Am 2. August 2021, pünktlich zum 15. Jahrestag ihrer Flucht, blickt Natascha Kampusch in einem “Thema Spezial” in ORF 2 zurück.
Dazu schreibt heute.at unter anderem:
Wolfgang Priklopils Haus steht in der Einfamilienhaussiedlung in Strasshof wie ein Mahnmal für das, was hinter hohen Hecken und dicken Mauern unbemerkt von den Nachbarn geschehen konnte. Alle zwei Monate kommt Natascha Kampusch hierher, um nach dem Rechten zu sehen. Das Haus wurde ihr als Entschädigung für das Erlittene zugesprochen, doch es ist mehr Fluch als Segen. Vor 15 Jahren, am 23. August 2006, gelang Natascha Kampusch die Flucht aus diesem Gefängnis (…)
Seit die zehnjährige Natascha 1998 auf dem Schulweg entführt worden ist, hat Christoph Feurstein über den Fall berichtet und 2006 das erste Fernsehinterview nach ihrer Flucht geführt. Es ging um die Welt. Doch bald war die junge Frau mit Verschwörungstheorien und Anfeindungen konfrontiert, ihr Selbstbewusstsein und ihre Eloquenz irritieren viele (…)
Quelle: https://www.heute.at/s/kampusch-mir-sollte-es-so-gehen-wie-hitlers-opfern-100155467
Selbst heute noch werden anderslautende und vor allem faktenbasierte Recherchen als »Verschwörungstheorien« abgetan. So auch die meines Kollegen Udo Schulze und mir, obwohl wir ÖFFENTLICT bei einer Pressekonferenz in Wien, bei der wir unser Buch vorstellten, dazu aufgerufen haben, dass Kritiker diese WIDERLEGEN sollen.
Das ist bis heute nicht geschehen!
Vorab einige Anmerkungen:
Mehrfach haben wir Kampuschs Management[i] um ein persönliches oder schriftliches Interview mit und von Natascha Kampusch ersucht. Vergeblich.
Für alle in diesem Buch genannten Personen, ob mit richtigem Namen, Pseudonym oder Abkürzung, gilt aus rechtlichen Gründen die Unschuldsvermutung.
Auch wenn nur einer der Autoren ein Interview geführt, Orte bereist hat etc. benutzen wir im Text die Mehrzahl (»wir«).
Alle Rechercheergebnisse zu diesem Buch, Dateien, Dokumente, Fotos, Tonband- und Filmaufnahmen, sind vertraulich bei Anwälten und Journalistenkollegen in Deutschland, Österreich, Schweiz, USA und England hinterlegt. Sollte es betreffs unserer Personen zu »Auffälligkeiten« von Dritten oder gegen unser Umfeld kommen, werden diese Belege in den Medien der genannten Länder veröffentlicht und die Behörden eingeschaltet.
[i] Mit E‑Mails der Autoren an Wolfgang Brunner v. 31.08.11, 20.02.13 und 01.03.2012/Archiv Grandt/Schulze/Absagen von Wolfgang Brunner an die Autoren mit E‑Mails v. 02.09.11 und 01.03.13/Archiv Grandt/Schulze
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Bereits im Frühjahr 2013 schrieben mein Kollege Udo Schulze und ich zur Causa Natascha Kampusch:
»Wir müssen jeden Tag und überall in der Gesellschaft für Demokratie, Toleranz und Respekt kämpfen.«
Stieg Larsson (Schwed. Journalist und Schriftsteller)[i]
August 2011, Nähe von Wien: In einem Restaurant treffen wir hochrangige Persönlichkeiten aus Politik und Justiz, sowie Insider des weltweit einzigartigen Entführungsfalles (Causa) Natascha Kampusch. Aufgrund früherer Recherchen und Kontakte kennen diese Personen unsere journalistische Arbeit. Sie bitten uns den Fall aus Deutschland neu anzustoßen, weil ein Teil der Medien in Österreich politisch gesteuert sein soll. Die wahre Geschichte würde so verschwiegen, verschleiert und vertuscht.
Kurz darauf werden uns hunderte von Seiten vertraulicher und zum Teil höchst geheimer Dokumente zur Causa Kampusch, sowie Tonbandaufzeichnungen und Foto-und Videomaterial anonym zugespielt. Daraus erfahren wir von Sachverhalten, die der Öffentlichkeit bislang zum größten Teil vorenthalten oder nur teilweise oder verfälscht wiedergegeben wurden. Uns wird schnell klar: Die »inoffizielle« Geschichte um den Fall Kampusch unterscheidet sich drastisch von der offiziellen Erzählweise. Diese inoffizielle Geschichte ist Inhalt dieses Buches.
Bei der Sichtung des Materials ging es uns wohl wie dem verstorbenen Filmproduzenten Bernd Eichinger, der das Drehbuch für den Kinofilm 3096 Tage begann, bevor ihn der Tod einholte.
In der Biographie seiner Frau Katja steht zu lesen: »Schon beim zweiten Gespräch erklärte sie (Natascha Kampusch/d.A.) Bernd (Eichinger/d.A.), dass sie NICHT alles erzählen werde (…) Niemand kannte die Geschichte so gut wie er. Er hatte Geheimnisse erfahren, die sonst nur weniger als ein halbes Dutzend Menschen kennen«.[1]
Auch wir haben von diesen »Geheimnissen« erfahren. Im vorliegenden Buch präsentieren wir sie in dieser Zusammenstellung das erste Mal einer breiten Öffentlichkeit. Gegen alle Widerstände und Widrigkeiten, die uns während unserer Recherchen widerfahren sind. Denn trotz aller dokumentierten Quellenbelege, die uns vorliegen, war es fast unmöglich eine Redaktion in Deutschland zu finden, die den journalistischen Mut hatte, an der offiziellen Kampusch-Story zu rütteln und neu zu erzählen.
Aus gut informierten Branchenkreisen erfuhren wir später auch, warum: Deutsche und ausländische TV- und Print-Medien hätten hunderttausende Euro für Exklusiv-Interviews oder Vermarktungsrechte der »offiziellen« Kampusch-Story bezahlt und würden nun – im sprichwörtlichen Sinne – den Teufel tun, sich mit einer medialen Richtigstellung selbst ins Knie zu schießen. Das macht Sinn.
Der langjährige Chefredakteur und Herausgeber der Presse, Thomas Chorherr, zitierte in diesem Zusammenhang den französische Romancier, Dramatiker, Philosoph und Publizist Jean-Paul Sartre (1905–1980): »Die Hölle sind die anderen.« Doch »wer sind die anderen?« fragt Chorherr weiter. »Jene, die nicht zu Nataschas Freunden zählen. Also wir, die nicht alles glauben. ‘Wer lügt da wirklich?’, wollte ich schon vor Monaten, ja Jahren wissen. ‘Alle!’ wurde mir von Leuten, die sich meiner Meinung nach auskannten, unverblümt geantwortet. Das war noch bevor Nataschas Märchenbuch (gemeint ist ihre Biographie 3096 Tage/d.A.) erschienen war, noch immer ein Besteller, obgleich seither etliches passierte«. Chorherr weiter: »Die Hölle sind die anderen. Jene, die von den Freunden Nataschas als ‘Meute’ bezeichnet werden (…) Die Meute ist die Hölle, und die Hölle sind wir, die nicht alles glauben, was Natascha sagt«.[2]
Nach Chorherrs philosophischer Definition müssten auch wir die »Hölle«, die »Meute« sein, weil wir die Causa Kampusch nicht nur hinterfragen, sondern auch große Teile der »offiziellen« Geschichte widerlegen können.
Schließlich erklärte sich ein großer deutscher Privatsender im Rahmen eines TV-Magazins doch noch dazu bereit einige Widersprüche im Fall Kampusch aufzuzeigen.
Unser Film wurde am 29. Oktober 2011 ausgestrahlt. Im Februar 2012 erzählten wir in einer Artikelserie für das Schweizer Internetportal 20 Minuten Online mit Kolleginnen und Kollegen den Fall Kampusch neu. Die diesbezüglichen Leser waren dankbar für unsere klarstellende Berichterstattung. »Wie es scheint, haben die Medien in Österreich versagt, weil sie zu stark mit der Politik verbunden sind«, schrieb einer. Und eine Leserin kommentierte: »Als Österreicherin muss ich wirklich auch ein großes Lob (…) aussprechen: bei uns erfährt man sonst nämlich nicht viel!«[3]
Die Artikelreihe in der Schweiz sorgte nicht nur für großes mediales Aufsehen bis ins Ausland, sondern auch für Neider aus der Branche. So schrieb der freie Journalist Herwig G. Höller im Schweizer digitalen Medienmagazin Medienwoche, dass die Kampusch-Berichterstattung von 20.min.ch »in ihrer Übertriebenheit« bisweilen an »Realsatire« grenze und die Aufmachung des Überblicksvideos bisweilen an einen »fiktiven Krimi« erinnere. »Dieser spielt natürlich mit Klischees von einem armen Mädchen und bösen Männern aus Österreich, die offensichtlich – Freud lässt grüßen – Probleme mit ihrer Sexualität haben (…) Was die Zugriffszahlen betrifft, hat das Sujet offenbar sein Ziel nicht verfehlt. 20min.ch-Chefredaktor Hansi Voigt[4] schrieb auf Twitter von ‘Allzeit-Rekorden’«.[5]
Dazu nur so viel: Gerne sind er – und andere Zweifler – dazu aufgerufen, die in diesem Buch benannten Quellen, Dokumente, Unterlagen, Videos und Tonbänder zu widerlegen. Und zwar öffentlich und im Beisein von unabhängigen Experten. Dann wird schnell ersichtlich werden, wer tatsächlich Verschwörungstheorien verbreitet und wer nicht. Kontakte diesbezüglich über den Verlag.
Inzwischen sind viele neue Fakten hinzugekommen, weitere vertrauliche Dokumente und Unterlagen an uns ausgehändigt worden, die das Bild der »inoffiziellen« Geschichte weiter vervollständigt.
Der Fall Kampusch ist viel mehr als »nur« ein weltweit einzigartiger Entführungsfall:
Er führt uns auch in die dunklen Abgründe der Kinderpornographie und Kinderprostitution; der abscheulichen Pädokriminalität also. Vor allem aber zeigt er auf, wie ein ganzer Staat erschüttert werden kann. Wie kriminelle Vertuschungen, Manipulationen und Vetternwirtschaften auf Ebenen der Politik und Justiz, von Geheimdiensten und Medien, sein Gefüge wie Krebszellen zerfressen können und wie scheinbar unzusammenhängende Sachverhalte und hochrangige Protagonisten in einem weitgefächerten Netzwerk zusammenhängen.
Aus diesem Grund ist der Fall Natascha Kampusch ein staatsgefährdender Skandal. Eine »Staatsaffäre«, die uns drastisch die Schattenseite eines Rechtsstaates vor Augen führt, die allerdings erst nach und sichtbar wird und die mit allen demokratischen Mitteln bekämpft werden muss. Im Zuge unserer Recherchen haben wir uns mit zahlreichen österreichischen Nationalratsabgeordneten getroffen, die dafür auch einstehen.
Gerade deshalb ist es so wichtig, dass die »Staatsaffäre Natascha Kampusch« nicht nur auf Ermittlungsebene, wie es in der Vergangenheit mehrfach getan wurde, sondern vor allem auch in der Justiz, auf staatsanwaltschaftlicher Ebene und in der Politik aufgeklärt wird. Und zwar restlos. Die Zeit dafür ist reif.
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Quellen:
[1] Zitiert nach: Katja Eichinger: »BE«, Hamburg 2012, S. 556, 558
[2] »Natascha und ihre Freunde Die anderen – Bestien und Meute« in: diepresse.com v. 11.03.12 (http://diepresse.com/home/meinung/merkswien/739322/Natascha-und-ihre-Freunde-Die-anderen-Bestien-und-Meute)/Zugriff: 12.03.12
[3] »Versteckt, vertuscht, perfekt vermarktet« in: 20min.ch v. 28.02.12 (http://www.20min.ch/ausland/dossier/kampusch/story/Versteckt–vertuscht–perfekt-vermarktet-12619417)/Zugriff: 28.02.12
[4] Hansi Voigt ist heute nicht mehr bei 20min. tätig
[5] »Der Sinn der Kampusch-Kampagne« in: medienwoche.ch v. 12.03.12 (http://medienwoche.ch/2012/03/12/der-sinn-der-kampusch-kampagne/)/Zugriff: 12.03.12
[i] Zitiert nach: Kurdo Baksi: »Mein Freund Stieg Larsson«; München2010, S. 85
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Fall Natascha Kampusch – Die »offizielle« Geschichte[i] (von Guido Grandt)
»Nach zwei Treffen mit NK[1] beschloss Bernd[2], sich diesem Stress nicht weiter auszusetzen. Er hatte mittlerweile auch die Fahnen zu NKs Buch[3] gelesen und fand das Buch gar nicht so schlecht. Zwar fehlte viel, aber es war immerhin ein Anfang«.
Katja Eichinger (Journalistin, Autorin und Ehefrau des Produzenten Bernd Eichinger)[ii]
Österreich, Wien, 2. März 1998, gegen 7.45 Uhr: Die zehnjährige Natascha Kampusch verlässt die Wohnung am Rennbahnweg im Wiener Heimatbezirk Donaustadt und macht sich auf den Weg zur Volksschule Brioschiweg. Dabei wird sie von dem 44-jährigen Wolfgang Priklopil in einen weißen Kleintransporter gezerrt und ins niederösterreichische Strasshof entführt. Er versteckt das Mädchen in seinem Haus in einem »Verlies«, das durch eine Tresortür gesichert ist. Achteinhalb Jahre lang.
Als die kleine Natascha nicht nach Hause kommt, alarmieren ihre Eltern Brigitta Sirny und Ludwig Koch die Polizei. Zunächst ermittelt das Sicherheitsbüro Wien. Einen Tag später berichtet die 12-jährige Schülerin Ischtar A. der Polizei ihre Beobachtung, dass Natascha in einen weißen Bus verbracht worden ist. Sie ist die einzige Zeugin der Entführung. In der Folge überprüft die Polizei 700 weiße Kleinbusse aus Wien und Umgebung, sowie ihre Fahrer.
Am 6. April 1998 wird Wolfgang Priklopil von Beamten des Sicherheitsbüros in seinem Haus in Strasshof aufgesucht. Er gibt an den Kleinbus für Bauarbeiten zu benutzen. Doch entgegen erster polizeilicher Angaben hat er kein Alibi für die Tatzeit. Die Ermittler machen lediglich Fotos und fahren wieder zurück zu ihrer Dienststelle.
Ohne Erfolg bleiben auch großangelegte Polizei-Suchaktionen in der Luft, zu Lande und unter Wasser nach dem Mädchen.
Am 14. April 1998 macht ein Hundeführer der Wiener Polizei, der namentlich nicht auftauchen will und in den Akten anonym geführt wird, das Sicherheitsbüro erneut auf den »Eigenbrötler« Wolfgang Priklopil aufmerksam. Dieser habe Kontaktprobleme und eventuell Waffen. Zudem soll er einen »Hang zu Kindern« aufweisen[4].
1999 bekommt Priklopil mehrmals Besuch von Behördenmitarbeiter bei sich zu Hause. Sie entdecken Natascha allerdings nicht.
Im Juli 2002 wird der Entführungsfall der »SOKO Kampusch« übergeben, der von der burgenländischen Kriminalabteilung geleitet wird. Zwei Jahre später lässt das österreichische Bundeskriminalamt auf dem Amtshilfeweg prüfen, ob es einen Zusammenhang mit den Taten des Michel Fourniret gibt. Der französische Serienmörder hatte zwischen 1987 und 2001 sieben junge Mädchen, zum Teil noch Kinder, vergewaltigt und ermordet. Im Mai 2008 wird das »Monster aus den Ardennen«[5], wie ihn die Presse nennt, zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt.
Am 1. Juli 2005 gibt es in der Causa Kampusch eine Zuständigkeitsübertragung an das Landeskriminalamt Burgenland mit anschließendem Auftrag zur Cold-Case[6]-Evaluierung.
Am 23. August 2006 gelingt Natascha Kampusch nach 3096 Tagen die Flucht: während des Reinigens von Priklopils Wagen läuft sie einfach davon. Der Entführer selbst steht einige Meter abseits zum Telefonieren. Unweit ihres Gefängnisses bittet sie eine Frau um Hilfe, die die Polizei verständigt. Als der Entführer die Flucht der jungen Frau entdeckt, fährt er mit seinem roten BMW nach Wien, wirft sich vor einen Zug und stirbt sofort.
Einen Tag später bestätigen die Ermittler, dass es sich bei der jungen Frau um die 18-jährige Natascha Kampusch handelt. Dafür sprechen eine spezifische Narbe, ihr Reisepass, der im Verlies in Strasshof gefunden wird und kurz darauf ein DNA-Gutachten. Auch ihre Eltern identifizieren sie.
Es wird bekannt, dass Priklopil das Mädchen auch zum Einkaufen und zu Ausflügen mitgenommen hat.
Am 6. September 2006 gibt Natascha Kampusch erstmals Interviews in Printmedien und im ORF und bekennt: »Ich dachte nur an Flucht«.[7]
Am 21. September 2006 wird das Verfahren gegen Wolfgang Priklopil wegen Todes eingestellt.[8]
Weitere Ermittlungen wegen »allfälliger« Mittäter werden eingeleitet. Am 15. November 2006 stellt die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren jedoch ein, weil es – bis auf die Zeugenaussagen[9] der zwölfjährigen Ischtar A. – keine Hinweise auf Komplizen gibt.
Im Februar 2008 erklärt der ehemalige Chef des Bundeskriminalamtes, Herwig Haidinger, im Innenausschuss des Parlaments, dass es Hinweise geben würde, die zu einer früheren Aufdeckung des Kampusch-Falles geführt hätten, aber vertuscht worden wären. Daraufhin setzt Innenminister Günther Platter eine Evaluierungskommission in der Causa ein. Ex-Verfassungsgerichtshof-Präsident Ludwig Adamovich steht ihr vor. Im April 2008 spricht Adamovich erstmals von einer »ungeklärten Frage« nach möglichen Mittätern.[10]
Im Juni desselben Jahres kommt der Kommissionsbericht zu dem Ergebnis, »dass die sachdienlichen Ermittlungsansätze bisher nicht vollständig ausgeschöpft wurden«[11] und empfiehlt eine »Vielzahl an Verbesserungsvorschlägen in Hinblick auf künftige Kriminalfälle von besonderer Komplexität und öffentlichem Interesse«. Hingegen könne von »politischer Vertuschung« nicht gesprochen werden.[12]
Im Oktober 2008 wird der Fall Kampusch neu aufgerollt. Die Staatsanwaltschaft Wien ordnet Erkundigungen durch das Bundeskriminalamt an. Dazu wird am 1. Dezember 2008 beim Bundeskriminalamt eine Sonderkommission (Soko Kampusch) eingesetzt, die sich mit den ungeklärten Fragen aus der vorherigen Evaluierungskommission beschäftigen soll. Die behördliche Leitung wird Erich Zwettler, die operative Leitung Oberst Franz Kröll übertragen. Kurz darauf wird die so genannte Adamovich-Kommission durch das Bundesministerium für Inneres wieder eingesetzt, mit dem Ziel einer interdisziplinären, begleitenden strukturellen Unterstützung der Kriminalpolizei.
Sieben Monate später gibt es weitere Spekulationen über mögliche Komplizen. Die Evaluierungskommission spricht sogar von »Lebensgefahr durch einen möglichen Mittäter«, während das Bundeskriminalamt dies verneint[13]. Im Juli 2009 erhalten Ermittler Einsicht in das von der Staatsanwaltschaft bislang unter Verschluss gehaltene Einvernahmeprotokoll von Kampusch, das unmittelbar nach ihrer Flucht aufgenommen wurde. Im selben Monat übernimmt der Wiener Oberstaatsanwalt Thomas Mühlbacher die Leitung des Verfahrens.
Im September 2009 wird das Verfahren gegen den Partner und Geschäftsfreund des Entführers, Ernst H.[14], sowie gegen die weiteren Verdächtigen, Elisabeth G.[15] und den Heeresoberst im Ruhestand, Peter B.[16], eingestellt.
Im November 2009 gerät Priklopils Geschäftspartner und Freund, Ernst H., erneut in den Fokus der Ermittlungen. »Er war unter Umständen beteiligt«, sagt der Grazer Oberstaatsanwalt Thomas Mühlbacher. Ernst H. behauptet, dass Priklopil ihm kurz vor seinem Suizid Kampuschs Entführung gestanden hätte, deshalb würde er Informationen darüber verfügen. Letztlich habe er dessen Selbstmord aber nicht verhindern können.
In einem ORF-Interview am 16. November 2009 bezweifelt Natascha Kampusch, dass ihr Entführer Mittäter gehabt hätte. »Ich habe nur den Priklopil gesehen«, sagt sie.[17]
Am 8. Januar 2010 erklärt die Staatsanwaltschaft bei einer Pressekonferenz, dass die Causa Kampusch eingestellt ist, weil es keine weiteren Erfolg versprechenden Ermittlungsansätze geben würde.[18] Sokoleiter Oberst Franz Kröll ist nicht anwesend.
Im Januar 2010 kommen die Ermittlungsbehörden zu dem Ergebnis, dass Wolfgang Priklopil offenbar keine Komplizen oder Mitwisser gehabt hatte. Somit schließt der Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Werner Pleischl eine »Mehrtäter-Theorie« aus.[19] Auch der Verdacht gegen Ernst H. erhärtet sich scheinbar nicht. Allerdings wird er wegen Begünstigung angeklagt, weil er Priklopil bei der Flucht geholfen haben soll. Im August wird er jedoch vom Wiener Straflandesgericht von dem Vorwurf freigesprochen.[20]
Wenige Wochen vorher, am 24. Juni 2010, kommt Oberst Franz Kröll ums Leben. Offizielle Version: Selbstmord.
Im November 2010 werden Ermittlungen in Innsbruck gegen fünf in den Fall Kampusch involvierte Staatsanwälte wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs bekannt. Ihnen werden schwere Versäumnisse bei den Ermittlungen vorgeworfen. Dabei handelt es sich um: Werner Pleischl, Leiter der Wiener Oberstaatsanwaltschaft, Thomas Mühlbacher, Leiter der Staatsanwaltschaft Graz und ehemaliger Sonderermittler in der Causa Kampusch, sowie die Staatsanwälte Otto Schneider, Hans-Peter Kronawetter und Gerhard Jarosch.
Ausgelöst hatte die Ermittlungen der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofes, Johann Rzeszut, der auch Mitglied der vom Innenministerium eingesetzten Evaluierungskommission war. In einer »Sachverhaltsmitteilung«[21] v. 29. September 2010 an die fünf Klubobleute des Parlaments (Josef Cap (SPÖ), Karlheinz Kopf (ÖVP), Heinz-Christian Strache (FPÖ), Eva Glawischnig-Piesczek (Die Grünen) und Josef Bucher (BZÖ)) erklärt er, dass die Staatsanwälte »konsequent und beharrlich entscheidende polizeiliche Ermittlungsergebnisse vernachlässigt« haben sollen.[22] Das Amtsmissbrauchs-Verfahren gegen die fünf Staatsanwälte wird allerdings am 23. November 2011 eingestellt.[23]
Im Mai 2011 lehnt die Finanzprokuratur im Namen des Innenministeriums, eine Entschädigungszahlung an Natascha Kampusch für ihre jahrelange Gefangenschaft ab, weil kein »begründeter« Verdacht gegen Entführer Priklopil vor ihrer Flucht weitere Ermittlungen notwendig gemacht hätte.[24] Kampusch forderte eine Entschädigung, weil sie sicher war, dass sie hätte früher aus dem Kellerverlies befreit werden können.[25]
Im Dezember 2011 wird ein geheimer Parlamentsausschuss, der Ständige Unterausschuss des Ausschusses für innere Angelegenheiten, eingerichtet, um die Ermittlungen im Fall Kampusch noch einmal zu evaluieren. Zur Auskunft vorgeladen werden Johann Rzeszut, ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofs in Wien und Mitglied der Evaluierungskommission, Ludwig Adamovich, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs und Vorsitzender der ersten Evaluierungskommission (Adamovich-Kommission), Staatsanwalt Hans-Peter Kronawetter, Leitender Oberstaatsanwalt Innsbruck, Kurt Spitzer, Leitender Staatsanwalt Wien, Thomas Mühlbacher, Generalmajor Nikolaus Koch, Chefinspektor Frühstück und Universitäts-Professor Daniele Risser. Der ebenfalls eingeladene Untersuchungsrichter in der Causa Kampusch, Christian Gneist, folgt der Einladung des Unterausschusses »bedauerlicher Weise« nicht.[26]
Am 28 Juni 2012 veröffentlicht der Ausschuss einen Abschlussbericht, in dem es unter anderem heißt: »Der ständige Unterausschuss für Innere Angelegenheiten hatte in der Evaluierung des Falls ‘Kampusch’ vor allem zwei Fragen zu beantworten: 1. Sind die Ermittler von Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei ihrer Aufgabe mit der notwendigen Sorgfalt und Professionalität nachgekommen? 2. Ist den wesentlichen Fragen, die sich im Laufe der Ermittlungen ergeben haben, ausreichend nachgegangen worden? Nach Ansicht des Unterausschusses müssen beide Fragen mit ‘Nein’ beantwortet werden. Dabei wurde die Arbeit des Unterausschusses durch den Umstand, dass ihm nicht alle Akten vorgelegen sind, erschwert. Daher empfiehlt der Unterausschuss dem Bundesministerium für Innere Angelegenheiten und dem Bundesministerim für Justiz die Evaluierung der Ermittlungsarbeiten zum Fall ‘Kampusch’ durch Cold-Case-Spezialisten mit internationaler Beteiligung, etwa durch Experten des Bundeskriminalamtes der Bundesrepublik Deutschland oder des FBI der Vereinigten Staaten von Amerika«.[27]
Das österreichische Innenministerium bittet die US-amerikanische Bundespolizei Federal Bureau of Investigation (FBI) sowie das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) um Hilfe.
Im Juli 2012 beginnt die »Cold Case«-Überprüfung der Causa Kampusch. Ende Oktober 2012 treffen sich zu einem ersten Informationsaustausch Ermittler des FBI und Ermittler des BKA mit der Kampusch-Evaluierungskommission im österreichischen Innenministerium und führen die bisherigen Ergebnisse der operativen Teams zusammen. Anscheinend gab es im Fall Kampusch ein »unprofessionelles Vorgehen der Erstermittler«[28]. Das Innenministerium will dazu keine Stellung nehmen. Bis Ende 2012 soll ein Ergebnis vorliegen. Allerdings verzögert sich der Bericht bis ins Frühjahr 2013. Doch auch dies verläuft im sprichwörtlichen Sande …
Dies ist die »offizielle« Geschichte des weltweit einzigartigen Entführungsfalles.
Doch sie stimmt – unseren Recherchen nach – so nicht.
Es gibt noch eine andere, eine »geheime«, eine »inoffizielle« Geschichte, die wir aufgedeckt haben!
Guido Grandt — Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors www.guidograndt.de
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