För­derung und Ver­marktung der Boden­schätze jedoch begrenzt.

Was ist Russ­lands Position?

Die rus­sische Regierung ist für eine baldige Aus­söhnung zwi­schen den Kriegs­par­teien. Im Januar 2020 rief Wla­dimir Putin zusammen mit Recep Tayyip Erdogan zu einem Waf­fen­still­stand auf, der am 12. Januar beginnen sollte, jedoch von den Kon­flikt­par­teien abge­lehnt wurde. Der Kreml weist die Vor­würfe der Türkei zurück, rus­sische Bürger seien auf Seiten von Feld­mar­schall Haftar in den Libyen-Kon­flikt ver­wi­ckelt. Der Sprecher des rus­si­schen Prä­si­denten, Dmitri Peskow, betont, dass die rus­sische Regierung die Bewe­gungs­freiheit aller ihrer Lands­leute nicht kon­trol­lieren kann, auch wenn sie in ein Kriegs­gebiet reisen.

Ende der Übersetzung


Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru

Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“