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Türkei: Erdogans “Reste des Schwertes”

Während eines Coro­na­virus-Brie­fings am 4. Mai benutzte der tür­kische Prä­sident Recep Tayyip Erdoğan eine äußerst abfällige For­mu­lierung: “die Reste des Schwertes”.

(von Uzay Bulut)

“Wir lassen nicht zu”, sagte er, “dass ter­ro­ris­tische Reste des Schwertes in unserem Land ver­suchen, [ter­ro­ris­tische] Akti­vi­täten durch­zu­führen. Ihre Zahl ist stark zurück­ge­gangen, aber sie exis­tieren immer noch.”

“Reste des Schwertes” (kılıç artığı auf Tür­kisch) ist eine in der Türkei häufig gebrauchte Belei­digung, die sich oft auf die Über­le­benden der christ­lichen Mas­saker bezieht, die sich haupt­sächlich gegen Armenier, Griechen und Assyrer im Osma­ni­schen Reich und dessen Nach­folger, der Türkei, richteten.

Es ist auf vielen Ebenen alar­mierend, dass Erdoğan als Staats­ober­haupt diesen Aus­druck öffentlich ver­wendet. Der Aus­druck beleidigt nicht nur die Opfer und Über­le­benden der Mas­saker, sondern gefährdet auch die Sicherheit der schwin­denden christ­lichen Gemein­schaft in der Türkei, die oft einem Druck aus­ge­setzt ist, der Angriffe auf Leib und Leben einschließt.

Aus Protest schrieb Garo Paylan, ein arme­ni­scher Abge­ord­neter im tür­ki­schen Par­lament, auf Facebook:

“In seiner hass­erfüllten Rede gestern Abend benutzte Erdoğan wieder einmal den Aus­druck ‘Reste des Schwertes’.

“ ‘Reste des Schwertes’ wurde erfunden, um sich auf Wai­sen­kinder wie meine Groß­mutter zu beziehen, die den Völ­kermord an den Arme­niern [1915] überlebt haben. Jedes Mal, wenn wir diese Phrase hören, bluten unsere Wunden wieder.”

Auch andere arme­nische Akti­visten und Schrift­steller in sozialen Medien kri­ti­sierten Erdoğan. Die Jour­na­listin Aline Ozinian schrieb:

“Für die­je­nigen, die nicht wissen, dass ‘ter­ro­ris­tische Reste des Schwertes’ arme­nische ‘Ter­ro­risten’ sind, die den Völ­kermord überlebt haben und nicht durch das Schwert abge­schlachtet werden konnten. Was bedeutet ‘Ter­rorist’? Nun, das ändert sich täglich: Es kann ein Jour­nalist, ein Ver­treter der Zivil­ge­sell­schaft, ein Schrift­steller, ein Arzt oder die Mutter eines schönen Kindes sein.”

“Sie wollen nicht die­je­nigen, die das Schwert gehalten haben”, fuhr sie fort, “sondern die Enkel­kinder der Über­le­benden eines Volkes und einer Kultur, die durch das Schwert abge­schlachtet wurden, sollen beschämt werden”.

Der Kolumnist Ohannes Kılı­çdağı schrieb:

“Denken Sie an ein Land, das in der poli­ti­schen Kultur und Sprache aktiv eine Phrase wie ‘Reste des Schwertes’ ver­wendet. Er wird von den höchsten Behörden ver­wendet. Aber die­selben Behörden des­selben Landes behaupten, dass es ‘in unserer Geschichte kein Mas­saker gibt’. Wenn es kein Mas­saker gibt, woher kommt dann diese For­mu­lierung? Auf wen bezieht er sich?”

Die Ver­brechen, die die Türkei zu ver­bergen ver­sucht, indem sie den Opfern die Schuld gibt, sind eigentlich gut doku­men­tierte his­to­rische Fakten. Im Jahr 2019 ver­öf­fent­lichten bei­spiels­weise die His­to­riker Pro­fessor Benny Morris und Dror Ze’evi ein Buch mit dem Titel Der drei­ßig­jährige Völ­kermord: Die Ver­nichtung der christ­lichen Min­der­heiten in der Türkei, 1894–1924 (“The Thirty-Year Genocide: Turkey’s Des­truction of Its Christian Mino­rities, 1894–1924″), in dem “die rie­sigen Mas­saker beschrieben werden, die das Osma­nische Reich und dann die Tür­kische Republik an ihren christ­lichen Min­der­heiten verübt haben”. Nach ihren Recherchen:

“Zwi­schen 1894 und 1924 fegten drei Wellen der Gewalt über Ana­tolien hinweg und rich­teten sich gegen die christ­lichen Min­der­heiten der Region, die zuvor 20 Prozent der Bevöl­kerung aus­ge­macht hatten. Bis 1924 waren die Armenier, Assyrer und Griechen auf 2 Prozent der Bevöl­kerung redu­ziert worden”.

Während des Völ­ker­mords beinhaltete die Ver­nich­tungs­po­litik der Täter “vor­sätz­liche Mas­sen­tötung, mör­de­rische Depor­tation, erzwungene Bekehrung, Mas­sen­ver­ge­wal­tigung und brutale Ent­führung. Und noch etwas war eine Kon­stante: der Schlachtruf des Dschihad”.

Wie die Christen wird auch die ale­vi­tische Gemein­schaft in der Türkei als “Rest des Schwertes” ins Visier genommen. So bezeichnete der Ver­bündete von Erdoğan, Devlet Bahçeli, der Chef der Partei der Natio­na­lis­ti­schen Bewegung (MHP), den Jour­na­listen Abdül­kadir Selvi 2017 als “Rest des Schwertes”, um auf seine angeb­lichen ale­vi­ti­schen Wurzeln hin­zu­weisen. Der regie­rungs­freund­liche Jour­nalist Ahmet Taş­ge­tiren beschrieb den Satz dann wie folgt:

“Man löscht eine Einheit (eine Gesell­schaft, eine Reli­gi­ons­ge­mein­schaft, eine Armee) aus, die man als ‘der Feind’ betrachtet. Was übrig bleibt, ist eine Gruppe von Men­schen, die die Schwerter überlebt haben und sich Ihnen ergeben haben. Das sind die Reste des Schwertes”.

Selvi ver­suchte dann zu erklären, warum er kein “Rest des Schwertes” ist:

“Ich möchte Bahçeli daran erinnern: Mein Groß­vater, Osman, war ein Sohn des Hei­mat­landes, das von einer Front­linie zur anderen verlief und der im osma­nisch-rus­si­schen Krieg gefangen genommen wurde. Ich bin ein Enkel der oghu­si­schen Türken; meine Vor­fahren, Hasan und Hüseyin, wurden im Jemen zu Mär­tyrern. Diese Ehre genügt mir”.

Die Erklärung Selvis zeigt einmal mehr, dass die Tat­sache, christ­liche, ale­vi­tische oder andere nicht-mus­li­mische Wurzeln zu haben, von vielen in der Türkei als Belei­digung oder schänd­liches Ver­gehen ange­sehen wird. Anstatt zu erklären, warum es inak­zep­tabel ist, jemanden als “ein Rest des Schwertes” zu bezeichnen, ver­suchte Selvi, seine “rein­rassige” tür­kische Her­kunft und seinen sun­ni­tisch-mus­li­mi­schen Glauben zu beweisen.

“Heute ist weniger als ein halbes Prozent der tür­ki­schen Bevöl­kerung christlich — das Ergebnis einer Geschichte, in der die Türken die ein­hei­mi­schen Christen der Region ver­folgt haben”, schrieb der His­to­riker Dr. Vasi­leios Meichanetsidis.

“Viele Türken sind immer noch stolz auf diese Geschichte, ohne jeden Versuch, ihr ehrlich ins Gesicht zu sehen oder den Respekt vor den Opfern zu retten. Tat­sächlich bezeichnen sie die Opfer fälsch­li­cher­weise als Täter, loben die Ver­brecher und belei­digen die Erin­nerung an die Opfer und ihre Nachkommen.”

Die Ver­wendung von “Reste der Schwerter” stellt daher keine Leugnung von Mas­sakern oder Völ­ker­morden dar. Im Gegenteil, es erklärt den Stolz der Täter. Es bedeutet: “Ja, wir haben Christen und andere Nicht-Muslime abge­schlachtet, weil sie es ver­dient hatten!”

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Uzay Bulut, eine tür­kische Jour­na­listin, ist ein Distin­gu­ished Senior Fellow am Gatestone Institute.


Quelle: gatestoneinstitute.com