screenshot youtube

Der rus­sische BREST–OD-300 Reaktor – Beginn einer neuen Ära?

Im Juni 2021 begann der Bau eines neuen Reaktors im sibi­ri­schen che­mi­schen Kom­binat Seversk. Der Ort ist nicht zufällig gewählt, sondern es handelt sich um ein grund­sätzlich neues System: Ein spe­zi­eller Reaktor mit ange­schlos­sener Wie­der­auf­be­reitung. Ziel ist ein Kern­kraftwerk, dem lediglich Uran (aus abge­brannten Brenn­ele­menten) zuge­führt wird und nur (end­la­ger­fähige) Spalt­pro­dukte abge­führt werden. Der ent­schei­dende Punkt gegenüber her­kömm­lichen Reak­toren ist der Abfall Spalt­pro­dukte. Die Pro­ble­matik der End­la­gerung über sehr lange Zeit­räume wäre damit vom Tisch, da Spalt­pro­dukte in weniger als 300 Jahren zer­fallen sind. Die sehr lang­le­bigen Trans­urane werden bei diesem Reaktor kon­ti­nu­ierlich „mit ver­brannt“. Diese „Strom­fabrik“ besteht also aus drei Ein­heiten: Der (neu­ar­tigen) Brenn­ele­mente-Fabrik, dem Kern­re­aktor und der Wie­der­auf­be­rei­tungs­anlage. Die Brenn­ele­mente-Fabrik soll 2023 und die Wie­der­auf­be­reitung 2024 gebaut werden. Der Reaktor soll 2026 in Betrieb gehen.

(von Dr. Klaus Dieter Humpich)

Der BREST-OD-300

Das Ent­wick­lungsziel dieses Reaktors der vierten Gene­ration war „natür­liche Sicherheit“. Das Kühl­mittel ist nicht Wasser unter hohem Druck, sondern nahezu druck­loses Blei. Der Reak­torkern befindet sich deshalb nicht in einem dick­wan­digen Druck­be­hälter, sondern in einem (nahezu druck­losen) Tank für flüs­siges Blei. Der Schmelz­punkt von Blei liegt bei rund 330°C. Dies ergibt ein neu­ar­tiges Sicher­heits­problem, denn es muß gewähr­leistet sein, daß das Blei an keiner Stelle ein­friert und irgend­welche Kanäle ver­stopft. Ande­rer­seits ist der Sie­de­punkt mit über 1700°C so hoch, daß sich kein Druck im Reak­tor­kreislauf auf­bauen kann. Leckagen sind unpro­ble­ma­tisch, da Blei weder mit Luft noch mit Wasser heftig reagiert. Blei wird prak­tisch auch nicht akti­viert, sodaß nur ein ein­facher Kreislauf nötig ist, was Kosten spart und das System ver­ein­facht. Die Aus­tritts­tem­pe­ratur des Blei beträgt rund 540°C. Ist also weit von der Sie­de­tem­pe­ratur ent­fernt. Hinzu kommt die große Wär­me­spei­cher­fä­higkeit des Blei (spe­zi­fisch und über das Tank­vo­lumen), die alle Last­sprünge abfedert. Ein solcher Reaktor ist in seinem (sicher­heits­tech­ni­schen) Ver­halten sehr gutmütig.

Blei ist ein sehr schlechter Mode­rator, der die Neu­tronen kaum abbremst. Schnelle Neu­tronen können zwar alles Uran, Plu­tonium und sogar die minoren Akti­noide spalten – das aller­dings mit einer weit geringen Wahr­schein­lichkeit. Als Kon­se­quenz muß man ent­weder eine hohe Anrei­cherung oder einen höheren Gehalt an Plu­tonium ver­wenden. In diesem Sinne sind solche Reak­toren sinn­vol­ler­weise als Nach­folger der Leicht­was­ser­re­ak­toren anzu­sehen. Erst wenn man ent­spre­chend viele abge­brannte Brenn­ele­mente besitzt – von „Atom­kraft­gegnern“ fälsch­li­cher­weise als „Atommüll“ bezeichnet – aus denen man das Plu­tonium extra­hieren kann, kann man sinn­vol­ler­weise mit dem Aufbau einer Flotte schneller Reak­toren beginnen. Für jede Erst­be­ladung muß das Plu­tonium von außen kommen. Läuft ein solcher Reaktor, kann er genug neues Plu­tonium bilden um für seinen Wei­ter­be­trieb selbst zu sorgen. Man muß dann nur die Spalt­pro­dukte ent­fernen (die nukleare Asche) und die gespal­tenen Kerne durch U238 – eben­falls von „Atom­kraft­gegnern“ als „Atommüll“ bezeichnet – ersetzen. In diesem Sinne ver­fügen wir bereits heute über gigan­tische Ener­gie­vor­kommen in der Form abge­brannter Brenn­ele­mente aus Leicht­was­ser­re­ak­toren. Bisher war die Nutzung wegen der geringen Natururan-Preise noch unwirt­schaftlich. Aller­dings kommen die stets stei­genden Lager­kosten für abge­brannte Brenn­ele­mente einer schnel­leren Nutzung entgegen.

Da Blei ein schlechter Mode­rator ist, kann man die Git­ter­ab­stände im Kern ver­größern. Durch den ver­rin­gerten Strö­mungs­wi­der­stand kann man mehr Wärme über Natur­kon­vektion abführen, was die Not­kühlung auch nach einem Blackout (Fuku­shima) ermög­licht. Zu diesem Zweck sind Kamine (2 von 4 genügen) vor­handen, die die Rest­wärme passiv an die Umge­bungsluft abführen. Selbst unter voll­stän­digem Verlust der Wär­me­senke bei voller Leistung von 700 MWth erreicht die Hüllrohr-Tem­pe­ratur am ungüns­tigsten Brennstab keine 900°C. Für die Hüllen aus Stahl kein großes Problem: Ein Unglück wie in Fuku­shima wäre gar nicht möglich. Es könnte kein Knallgas ent­stehen (Reaktion der Zir­conium-Hüllen mit Was­ser­dampf) und es wäre keine aktive Not-Kühlung nötig. Tref­fender kann man nicht ver­deut­lichen, was mit „natür­liche Sicherheit“ gemeint ist.

Die Brenn­stäbe

Auch hier geht man neue Wege. Bei her­kömm­lichen Reak­toren ver­wendet man Uran­dioxid als Brenn­stoff in Hüll­rohren aus Zir­k­alloy. Uranoxid ist eine (spröde) Keramik mit schlechter Wär­me­leitung. Es kann bei einem Störfall pas­sieren, daß die Brenn­stäbe in ihrem Zentrum bereits auf­schmelzen und Spalt­pro­dukte frei setzen, während sie ansonsten noch intakt sind. Fallen sie kurz­zeitig und lokal trocken (Kühl­mit­tel­verlust-Störfall), kann die Abschre­ckung durch die Not­kühlung fatale Kon­se­quenzen haben (Har­risburg, Fukushima).

Bei diesem Typ ver­wendet man Uran-Plu­tonium-Nitrid als Brenn­stoff. Es besitzt eine um 30% größere Dichte, eine 4 bis 8 fache Wär­me­leitung, gute Rück­haltung für Spalt­pro­dukte, gute Form­sta­bi­lität und geringe Reak­tionen mit der Edel­stahl-Hülle. Die hohe Dichte und gute Wär­me­leitung führen zu gerin­geren Tem­pe­ra­tur­gra­di­enten zwi­schen Zentrum und Umfang. Dies führt zu einer hohen Lebens­dauer der Brenn­ele­mente (Brenn­stoff­wechsel nur alle fünf Jahre) und großen Sicher­heits­re­serven für Störfälle.

Der Kern besteht aus 169 Brenn­ele­menten, hat eine Höhe von lediglich 1,1m und beinhaltet rund 20 to Brenn­stoff. Die Brenn­ele­mente sind sechs­eckig, wodurch sich eine sehr dichte Packung ergibt. Sie sind rundum offen, um bei einer etwaigen Ver­stopfung auch Quer­strömung zu ermög­lichen. Auf Grund der Brenn­stoff­ei­gen­schaften und der Kon­struktion ist die Neu­tro­nen­öko­nomie so gut, daß keine separate Brutzone erfor­derlich ist und trotzdem eine Kon­ver­si­onsrate von Eins („Selbst­ver­sorgung“) erzielt wird.

Wie­der­auf­be­reitung

Bisher wurde groß­tech­nisch nur das PUREX-Ver­fahren ange­wendet. Dieses nass-che­mische Ver­fahren zielt – ursprünglich aus der Rüstung kommend – auf die Rück­ge­winnung von mög­lichst reinem Uran und (ins­be­sondere ) Plu­tonium ab. Alles andere ist Abfall. Dieser ist wegen der minoren Akti­noide besonders lang­lebig und erfordert ein geo­lo­gi­sches Tie­fen­lager zur End­la­gerung. Bei diesem Reak­tor­konzept sieht die Fra­ge­stellung gänzlich anders aus. Hier gilt es nur die Spalt­pro­dukte – die nukleare Asche – zu ent­fernen. Alles andere soll und kann als Ener­gie­träger ver­bleiben. Die Spalt­pro­dukte können anschließend wei­ter­ver­ar­beitet oder ver­glast werden und in Edel­stahl­be­hälter abge­füllt werden. Wegen der relativ geringen Halb­werts­zeiten kann dieser Abfall je nach Gusto „tie­fen­ge­lagert“ oder „inge­nieur­ge­lagert“ werden. Auf jeden Fall, zu ver­schwindend geringen Kosten gegenüber der End­la­gerung von kom­pletten Brennelementen.

Der BREST-OD-300 im Allgemeinen

Der Reaktor verfügt über eine elek­trische Leistung von 300 MWel bei einer ther­mische Leistung von 700 MWth. Er wäre per Defi­nition damit noch ein SMR. Der Her­steller selbst betrachtet ihn eher als Vor­läufer für einen Reaktor mit 1200 MWel, der etwa Anfang der 2030er Jahre gebaut werden soll. Es ist der rus­sische Weg der kleinen, auf­ein­ander auf­bau­enden Schritte mit immer mehr gesam­melten Erfah­rungen, die in das jeweilige Nach­fol­ge­modell ein­fließen können. In diesem Zusam­menhang muß man fest­stellen, daß die Ent­wicklung blei­ge­kühlter Reak­toren in Russland eine Jahr­zehnte lange Tra­dition hat. Sie reicht bis auf die U‑Boote der Alfa-Klasse (Bau­zeitraum 1968–1975, Außer­dienst­stellung 1983 bis 1997) zurück. Zahl­reiche Pro­bleme bezüglich Kor­rosion und Ver­schleiß konnten inzwi­schen gelöst werden.

Der Aufbau ähnelt klas­si­schen Druck­was­ser­re­ak­toren: In der Mitte befindet sich der Reaktor. Von ihm gehen vier Kühl­kreis­läufe (flüs­siges Blei) ab. Jeder Kühl­kreislauf ver­sorgt zwei Dampf­erzeuger. Das in den beiden Dampf­erzeugern abge­kühlte Blei wird von einer Umwälz­pumpe ange­saugt und dem Reaktor wieder zuge­führt. Die acht Dampf­erzeuger pro­du­zieren etwa 1500 to/h Dampf mit einer Tem­pe­ratur von über 500°C. Auf Grund der höheren Dampf­tem­pe­ra­turen ergeben sich bessere Wir­kungs­grade und andere Anwen­dungs­ge­biete (z. B. Was­ser­stoff­her­stellung durch Hoch­tem­pe­ratur-Elek­trolyse, Raf­fi­nerien, che­mische Industrie etc.). Jeder Kühl­kreislauf bildet eine separate Bau­gruppe mit kom­pletter Not­kühlung, Umwälz­pumpe etc. in einer eigenen „Beton­kammer“. Das Ganze ist von einem Beton­zy­linder als Schutz gegen Ein­wir­kungen von außen umgeben.

Anders als bei Leicht­was­ser­re­ak­toren wird der Kern durch eine Lade­ma­schine ver­sorgt. Sie kann Brenn­ele­mente ent­nehmen, umsetzen und durch frische ersetzen. Ver­brauchte Ele­mente werden im Bleitank bis zum erfor­der­lichen Abklingen zwi­schen gelagert. Sie stehen also stets unter dem gleichen Schutz (Fuku­shima) wie der Reak­torkern. Ein Brenn­stoff­zyklus dauert fünf Jahre (Leicht­was­ser­re­aktor 9 bis 16 Monate üblich). Sind erst einmal die üblichen Kin­der­krank­heiten beseitigt, kann man von einer noch bes­seren Ver­füg­barkeit als heute (etwa 90%) aus­gehen. Geplant ist ein Abbrand zwi­schen 5,5% und 9% Schwer­metall. An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, sich die Mate­ri­al­ströme und Abfall­mengen zu ver­deut­lichen. Wenn dieser Reaktor das ganze Jahr voll durch­läuft (Grundlast) ver­braucht er etwa 270 kg Uran. Das ist gleich­zeitig die Menge hoch­ak­tiver Spalt­pro­dukte die jährlich anfällt. Geht man von einem mitt­leren Abbrand von 8% Schwer­metall aus, sind etwa 3,5 to frische Brenn­ele­mente jährlich nötig. Das alles erinnert mehr an eine Anlage im Labor­maßstab. Wollte man diese Strom­menge von 2,6 TWh mit einem Off­shore-Windpark erzeugen, müßte dieser min­destens 1000 MW umfassen oder bei einem Pho­to­voltaik-Park min­destens 2000 MW. Wobei dies lediglich die gleiche Ener­gie­pro­duktion wäre. Da aber Wind und Sonne nur zufällig und unvor­her­sehbar sind (Wet­ter­vor­hersage), müßten noch die zwingend erfor­der­lichen Strom­speicher (zusätz­liche Inves­ti­tionen) und deren Ver­luste (ca. 50% für längere Aus­fall­zeiten) hin­zu­ge­rechnet werden. Diese wenigen Zahlen machen deutlich, daß zumindest Russland nicht zurück ins Mit­tel­alter will, ob nun „Kli­ma­ka­ta­strophe“ oder nicht.

Sicherheit

Die vierte Gene­ration soll noch einmal um Grö­ßen­ord­nungen „sicherer“ sein als die der­zeitige dritte Gene­ration. Gemeint ist damit die Wahr­schein­lichkeit für Unglücke, bei denen Radio­ak­ti­vität das Betriebs­ge­lände über­schreitet und damit Anlieger gefährdet. Diese Reak­toren sollen so sicher sein, daß sie unmit­telbar in einer Che­mie­anlage betrieben werden können, denn sie sind nicht gefähr­licher als diese Anlagen selbst, wodurch völlig neue Anwen­dungen für Kern­energie möglich sind.

Da diese Kern­kraft­werke mit dem „Abfall“ der bis­he­rigen Kern­kraft­werke betrieben werden können, sind sie extrem „nach­haltig“. Damit sind nicht nur die abge­brannten Brenn­ele­mente gemeint, sondern auch das „Abfall-Uran-238“ aus den Anrei­che­rungs­an­lagen. Ganz neben bei, löst sich auch die „End­la­ger­frage“. Spalt­pro­dukte sind im Ver­gleich zu den Akti­noiden kurz­lebig. Diese Form von „Atommüll“ ist nach wenigen Jahr­zehnten wei­ter­ver­ar­beitbar. In ihnen sind jede Menge wert­voller Stoffe ent­halten. Schon heute werden seltene Isotope aus dem Abfall der mili­tä­ri­schen Wie­der­auf­be­reitung für z.B. medi­zi­nische Anwen­dungen gewonnen. Wer aber unbe­dingt möchte, kann sie auch wei­terhin in geo­lo­gi­schen Tie­fen­lagern ver­schwinden lassen. Nur eben zu viel gerin­geren Kosten.

Der Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors, hier