EU-Kom­mission nach BVG-Urteil über EZB-Pro­gramm: EU-Recht steht über dem deut­schen Grundgesetz

Heute hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt die Ankäufe von Staats­an­leihen der Euro-Länder für teil­weise ver­fas­sungs­widrig erklärt. Das ver­ärgert die EU-Kom­mission und könnte theo­re­tisch die Hilfs­pro­gramme der EU im Zuge der Coro­na­krise verhindern.

Die Klage hatten Euro-Kri­tiker vor einigen Jahren ein­ge­reicht, denn die EZB hat nach der Grie­chen­land­krise ange­fangen, im großen Stil Staats­an­leihen der Euro­länder zu kaufen. Da laut Maas­tricht-Vertrag der EZB die Finan­zierung der Euro-Staaten ver­boten ist, sahen die Kläger eine Ver­letzung dieser Vorschrift.

Das BVG hat nur einem Teil der Klage statt­ge­geben, eine unzu­lässige Staats­fi­nan­zierung durch die EZB sah auch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt nicht.

2018 hat bereits der EuGH dazu eine Ent­scheidung gefällt und er hat der EZZB quasi einen Per­sil­schein für alles erteilt. Umso über­ra­schender, dass nun das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt (BVG) dazu ein anders lau­tendes Urteil gefällt hat und den EuGH deutlich kri­ti­siert hat. So kann man in dem Urteil zum Bei­spiel lesen:

„Dass der Gerichtshof den Wir­kungen eines Ankauf­pro­gramms von Anleihen dagegen sowohl bei der Bestimmung der Ziel­setzung des ESZB als auch im Rahmen der Prüfung der Ver­hält­nis­mä­ßigkeit jede recht­liche Bedeutung abspricht, ist metho­disch nicht mehr vertretbar.“

Die ver­nich­tende Kritik des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richtes an dem EuGH-Urteil fasst das Han­dels­blatt so zusammen:

„Außerdem erklärte das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ein Urteil des Euro­päi­schen Gerichtshofs (EuGH) vom Dezember 2018 zum Kauf­pro­gramm der EZB für nicht bindend. Der EuGH hatte das EZB-Pro­gramm in allen Punkten gebilligt. Diese Vor­ab­ent­scheidung aus Luxemburg sei „schlech­ter­dings nicht mehr nach­voll­ziehbar“, hieß es nun in der Ent­scheidung der deut­schen Verfassungsrichter.“

Aber was bedeutet das BVG-Urteil nun?

Zunächst muss man fest­halten, dass sich das Urteil nur auf eines der EZB-Pro­gramme bezieht, auf das soge­nannte PSPP. Das ist aller­dings das größte der Pro­gramme. Ins­gesamt hat die EZB aktuell Staats­an­leihen der Euro-Staaten im Wert von 2.611 Mil­li­arden Euro in ihren Büchern. 2016 waren das noch ca. 1,300 Mil­li­arden und auf PSPP ent­fielen 1.000 Mil­li­arden. PSPP umfasst derzeit also wahr­scheinlich etwa 2.000 Mil­li­arden Euro.

Dass sich das Urteil nur auf eines, wenn auch das größte der Pro­gramme, bezieht, gilt es aus­drücklich nicht für die geplanten EU-Pro­gramme für die Coro­na­hilfen. In Deutschland waren die ersten Reak­tionen der Politik daher auch recht entspannt.

Aber das Urteil sorgt im Ausland trotzdem für Unsi­cherheit, denn das Ver­fas­sungs­ge­richt könnte später auch über die geplanten Corona-Hilfs­pro­gramme ein ähn­liches Urteil fällen. Im Han­dels­blatt konnte man dazu lesen:

„So schreiben die Ana­lysten der Invest­mentbank der fran­zö­si­schen Volks­banken und Spar­kassen, Natixis: „Das deutsche Ver­fas­sungs­ge­richt ent­schied heute Morgen gegen das EZB-Staats­an­leihen-Kauf­pro­gramm.“ Aller­dings habe das Gericht eine Tür offen gelassen, um die Situation auf­zu­lösen. „In jedem Fall ist das Urteil nur für die Bun­desbank bindend. Andere nationale Zen­tral­banken dürfen weiter Staats­an­leihen auf­kaufen, und werden das auch tun.““

Die EU-Kom­mission war direkt nach dem Urteil wohl in Panik. Und zwar wohl ohne das Urteil gelesen zu haben, denn Reuters meldete, dass ein Ver­treter der EU-Kom­mission sofort mit­ge­teilt hat, das EU-Recht über natio­nalem Recht stehe. Das ist eine sehr frag­würdige Aussage, immerhin reden wir vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt und damit von der deut­schen Ver­fassung. Wenn Ent­schei­dungen von irgend­welchen Beamten aus Brüssel über der deut­schen Ver­fassung stehen, dann muss man sich fragen, wozu die Ver­fassung über­haupt gebraucht wird.

In der Praxis wird das Urteil aber aus einem prak­ti­schen Grund keine Aus­wir­kungen haben. Wer nach einigen der heu­tigen Über­schriften in den Medien die Hoffnung hat, Deutschland würde aus den umstrit­tenen EZB-Pro­grammen zum Kauf von Staats­an­leihen aus­steigen, der dürfte sich zu früh freuen. Das Urteil hat nämlich nur fest­gelegt, dass die EZB dem Bun­destag und der Bun­des­re­gierung die Mög­lichkeit geben muss, die Ver­hält­nis­mä­ßigkeit der Maß­nahmen zu prüfen. Die EZB muss der Bun­des­re­gierung laut Urteil die Mög­lichkeit dazu geben und die Regierung muss die Ver­hält­nis­mä­ßigkeit innerhalb von drei Monaten prüfen.

Da sowohl die EZB, als auch die Bun­des­re­gierung an dem Pro­gramm fest­halten wollen, ist zu erwarten, dass die EZB der Bun­des­re­gierung irgend­welche Zahlen schickt, die dann irgendein Beamter „über­prüft“ und dabei zu dem Schluss kommt, die Ver­hält­nis­mä­ßigkeit sei gewahrt. Damit wären die Vor­gaben des BVG-Urteils erfüllt. Die Frage zu erörtern, was pas­sieren würde, wenn die Bun­des­re­gierung zu dem Schluss käme, das Pro­gramm sei unver­hält­nis­mäßig, ist daher müssig. Das wird nicht geschehen.

Man kann das EZB-Pro­gramm gut oder schlecht finden und es mag – so aus­führlich, wie das Urteil des BVG ist – viele juris­tische Spitz­fin­dig­keiten dabei geben, aber eines ist unbe­streitbar: Indem die EZB – und damit auch die Bun­desbank – Staats­an­leihen kauft, ohne vom Bun­destag dazu ermächtigt zu sein und ohne dafür eine Ober­grenze bekommen zu haben, erhöht die EZB die Risiken für den deut­schen Staats­haushalt, denn sollte eines der Euro-Länder pleite gehen, wäre das Geld weg. Deutschland könnte also über Nacht hun­derte Mil­li­arden Euro mehr Staats­schulden haben.

Da in einer Demo­kratie die Ent­schei­dungs­gewalt über den Staats­haushalt das höchste Gut ist (ohne Geld kann bekanntlich kein Projekt umge­setzt werden), wird damit ein demo­kra­ti­sches Kern­prinzip aus­ge­hebelt, denn der Bun­destag kann bei den Pro­grammen nicht mit ent­scheiden, obwohl es um zukünftige Risiken für den Staats­haushalt geht.

Der EuGH hat mit seinem Urteil von 2018 der Demo­kratie den Mit­tel­finger gezeigt. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat heute ein formal kor­rektes Urteil gesprochen, das aber in der Praxis die Demo­kratie trotzdem aus­höhlt, weil das BVG eine Brücke gebaut hat, mit der die EZB ihre unde­mo­kra­tische Praxis wei­ter­führen kann. Demo­kra­tisch wäre es, wenn alle Par­la­mente der Euro-Länder der EZB das Pro­gramm erstens genehmigt und zweitens auch Regeln und Ober­grenzen fest­gelegt hätten. So aber hat sich die EZB der demo­kra­ti­schen Kon­trolle ent­zogen und das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat daran im Kern nichts geändert.

Das dürfte die EU-Kom­mission freuen, denn demo­kra­tische Kon­trolle ist den EU-Kom­mis­saren seit jeher zuwider. Oder wie sonst soll man es ver­stehen, dass sie sich jeder demo­kra­ti­schen Kon­trolle kon­se­quent entziehen?

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Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.


Quelle: anti-spiegel.ru