Die Theorie der Indexzahlen zur Messung von Preisinflation hat eine lange Tradition. Einer der Protagonisten auf diesem Gebiet zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der amerikanische Autor Correa M. Walsh, der unter anderem in eine kritische Debatte zu diesem Thema mit dem bekannten neoklassischen Ökonom Francis Y. Edgeworth verwickelt war. Im Jahre 1921 veröffentlichte Walsh ein für das Thema relativ leicht verdauliches Büchlein unter dem Titel The Problem of Estimation.
(von Dr. Karl-Friedrich Israel)
In diesem Buch greift Walsh eine interessante Anekdote aus dem Leben des Universalgelehrten Galileo Galilei auf. Er berichtet von einem Streit, den Galilei einst zusammen mit dem Mathematiker Castelli gegen einen gewissen Herrn Nozzolini führte. Dieser Streit aus dem 17. Jahrhundert deutet auf wichtige Probleme hin, die bei der Berechnung von Durchschnittspreisen und Indexzahlen zu beachten sind. Walsh hat sich vom Prestige Galileis und vom rhetorischen Witz Castellis aber völlig in die Irre führen lassen. Der österreichische Ökonom Gottfried Haberler, Doktorand von Ottmar Spann und Ludwig von Mises, griff die Anekdote aus dem Leben Galileis auf und korrigierte Walsh in seiner bahnbrechenden Habilitationsschrift von 1927.[1]
Galileis Streit drehte sich sinngemäß um folgendes Problem: Ein Pferd habe einen handelsüblichen Preis von 100 Kronen. Eine bestimmte Person schätzt den Preis des Pferdes aber auf 1.000 Kronen. Eine andere Person schätzt ihn auf lediglich 10 Kronen. Welche Schätzung ist weniger fehlerhaft?
Es ist vielleicht nicht unmittelbar ersichtlich, warum diese Frage mit der Messung von Preisdurchschnitten und Inflation zu tun hat. Man kann sie aber einfach umformulieren, damit der Zusammenhang deutlicher wird: Wie groß müsste der handelsübliche Preis des Pferdes sein, damit beide Schätzungen gleich falsch sind? Mit anderen Worten: Wie hoch müsste der handelsübliche Preis des Pferdes sein, damit die beiden Schätzungen im Durchschnitt richtig sind.
Herr Nozzolini ist der Auffassung, dass das arithmetische Mittel den relevanten Durchschnitt liefere. Er behauptet also, dass der Preis des Pferdes 505 Kronen sein müsste, damit beide Schätzungen als gleich falsch eingestuft werden können. In diesem Fall läge die niedrige Schätzung genau 495 Kronen zu niedrig und die hohe Schätzung läge genau 495 Kronen zu hoch. Im arithmetischen Durchschnitt gleicht sich das genau aus. Beide Schätzungen liegen also in entgegengesetzter Richtung gleich weit weg vom wahren Wert. Nozzolini zufolge läge im Ausgangsszenario, also bei einem tatsächlichen Preis von 100 Kronen, die niedrige Schätzung (90 Kronen zu wenig) weniger falsch als die hohe Schätzung (900 Kronen zu viel).
Galilei und sein Kollege Castelli sind anderer Meinung. Sie halten das arithmetische Mittel für falsch. Stattdessen sei das geometrische Mittel relevant. Es komme also nicht darauf an um wieviel eine Schätzung absolut daneben liegt, sondern um wieviel sie prozentual daneben liegt. Galilei und Castelli halten also die beiden Schätzungen von 10 und 1.000 Kronen für gleichfalsch, wenn der echte Preis 100 Kronen ist. Die hohe Schätzung überschätzt den echten Preis um das zehnfache und die niedrige Schätzung unterschätzt ihn um das zehnfache.
Nozzolini verteidigt seine Position, indem er sich einen tatsächlichen Kauf zu den geschätzten Preisen vorstellt. Die eine Person kauft das Pferd für 1.000 Kronen und macht dabei einen Verlust von 900 Kronen. Dieser Verlust wird nicht durch den Gewinn eines anderen Käufers aufgehoben, der ein identisches Pferd für 10 Kronen kauft. Nozzolini folgt also einer, nicht so ohne weiteres von der Hand zuweisenden, buchhalterischen Logik: Ein Verlust von 900 Kronen und ein Gewinn von 90 Kronen ergeben insgesamt immer noch einen Verlust. Die hohe Schätzung sei also fehlerhafter.
Galilei erwidert, indem er darauf hinweist, dass man keinen Kauf zugrunde legen könne. Es ginge hier um eine Schätzung. Und die Güte einer Schätzung könne niemals in absoluten Zahlen bewertet werden. Wenn eine Person das Gewicht einer Kuh um 10 Kilogramm überschätzt und eine andere Person die Höhe eines Berges um 100 Meter unterschätzt, könne man nicht sagen wessen Schätzung fehlerhafter ist. Es braucht immer den Referenzwert, also das eigentliche Gewicht der Kuh und die tatsächliche Höhe des Berges. Erst dann könne man die Güte der Schätzungen vergleichen und zwar in Prozent.
Galileis Kollege Castelli geht noch einen Schritt weiter und führt eine ganz unterhaltsame reductio ad absurdum ins Feld. Er fragt Nozzolini, um wieviel die niedrige Schätzung des Preises unter dem wahren Wert von 100 Kronen liegen müsse, damit die hohe Schätzung von 1.000 Kronen genau ausgeglichen wird? Sollte sie etwa negativ sein? Das wäre erforderlich, wenn man das arithmetische Mittel ansetzt. Die niedrige Schätzung müsste dann ‑800 Kronen sein. Das sei aber ganz ausgeschlossen. Güterpreise werden niemals negativ geschätzt. Genauso ist das mit der Höhe eines Berges. Man kann sicherlich die Höhe eines Berges, der tatsächlich 100 Meter hoch ist, auf 200 Meter überschätzen. Aber man wird doch einen Berg niemals für ein Loch halten.
Damit war zumindest Walsh überzeugt. Er glaubte ein Argument gefunden zu haben, durch welches er beweisen könne, dass nicht der arithmetische, sondern der geometrische Durchschnitt bei der Berechnung eines Preisindexes zu bevorzugen sei. Denn Preise sind wie Berge. Sie können theoretisch unendlich hoch sein, aber niemals negativ.
Dieses Argument ist aber völlig unzulänglich, wie Gottfried Haberler zeigt. Es führt nämlich selbst ins Absurde. Die Annahme, die Galilei und Castelli implizit treffen, und die Walsh unüberlegt übernimmt, ist, dass jede Preiserhöhung (bzw. Überschätzung) durch eine entsprechende Preissenkung (bzw. Unterschätzung) ausgeglichen werden kann. Das ist aber nicht der Fall. Wenn man das geometrische Mittel ansetzt, dann könnte die hypothetische Preiserhöhung eines Gutes, die ins Unendliche geht, durch das Absinken des Preises eines anderen Gutes gegen 0 ausgeglichen werden. Wohlfahrtsökonomisch ist eine solche Annahme aber nur dann sinnvoll, wenn die Güter zu einem gewissen Grad substituierbar sind, das heißt, dass man auch auf das unendlich teure Gut verzichten kann, wenn man das günstigere Gut in größeren Mengen erhält, ohne dass dabei der Lebensstandard eingeschränkt wird. Allgemein gilt das nicht.
Der springende Punkt ist, dass es Preiserhöhungen gibt, die nicht durch Preissenkungen bei anderen Gütern ausgeglichen werden können. Setzt man aber das geometrische Mittel bei der Berechnung eines Preisindexes ein, so könnten die Preise von z.B. Heizöl, Strom, und Erdgas noch so stark steigen. Es gäbe offiziell keine Preisinflation, wenn etwa Bananen auf einmal umsonst zu haben wären.[2]
Der springende Punkt ist, dass es Preiserhöhungen gibt, die nicht durch Preissenkungen bei anderen Gütern ausgeglichen werden können.
Gottfried Haberler fasst seine Kritik wie folgt zusammen:
Es ist das wieder ein typisches Beispiel dafür, wie man mit formal-mathematischen Überlegungen sachlich-ökonomische Probleme zu lösen sucht. […] Ist es wirklich so absurd, daß, wenn die eine Hälfte aller Güter um über 100% [im Preis] gestiegen ist, es keine Kompensation durch ein noch so starkes Sinken der Preise der anderen Hälfte geben kann? Natürlich unter Voraussetzung gleicher umgesetzter Mengen in beiden Perioden! Im Gegenteil! Unter diesen Voraussetzungen ist es gar nicht so absurd; denn dann bedeutet ein Steigen der einen Hälfte der Preise um über 100%, daß die gleiche Gütermenge in der 2. Periode auf alle Fälle mehr kostet, wie tief auch die Preise der anderen Hälfte gefallen sind. (S. 40)[3]
Haberler verdeutlicht damit, dass es bei der Berechnung von Indexzahlen, die niemals perfekt sein kann, auf die ökonomischen Sachverhalte ankommt, und nicht so sehr auf formal-mathematische Kriterien. Manchmal ist die Herangehensweise eines einfachen Buchhalters zielführender als die eines Astrophysikers.
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[1] Alle Briefe des Streits zwischen Galilei, Castelli und Nozzolini sind in den gesammelten Werken von Galilei zu finden. Haberlers Habilitationsschrift wurde veröffentlicht als: Haberler, G. (1927). Der Sinn der Indexzahlen: Eine Untersuchung über den Begriff des Preisniveaus und die Methoden seiner Messung. Tübingen: J. C. B. Mohr. Die relevante Passage findet man auf den Seiten 37–42. Ich halte mich an die Darstellung Haberlers.
[2] Gottfried Haberler hätte natürlich niemals ein so plakatives Beispiel in seiner Habilitationsschrift verwendet, aber es veranschaulicht das Problem sehr gut. Nehmen Sie an eine bestimmte Menge Erdgas kostet zunächst 100 Kronen. Eine bestimmte Menge Bananen kostet ebenfalls 100 Kronen. Der Preisindex ist also zunächst 100. Ganz egal wie Sie die beiden Güter gewichten, wenn Sie einen geometrischen Durchschnitt verwenden, gäbe es für jede erdenkliche Preiserhöhung bei Erdgas immer eine mögliche Preissenkung bei Bananen, die den Preisanstieg bei Erdgas komplett ausgleicht. Nehmen Sie an, der Preis von Erdgas steigt von 100 auf 100.000 Kronen. Wenn nun der Bananenpreis von 100 auf 0,1 Kronen sinkt, dann bleibt das geometrische Mittel bei 100 = √(100.000 * 0,1). Die Preise wären laut Index also stabil. Aber mit Bananen lässt sich schlecht heizen.
[3] Man könnte jetzt anmerken, dass Haberlers Formulierung nicht ganz exakt ist. Aber man weiß ja, was er meint. Er geht implizit auch davon aus, dass die Hälfte der Gesamtausgaben in der 1. Periode für jene Hälfte der Güter ausgegeben wird, deren Preise sich mehr als verdoppeln.
Dr. Karl-Friedrich Israel ist Assistenzprofessor an der Katholischen Universität des Westens in Angers, Frankreich. Er hat Volkswirtschaftslehre, Angewandte Mathematik und Statistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der ENSAE ParisTech und der Universität Oxford studiert. Er wurde 2017 an der Universität Angers bei Professor Dr. Jörg Guido Hülsmann promoviert und unterrichtete dort an der Fakultät für Recht und Volkswirtschaftslehre von 2016 bis 2018 als Dozent. Von 2018 bis 2020 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig.
Quelle: misesde.org
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