Das Paradox der Zensur

Zensur nimmt viele ver­schiedene Formen an und ist überall am Werk: Wir alle kennen die angeb­lichen Rich­tig­stel­lungen, die Leute, die sich zu „Fakten-che­ckern“ sti­li­sieren wollen, auf ihren eigenen Web­seiten oder in den main­stream-Medien zum Besten geben. Wir alle kennen die Ein­blen­dungen mit Hin­weisen auf Stel­lungs­nahmen der staat­lichen Gesund­heits­dienste, wenn wir auf einen (kri­ti­schen) Artikel oder ein (kri­ti­sches) Video zum Thema „Covid-19“ stoßen. Wir alle dürften Erfah­rungen gemacht haben mit auf mys­te­riöse Weise aus dem Internet ver­schwun­denen Inhalten. Wir alle haben von soge­nannten Schutz­räumen gehört, in denen bestimmte Worte, Ideen oder Themen von vorn­herein aus­ge­schlossen werden, damit niemand der poten­ziell Anwe­senden poten­ziell irgendwie für ihn Unan­ge­nehmes hören muss, oder wir haben eigene Erfah­rungen mit Sprech­ver­boten in solchen – viel­leicht vom Arbeit­geber erzwun­genen – Schutz­räumen gemacht. Oder wir stoßen bei der Lektüre von Leser­briefen selt­sa­mer­weise (fast) aus­schließlich auf solche, die in der jeweils in Frage ste­henden Ange­le­genheit eine ganz bestimmte Position wie­der­spiegeln. Oder wir hören von Per­sonen oder Orga­ni­sa­tionen (oder sind selbst welche), die von Anbietern bestimmter sozialer Dienste oder Netz­werke aus­ge­schlossen wurden, weil sie gegen mys­te­riöse „com­munity stan­dards“ ver­stoßen haben sollen – gewöhnlich ohne nähere Angaben hierzu und ohne Widerspruchsrecht.

Mit Zensur werden wir auch an Orten kon­fron­tiert, an denen man sie wahr­scheinlich nicht sofort ver­muten würde. Ein solcher Ort im digi­talen Kosmos ist z.B. Reverso Context“, das als Wort­schatz-Sammlung einer ganzen Reihe von Sprachen und als Über­set­zungs­pro­gramm eigentlich gute Dienste leisten würde, würde nicht häufig bei einer Wort­suche ein „overlay“ pro­du­ziert, der den Suchenden darüber auf­klärt, dass die Wort­suche viel­leicht unpas­senden Inhalt („inap­pro­priate content“) pro­du­zieren könnte. Es bleibt der Phan­tasie des Nutzers über­lassen, sich zu über­legen, welche frag­wür­digen Dinge sich z.B. mit dem ita­lie­ni­schen Verb „tirare“ for­mu­lieren lassen, das vom Pro­gramm mit „ziehen“, „werfen“, „her­aus­holen“ u.ä. ins Deutsche über­setzt wird. Den bei Weitem meisten von uns wäre der Gedanke an diese Mög­lich­keiten ohne den ent­spre­chenden Hinweis gar nicht gekommen, suchen wir nach der Bedeutung von Worten doch gewöhnlich, weil wir in einem bestimmten Satz auf sie gestoßen sind, den wir als solchen oder im Zusam­menhang mit anderen Texten gerne ver­stehen würden, z.B. wenn der Fuß­ball­spieler Ales­sandro Bastoni fragt, „chi deve tirare i rigori?”, d.h. etwa „wer soll/muss die Elf­meter schießen?“

Das breite Feld der Zensur reicht vom Sinistren über das Lächer­liche bis zum Obskuren, ist manchmal gefährlich, manchmal erschre­ckend, manchmal trivial, manchmal lächerlich, manchmal höchst unter­haltsam, aber jeden­falls weit­gehend eine Nor­ma­lität. Und das ist nicht über­ra­schend, denn das Leben in einer auto­ri­tären Demo­kratie (s. hierzu Kirsch & Welzel 2019 sowie García & Fran­kenberg 2021) samt ihres tech­no­lo­gi­schen bzw. „net­worked“ Auto­ri­ta­rismus (van Dijk & Hacker 2018: 21), wie wir sie derzeit bevölkern, ist ein Leben mit Zensur, ein Leben, in dem wir uns (wieder) an Zensur gewöhnen mussten und in dem wir gelernt haben, mit Zensur zu leben (Kirsch & Welzel 2018: 63).

Gemeinhin gilt Zensur als ein Mittel derer, die Unrecht haben bzw. derer, die in der freien Aus­ein­an­der­setzung auf der Basis von Argu­menten nicht über­zeugen können und deshalb zum Mittel der Mani­pu­lation durch Unter­drü­ckung greifen, um ihr Ziel zu erreichen. Viel­leicht ist Zensur aber auch nur ein Ergebnis eines psy­cho­lo­gi­schen Defektes, eines krankhaft über­stei­gerten Bedürf­nisses nach Geltung, das im Fall der Zensur dadurch befriedigt wird, dass man sich ein­bildet, man habe die Macht zu ent­scheiden, was man anderen Men­schen mit­teilen und was man ihnen vor­ent­halten wolle oder – wenn zum über­stei­gerten Gel­tungs­be­dürfnis ein eso­te­risch-mes­sia­ni­sches Sen­dungs­be­wusstsein hin­zu­kommt – qua „höheren“ Auf­trags müsse.

Was auch immer die Motive hinter oder die Gründe für Zensur sein mögen – Zensur ist kein effek­tives Mittel, um Men­schen durch Vor­ent­haltung von Infor­ma­tionen oder ver­meint­liche Rich­tig­stel­lungen zu beein­flussen, auch, wenn sie in nicht anders als ver­zwei­felter zu nen­nenden Weise und überall ange­wendet wird. Dass Zensur ihr Ziel nicht erreichen kann, liegt in der Natur der Sache, der Zensur selbst, ein Umstand, der unter dem Aus­druck „Paradox der Zensur“ (anscheinend aber nicht den­je­nigen, die Zensur betreiben oder sich für Zensur ein­setzen) bekannt ist. Zensur ist dem­gemäß nicht einfach wir­kungslos, sondern sie wirkt gerade in die gegen­teilige als die beab­sich­tigte Richtung.

In diesem Zusam­menhang schreibt Hol­quist (1994: 14):

One of the ironies that define cen­sorship as a paradox is that it pre­dic­tably creates sophisti­cated audi­ences. The reader of a text known to be cen­sored cannot be naive, if only because the act of inter­diction render a text parabolic”,

d.h, dass Zensur eine “anspruchs­volle Leser-/Zu­hö­rer­schaft“ oder eine „niveau­volle Leser-/Zu­hö­rer­schaft“ pro­du­ziert, denn wer einen Text liest/einen Bericht sieht oder hört, von dem auf irgendeine Weise ersichtlich oder bekannt ist, dass er zen­siert wurde oder Zen­soren Ver­än­de­rungen oder Ergän­zungen an ihm vor­ge­nommen haben, kann nicht in der­selben Weise unbe­darft an den Text/Bericht her­an­gehen, wie er es getan hätte, wenn der Text/Bericht unzen­siert geblieben wäre. Nach Hol­quist wird ein Text/Bericht durch den Akt der Zensur zu einer Art Parabel, die auf zwei ver­schie­denen Ebenen zu lesen ist, nämlich der ersten Ebene des in ihm Berich­teten und der zweiten Ebene dessen, was der Zensor den Leser/Hörer lehren möchte, d.h. auf der (zweiten) Ebene des mora­lisch-didak­ti­schen Inhaltes, den der Zensor dem Text beifügt.

Eine ver­sierte Leser-/Zu­hö­rer­schaft in diesem Sinn ist eine, gelernt hat, zwi­schen Text und Kontext zu unter­scheiden. Statt dem Text sozu­sagen aus­ge­liefert zu sein und auf Hilfe durch z.B. Fakten-checker durch Hin­zu­fügung eines Kon­textes ange­wiesen zu sein, kann die Leser-/Zu­hö­rer­schaft, die Zensur gewohnt ist, den Kontext, der für das Ver­ständnis des zen­sierten Textes ent­scheidend ist, selbst hin­zu­fügen. Es ist eben die Tat­sache der Zensur selbst, die den ent­schei­denden Kontext liefert:

„Cen­sorship, in other words, is a par­ti­cular kind of context, and it fore­grounds the always present tension between text and context“ (Hol­quist 1994: 14).

Dadurch, dass ein Text/Bericht in den Kontext der Zensur gestellt wird, ein zen­sierter Text ist, wird die Auf­merk­samkeit des Lesers/Hörers not­wen­di­ger­weise auf das gelenkt, was durch die Zensur ver­neint werden, als unglaub­würdig oder unwahr oder falsch aus­ge­wiesen werden soll. Zensur ist deshalb eine Variante der Litotes, d.h. der Ver­neinung des Gegen­teils dessen, was man sagen will. Als solche ist die Zensur immer ein schwaches rhe­to­ri­sches Mittel gegenüber dem Mittel der direkten Bejahung; es ist weniger über­zeugend, vor­ge­führt zu bekommen, dass etwas „nicht richtig“ oder gar „nicht ganz richtig“ oder „falsch“ sei, als demons­triert zu bekommen, dass (und warum!) das Gegen­teilige richtig sei. Deshalb schreibt Hol­quist (1994: 15):

„Censors create a palim­psest out of wha­tever they touch …“,

(wobei als “Palim­psest” eine wieder-/neu beschriebene Seite oder ein wieder-/neu beschrie­benes Manu­skript bezeichnet wird, von der oder dem der vorher dort geschriebene Text unvoll­kommen ent­fernt wurde und oft noch lesbar ist.)

Anders aus­ge­drückt: Zensur ist der Versuch, etwas zu über­schreiben oder es umzu­schreiben, was zuvor dort stand, aber der Versuch als solcher lenkt die Auf­merk­samkeit auf das, was dort zuvor stand. Der Versuch des Zensors, eine bestimmte Inter­pre­tation der Dinge – indirekt, mittels der Ver­neinung des Gegen­teils – durch­zu­setzen, ist deshalb von Anfang an zum Scheitern ver­ur­teilt: Dadurch, dass der Zensor zen­siert, hat er die Mög­lichkeit, dass der Leser/Hörer seine Dar­stellung, oder Inter­pre­tation der Dinge, also die des Zensors, unkri­tisch über­nimmt, im Keim erstickt: man kann von nie­mandem erwarten, dass er eine Dar­stellung der Dinge fraglos als Wahrheit über­nimmt, wenn ihm gerade deutlich gemacht wurde, dass Dar­stel­lungen der Dinge inter­pre­tiert werden müssen.

Noch anders for­mu­liert: Der Zensor erhebt den Anspruch, sozu­sagen zwi­schen den Zeilen des zen­sierten Textes zu lesen, dem er diesen oder jenen Fehler, diese oder jene Aus­lassung, diesen oder jenen feh­lenden Kontext unter­stellt, aber er ver­langt gleich­zeitig, dass niemand zwi­schen den Zeilen seiner Zensur bzw. seiner zen­sierten Variante liest. Dies ist eine weitere Hin­sicht, in der die Zensur selbst wider­sprüchlich ist bzw. ein Paradox darstellt.

Die Ein­fäl­tigen unter uns, die „nudger“, die „Fakten-checker“, die Zen­soren usw., brauchen Jahre, wenn nicht Jahr­zehnte, um zu begreifen, dass (wohl aber meist nicht: warum) ihre diversen Mani­pu­la­ti­ons­stra­tegien nicht den erhofften Erfolg bringen. Was sie dann tun oder nicht tun, ist im Großen und Ganzen belanglos. Weniger belanglos ist es m.E., wenn Zensur, ver­ein­facht gesagt: Denk- und Sprach­verbote, in Sprachgebote über­führt werden. Die For­derung ist dann nicht mehr oder nicht nur, bestimmte Dinge nicht zu sagen oder öffentlich zu erwägen, sondern bestimmte andere Dinge zwang- und for­melhaft zu sagen.

Und diese For­derung kann zumindest anfänglich implizit bleiben oder sub­tiler erfolgen als ein Verbot, bestimmte Dinge zu for­mu­lieren. Die Durch­setzung der Befolgung von Sprachgeboten kann – im Gegensatz zur Zensur – bei vielen Men­schen nahezu unterhalb der Bewusst­seins­grenze erfolgen, nämlich durch Gewöh­nungs- und Nor­ma­li­sie­rungs­ef­fekte, z.B. durch die dau­er­hafte Berie­selung durch die immer selben Formeln. Andere Men­schen wird dies lang­weilen, oder es wird ihnen auf die Nerven gehen, aber es wird ver­mutlich nicht – zumindest nicht von Anfang an – das­selbe Ausmaß von Ärger und Wider­stand erzeugen, das ein Sprachverbot erzeugt. Es ist deshalb m.E. min­destens so wichtig, sich gegen die For­derung nach Befolgung von Sprachgeboten zu ver­wahren, wie es wichtig ist, sich gegen Zensur zur Wehr zu setzen.

Immerhin besteht aber die Mög­lichkeit, dass auch der Versuch der Gewöhnung an und Nor­ma­li­sierung von Unge­wöhn­lichem und Un-Nor­malem einen gegen­tei­ligen als den erwünschten Effekt erzielt und Reaktanz erzeugt: Men­schen werden nicht nur auch diese Art der Zensur als eben den spe­zi­ellen Kontext der Zensur erkennen, sondern es scheint auch plau­sibel, zu ver­muten, dass bei vielen Men­schen die For­derung der expli­ziten Befolgung von Geboten auf den Adres­saten psy­cho­lo­gisch schwerer wiegen wird als die For­derung nach (oft implizit blei­bender) Unter­lassung. Der Selbst-Wider­sprüch­lichkeit und der Willkür der Zensur dürfte Wider­sprüch­lichkeit der psy­cho­lo­gi­schen Effekte, die Zensur (ver­schie­dener Art, bei ver­schie­denen Men­schen) erzeugt, und eine gewisse Willkür im Hin­blick auf die dem­entspre­chend gezeigten Reak­tionen der Men­schen entsprechen.

Wir werden sehen.
Derzeit scheint es wichtig, sich darüber klar zu werden, dass Wider­stand gegen Zensur in der Form von Sprachgeboten (min­destens) ebenso wichtig ist wie der Wider­stand gegen Zensur in ihrer, sagen wir, klas­si­schen Form, d.h. gegen Zensur in Form von Sprachverboten.

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Lite­ratur

Dijk, Jan A.G.M. van, & Hacker, Kenneth L., 2018: Internet and Demo­cracy in the Network Society. New York: Routledge.

García, Helena Alviar, & Fran­kenberg, Günter, 2021: Aut­ho­ri­tarian Struc­tures and Trends in Con­so­li­dated Demo­cracies, S. 164–174 in: Sajó, András, Uitz, Renáta, & Holmes, Stephen (Hrsg.): Rout­ledge Handbook of Illi­be­ralism. New York: Routledge.

Hol­quist, Michael, 1994: Intro­duction: Corrupt Ori­ginals: The Paradox of Cen­sorship. PMLA (Publi­ca­tions of the Modern Lan­guage Asso­ciation) 109(1): 14.25.

Kirsch, Helen, & Welzel, Christian, 2019: Demo­cracy Misun­derstood: Aut­ho­ri­tarian Notions of Demo­cracy around the Globe. Social Forces 98(1): 59–92.


Quelle: sciencefiles.org