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Interview mit Renato Cristin: Der große Reset »nährt die Säku­la­ri­sierung« und »ent­christ­licht Gesellschaft«

Die »Great Reset«-Initiative des Welt­wirt­schafts­forums wird den Kapi­ta­lismus ver­ge­mein­schaften, die Gesell­schaft tech­no­kra­ti­sieren, die Säku­la­ri­sierung fördern und den Weg für eine ent­christ­lichte Welt ebnen, warnte der ita­lie­nische Phi­lo­so­phie­pro­fessor Renato Cristin.

Der Vor­schlag, der von den Staats- und Regie­rungs­chefs der Welt unter­stützt wird und darauf abzielt, eine nach­hal­tigere Zukunft zu schaffen und nach der Coro­na­virus-Krise Soli­da­rität auf­zu­bauen, würde den gegen­wär­tigen Prozess der Säku­la­ri­sierung und Ent­christ­li­chung »ver­schlimmern«, und die Kirche sollte kein Teil davon sein, meint Prof. Cristin, der phi­lo­so­phische Her­me­neutik an der Uni­ver­sität von Triest in Italien lehrt.

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Als glü­hender Anti­kom­munist, der einen Nürn­berger Prozess für den Kom­mu­nismus gefordert hat, kom­men­tierte Cristin die Initiative für einen Artikel im National Catholic Register, der am 4. Februar über den Great Reset ver­öf­fent­licht wurde.

Warum denken Sie, dass Papst Fran­ziskus und der Vatikan sich mit Initia­tiven wie The Great Reset, dem Council for Inclusive Capi­talism, Mission 4.7, den Sus­tainable Deve­lo­pment Goals der UN usw. verbünden?

Renato Cristin: Ich denke, dass Papst Berg­oglio prin­zi­piell jeder Initiative zustimmt, die dem kapi­ta­lis­ti­schen System auch nur minimal feindlich gesinnt ist. Seine Vision, die stark auf der Befrei­ungs­theo­logie oder auf jener poli­ti­schen Theo­logie basiert, die ihren Ursprung in Latein­amerika hat und anti­westlich (und besonders anti-ame­ri­ka­nisch), anti­ka­pi­ta­lis­tisch, fort­schrittlich, pro-mar­xis­tisch und im Wesent­lichen kom­mu­nis­tisch ist, bringt ihn dazu, jedes sozial-öko­no­mische Projekt zu umarmen, das einige dieser Cha­rak­te­ristika auf­weist. Bei­spiele dafür sind der Bei­tritt zum Projekt »Great Reset« oder zum »Global Compact for Migration« der UNO, aber auch die enge Beziehung zwi­schen dem Vatikan und China, mit dem Berg­oglio in großer Har­monie zu sein scheint, bis zu dem Punkt, dass einer der engsten Ver­trauten Berg­o­glios, Bischof Marcelo Sánchez Sorondo, behauptet, dass »die­je­nigen, die die Sozi­al­lehre der Kirche am besten umsetzen, die Chi­nesen sind«, und so China »eine mora­lische Führung über­nimmt, die andere auf­ge­geben haben.« China als mora­lische Füh­rungs­macht der Welt ist ein Bild, das zu grotesk ist, um glaub­würdig zu sein, aber es ist nützlich für Berg­o­glios Argu­men­tation gegen das kapi­ta­lis­tische sozio­öko­no­mische System und in seinem par­al­lelen Lob der Armut als wirk­sames Instrument der Annä­herung an Gott. Und in diese Richtung geht auch das Projekt mit dem Titel Die Öko­nomie des Fran­ziskus, das die Theorie einer »gemein­schaft­lichen Öko­nomie« ver­tritt, die jen­seits der schönen Formel im offenen Gegensatz zum west­lichen kapi­ta­lis­ti­schen System steht und zu sehr gefähr­licher Ver­armung und sozia­lis­ti­schen Aben­teuern führt.

Glauben Sie, dass das Buch The Great Reset von Klaus Schwab und Thierry Mal­leret, auf dem die Agenda des Welt­wirt­schafts­forums basiert, so seriös ist, wie manche behaupten: ein Versuch, den chi­ne­si­schen Kom­mu­nismus mit dem Kapi­ta­lismus zu ver­schmelzen, ein neu ver­packter Mar­xismus oder Ihrer Meinung nach etwas anderes, das viel­leicht einfach ein huma­nis­ti­sches Ideal bietet?

Rento Cristin: Schwabs Buch ist ein typi­sches Bei­spiel für die Krise der gegen­wär­tigen Welt, für den Mangel nicht nur an Gewiss­heiten, sondern auch an Ideen, ver­standen als feste, klare und solide Punkte, auf denen man die Zukunft auf­bauen kann. The Great Reset ist ein Bei­spiel für diesen Mangel und für die geistige Ver­wirrung, mit der die Men­schen ver­suchen, Ant­worten zu finden. Ich denke, dass die west­liche Welt heute aus vielen Gründen, für die ich hier nicht den Platz habe, sie zu erklären, unter dem steht, was ich »das Zeichen des Chaos« nenne, und dass selbst Ver­suche wie der Great Reset ein Ergebnis der Des­ori­en­tierung sind, die die west­liche Welt heute heim­sucht. Natürlich besteht das Projekt (ich spreche nicht von »Veschwörung«, weil es keine Ver­schwörung im eigent­lichen Sinne gibt, sondern nur den Kampf um die Macht, der die Mensch­heits­ge­schichte schon immer belebt hat) des Welt­wirt­schafts­forums darin, eine »neue Welt­ordnung« zu errichten, aber diese Ein­richtung wird, wenn sie jemals zum Tragen kommt, ein wei­terer Beitrag zum glo­balen Chaos sein.

Wir brauchen heute Theorien, die fun­diert, solide, klar und effektiv sind, die sich auf die großen Werte der west­lichen Tra­dition beziehen und die wirklich Ordnung in die Welt bringen werden, aber das Projekt des Great Reset ist ein Schmelz­tiegel ver­schie­dener Ansätze, eine Mischung von Posi­tionen, in der sowohl eine Neigung zur Ver­ge­mein­schaftung des Kapi­ta­lismus als auch zur Tech­no­kra­ti­sierung der Gesell­schaft her­vor­sticht. Dies wird mög­li­cher­weise dazu führen, dass ein wirt­schaft­licher, sozialer und kul­tu­reller Hybrid ent­steht, bei dem sich meiner Meinung nach am Ende der stärkste ideo­lo­gische Aspekt durch­setzen wird, nämlich der Sozia­lismus. Und ich befürchte, dass die Biden-Admi­nis­tration ein frucht­barer Boden für diese ver­worrene und gefühls­du­selige wirt­schaftlich-soziale Theorie sein wird.

Einige argu­men­tieren, dass dies ein posi­tives, hoff­nungs­volles Dokument mit ver­nünf­tigen Ideen ist, um die Welt zu einem bes­seren Ort zu machen, vor allem durch mehr gegen­seitige Soli­da­rität nach Jahren der kon­su­mis­ti­schen Exzesse und des Indi­vi­dua­lismus. Was sagen Sie zu dieser Sichtweise?

Renato Cristin: Pro­gressive, ver­standen nicht nur als Kul­tur­mar­xisten, sondern auch als naive Men­schen, die an das Gute im Men­schen und den Fort­schritt der Menschheit glauben, sehen in jeder scheinbar phil­an­thro­pi­schen Theorie etwas Posi­tives, einen Beitrag zur Ver­bes­serung der Menschheit. Aber wenn man den Inhalt einer Theorie nicht genau ana­ly­siert, ver­liert man ihren Zweck aus den Augen, der nicht immer sofort ent­zif­ferbar ist. Der Zweck von Schwabs Buch besteht darin, die Krise des Systems zu über­winden, indem Ele­mente des Kapi­ta­lismus sub­tra­hiert und Prin­zipien einer anderen Art ein­ge­führt werden, die vor allem sozia­lis­tisch und damit auch eta­tis­tisch sind. Der exzessive Konsum wird nicht durch mehr Kon­trolle seitens des Staates gemildert, auch nicht durch wirt­schaft­liches »Schrumpfen«, wie viele linke Öko­nomen und Sozio­logen behaupten, sondern durch einen Bewusst­seins­zu­wachs bei den Men­schen. Vom Problem des Gewissens, das ein spi­ri­tu­elles und phi­lo­so­phi­sches Problem ist, findet sich keine Spur in Schwabs Buch, wo der Begriff Gewissen meist in einem prag­ma­ti­schen Sinne und in einem Fall in Anlehnung an den Kon­fu­zia­nismus ver­wendet wird.

Meiner Meinung nach sollten wir zur Über­windung der Krise des Kapi­ta­lismus nicht nach anderen öko­no­mi­schen Erfah­rungen suchen, denn dann landen wir immer, auf die eine oder andere Weise, beim Sozia­lismus. Statt­dessen brauchen wir mehr Kapi­ta­lismus — das heißt, eine Stärkung der Grund­lagen und der tra­di­tio­nellen und gesunden Prin­zipien des Kapi­ta­lismus, die die wilde Finanz­spe­ku­lation ein­dämmen und den Kompass wieder in seine klas­si­schen Angeln bringen würde: Pro­duktion, Akku­mu­lation, Reinves­tition und so weiter.

Das Buch »The Great Reset« erwähnt weder Gott noch die Religion. Denken Sie, die Kirche sollte sich mit einer solchen säku­laren Initiative verbünden?

Renato Cristin: Der Verlust der reli­giösen Dimension (und damit das Ver­schwinden des Sinns für das Heilige) ist eine Folge der Säku­la­ri­sierung, die nicht nur die Kirche und die Gläu­bigen im engeren Sinne betrifft, sondern auch einen nihi­lis­ti­schen Säku­la­rismus her­vor­bringt, der die gesamte west­liche Gesell­schaft schädigt, auch in ihren säku­laren Insti­tu­tionen und zivilen Struk­turen. Daher sollte eine all­ge­meine Gesell­schafts­theorie (wie es der Great Reset sein möchte) die reli­giöse Sphäre und ihre insti­tu­tio­nellen Struk­turen schützen und stärken, während die Theorie des Great Reset die Säku­la­ri­sierung vor­an­treibt und den Weg für eine ent­christ­lichte Gesell­schaft ebnet, die eines grund­le­genden Kerns der west­lichen Zivi­li­sation beraubt ist, der eben die tra­di­tio­nelle reli­giöse Sphäre ist.

Um Ihre Frage zu beant­worten: Ich glaube, dass die Kirche diese Art von Initiative, die die Ent­christ­li­chung ver­schärft, nicht unter­stützen sollte, denn his­to­rische Pro­zesse lassen sich nur schwer umkehren, vor allem, wenn vor den Toren des Westens eine reli­giöse Kraft wie der Islam steht, die unserer jüdisch-christ­lichen Tra­dition radikal feindlich gegen­über­steht und die, auch wenn sie zer­splittert ist und keinen insti­tu­tio­nellen Gipfel hat, nichts weniger als die Eroberung unserer Gesell­schaften anstrebt.  Und es sind auch negative Kräfte wie der Isla­mismus, denen rück­sichtslose Initia­tiven wie der Great Reset den Weg ebnen. Die Kirche sollte statt­dessen die Sozi­al­lehre der Kirche in ihrer ursprüng­lichen und authen­ti­schen For­mu­lierung anwenden, die von Papst Leo XIII. in seiner Enzy­klika Rerum Novarum und von Papst Johannes Paul II. in seinen Enzy­kliken Laborem Exercens und Cen­te­simus Annus gegeben wurde, anstatt Dritte-Welt- und anti­west­lichen wirt­schaft­lichen und theo­lo­gisch-poli­ti­schen Visionen zu folgen, die mit der Befrei­ungs­theo­logie ver­bunden sind.

[Edward Pentin ist Veteran-Jour­nalist in Rom und Kor­re­spondent für EWTN und National Catholic Register. Dieses Interview wurde mit freund­licher Erlaubnis des Autoren über­setzt und hier abge­druckt. Das Ori­ginal finden Sie hier.]


Quelle: freiewelt.net