Der Auf­stieg des Drachen und des weißen Adlers — Wie Nationen der Armut entkommen

Was gegen Armut hilft und was nicht. Markt­wirt­schaft­licher Kapi­ta­lismus ja, sozia­lis­ti­scher Kapi­ta­lismus nein – Zwei Bei­spiele: Polen und Vietnam

(Rezension zu Rainer Zitel­manns neuem Buch: “Der Auf­stieg des Drachen und des weißen Adlers. Wie Nationen der Armut ent­kommen”  von Klaus Peter Krause)

Zitelmann beginnt sein neues Buch mit einem Kapitel, in dem er zeigt, was nicht gegen Armut hilft, nämlich Ent­wick­lungs­hilfe. Damit hat er recht. Bekannt ist das seit Jahr­zehnten, und berüchtigt dafür ist besonders Schwarz­afrika, das große Sor­genkind der Ent­wick­lungs­hilfe. Seit dort die Kolo­ni­alzeit vorüber ist und die Länder poli­tisch sou­verän sind, wurden Unmengen an Finanz‑, Sach- und Bera­tungs­leis­tungen förmlich in sie hin­ein­ge­pumpt. Aber auf den erstrebten breiten Wohl­stand sind diese Länder trotzdem nicht gekommen. Im Gegenteil, es ging mit ihnen eher bergab, die Hilfe ver­puffte, hat ihnen sogar geschadet. Bei­spielhaft sei an den „Bonner Aufruf“ von Afrika-Experten von 2008 für eine andere Ent­wick­lungs­po­litik erinnert, der die Lage in Afrika wieder einmal öffentlich gemacht hatte: „Nach einem halben Jahr­hundert per­so­neller und finan­zi­eller Ent­wick­lungs­hilfe für Afrika stellen wir fest, dass unsere Politik versagt hat. Die Ergeb­nisse sind weit hinter den Erwar­tungen zurückgeblieben.“

„50 Jahre Ent­wick­lungs­hilfe – 50 Jahre Strohfeuer“

Die Über­schrift zum besagten ersten Kapitel in Zitel­manns Buch lautet „Was gegen Armut hilft – und was nicht“. Wohl bleibt für Zitelmann „der Kampf gegen die Armut eine der wich­tigsten Auf­gaben für die Menschheit“, aber Ent­wick­lungs­hilfe – poli­tisch korrekt heut­zutage Ent­wick­lungs­zu­sam­men­arbeit genannt – sei dafür das falsche Mittel. Oft habe sie nichts bewirkt und manchmal sogar das Gegenteil dessen, was beab­sichtigt gewesen sei. Er ver­weist dabei unter anderem auf das Buch des erfah­renen Ent­wick­lungs­hilfe-Kenners Frank Bremer mit dessen bit­terer Bilanz „50 Jahre Ent­wick­lungs­hilfe – 50 Jahre Stroh­feuer“. Zwar sei die Quote der extremen Armut in den Ent­wick­lungs­ländern deutlich zurück­ge­gangen (von über 42 Prozent 1981 auf unter 10 Prozent 2021), doch dieser tolle Erfolg sei nicht wegen, sondern trotz der Ent­wick­lungs­hilfe zustande gekommen.

Eine ver­nich­tende Gesamt­bilanz der Ent­wick­lungs­hilfe

Selbst der Befund einer Unter­su­chung, wonach eine bessere Qua­lität der Regierung zu einer grö­ßeren Effek­ti­vität der Ent­wick­lungs­hilfe führe und Ent­wick­lungs­hilfe wenigstens bei guten poli­ti­schen Rah­men­be­din­gungen einen posi­tiven Effekt habe, halte einer näheren Über­prüfung nicht stand. Zitelmann stützt sich dabei auf Bücher wie das von William Eas­terly, Pro­fessor für Öko­nomie und Afri­ka­studien an der New York Uni­versity, mit dem Titel „Was Deve­lo­pment Assis­tance a Mistake?“. Eas­terly halte Ent­wick­lungs­hilfe eben­falls für weit­gehend nutzlos, oft sogar für kon­tra­pro­duktiv. Dessen Gesamt­bilanz der Ent­wick­lungs­hilfe falle ver­nichtend aus. Andere Öko­nomen seien zum gleichen Ergebnis gekommen.

Märkte funk­tio­nieren immer, auch Schwarzmärkte

Was wirklich helfe, seien spontane Ent­wick­lungen des Marktes, also Ent­wick­lungen, die von unten kommen müssten, nicht Experten mit der Anmaßung von Wissen. Viel­ver­spre­chender und poten­tiell kos­ten­ef­fi­zi­enter sei der Weg, die betref­fenden Länder dabei zu unter­stützen, ein wirt­schaft­liches Umfeld zu schaffen, das mit freien Märkten kom­pa­tibel sei, und auf diese Weise die indi­vi­du­ellen Anstren­gungen und die Krea­ti­vität frei­zu­setzen. Man nennt es kurz Markt­wirt­schaft. Märkte funk­tio­nieren immer. Sind es freie Märkte, funk­tio­nieren sie besonders gut. Wird ihre Freiheit staatlich beschränkt, ent­stehen Schwarz­märkte. Auch die funk­tio­nieren, aber nicht gut genug.

Wirt­schaft­liche Frei­räume ermög­lichen, um aus eigener Kraft hochzukommen

Für frei­heitlich gesinnte Öko­nomen ver­steht sich das von selbst, zumal wenn sie sich im Lehr­ge­bäude der Öster­rei­chi­schen (oder Wiener) Schule der Natio­nal­öko­nomie bewegen oder in dem der ordo­li­be­ralen Frei­burger Schule. Aber zu viele Poli­tiker schätzen Freiheit nicht son­derlich, sie reden nur davon. Und zu viele Men­schen wissen nichts davon und wählen daher Poli­tiker, die von Freiheit über­wiegend nur reden, statt sie ihnen zu bescheren und zu sichern. Zu den libe­ralen Öko­nomen gehört auch Zitelmann. Arme Staaten wie in Afrika oder woanders sollten für ihre Bürger und Unter­nehmen wirt­schaft­liche Frei­räume ermög­lichen, um aus eigener Kraft hoch­zu­kommen, und auf diese Weise die her­kömm­liche Ent­wick­lungs­hilfe aus erfolg­reichen Staaten ersetzen.

Vor 30 Jahren zwei der ärmsten Länder: Polen und Vietnam

Zitelmann for­mu­liert das so: Das Marktsystem

beruht darauf, dass der­jenige reich wird, der die Bedürf­nisse mög­lichst vieler Kon­su­menten befriedigt. Das ist die Logik des Marktes. Und das für kapi­ta­lis­tische Systeme cha­rak­te­ris­tische Wirt­schafts­wachstum ermög­licht es, dass manche Men­schen und auch ganze Nationen reicher werden – ohne dass dies auf Kosten anderer Men­schen und Nationen geschieht, die gleichsam auto­ma­tisch ärmer würden.

Das wolle er am Bei­spiel von zwei Ländern zeigen, die beide noch vor 30 Jahren sehr arm gewesen seien – Polen und Vietnam. Warum diese beiden? Sie waren Schau­platz schreck­licher Kriege mit großem Verlust an Men­schen. Sie haben nach den Kriegen sozia­lis­tische Plan­wirt­schaften errichtet, die zer­stört haben, was der Krieg noch nicht zer­stört hatte. Vietnam war eines der ärmsten Länder auf der Erde, Polen eines der ärmsten in Europa. Beide Länder haben in den ver­gan­genen Jahr­zehnten stark an wirt­schaft­licher Freiheit gewonnen, stärker als Länder ver­gleich­barer Größe.

Um Armut zu über­winden, Reichtum zulassen

Und noch etwas ist für Zitelmann Aus­wahl­kri­terium gewesen: Nach reprä­sen­ta­tiven Mei­nungs­um­fragen sehen die Men­schen in den beiden Ländern Reichtum und Reiche ver­gleichs­weise besonders positiv. Was meint er damit? In seinen For­schungen sei er zu dem ver­meintlich para­doxen Ergebnis gekommen, „dass nur eine Gesell­schaft, die Reichtum zulässt und Reichtum positiv sieht, Armut über­winden kann“. Zugleich seien dies auch „Länder, in denen die Men­schen – trotz der unter­schied­lichen poli­ti­schen Systeme – den Begriff ‚Kapi­ta­lismus‘ sehr viel posi­tiver beur­teilen als ihre Zeit­ge­nossen in den meisten anderen Ländern“.

Kapi­ta­lismus in markt­wirt­schaft­licher und sozia­lis­ti­scher Spielart

Mit „Kapi­ta­lismus“ gemeint ist freie Markt­wirt­schaft. Sozia­listen ver­wenden diesen Begriff als Gegen­stück zum Sozia­lismus, und Nicht-Sozia­listen haben ihn sich auf­drängen lassen, ebenso Zitelmann. Aber auch Sozia­lismus kommt ohne Kapital (Sach- und Geld­ka­pital) nicht aus, ist insofern eben­falls Kapi­ta­lismus, wenn auch in einer anderen Spielart. Die Unter­scheidung müsste demnach lauten „markt­wirt­schaft­licher Kapi­ta­lismus“ und „sozia­lis­ti­scher Kapi­ta­lismus“. Markt­wirt­schaftler und Sozia­listen gehen mit dem Kapital nur sehr viel anders um. Nicht-Sozia­listen sollten das Wort „Kapi­ta­lismus“ meiden, wenn sie „freie Markt­wirt­schaft“ meinen, und daher lieber von „Markt­wirt­schaft“ sprechen. Sozia­listen dagegen meiden das Wort Markt­wirt­schaft und nennen sie „Kapi­ta­lismus“; in ihrem Mund hat Kapi­ta­lismus einen dif­fa­mie­renden Bei­klang, und der ist so auch gemeint.

Die vier Kapitel, die mise­rable Ausgangslage

Zitel­manns Buch hat vier Kapitel. Das erste stellt fest, dass die her­kömm­liche Ent­wick­lungs­hilfe gegen Armut nicht hilft. Das zweite beschreibt den wirt­schaft­lichen Auf­stieg Polens, das dritte den von Vietnam, das vierte zieht ein Resümee mit dem Titel „Wohl­stand und Armut von Nationen“. Für beide Länder stellt Autor Zitelmann ein­drucksvoll zunächst die Aus­gangslage dar – für Polen mit den Unter­ka­piteln Ein geschun­denes Land und Sozia­lismus in Polen, für Vietnam mit den Unter­ka­piteln Ein Land im Krieg – Sozia­lis­tische Plan­wirt­schaft im Norden und im Süden – Lebens­be­din­gungen in den 80er Jahren. Die Polen waren 1988/89 ärmer als ein Durch­schnitts­bürger in Gabun, der Ukraine oder in Surinam, die Regale in vielen pol­ni­schen Geschäften noch leerer als zuvor, die Aus­gangs­be­din­gungen mise­rabel. In Vietnam lebten noch 1993 knapp 80 Prozent der Viet­na­mesen in Armut. Bis 2006 hatte sich die Quote auf 51 Prozent ver­ringert. 2020 lag sie bei nur noch 5 Prozent.

Rettung durch unter­neh­me­rische Freiheit und einen Ökonomen

Dann der Umschwung. Die Vor­aus­set­zungen für den wirt­schaft­lichen Auf­stieg Polens schuf der poli­tische Wandel in den 1980er Jahren. Der ent­schei­dende Impuls für das Ende der sozia­lis­ti­schen Dik­tatur ging mit Streiks und anhal­tenden Pro­testen von den Arbeitern aus, besonders von den Werft­ar­beitern in Gdingen und Danzig. Das Übrige bewirkte die aus­sichtslose Wirt­schaftslage und die daraus resul­tie­rende Erkenntnis der poli­ti­schen Führung, nur mehr unter­neh­me­rische Freiheit könne Polen retten. 1988, in den letzten Monaten der Pol­ni­schen Volks­re­publik, wurde das Gründen von kleinen Unter­nehmen ein­ge­leitet. Jeder durfte sich frei unter­neh­me­risch betä­tigen und mit dieser Tätigkeit alles tun, was nicht durch das Gesetz ver­boten war. Das Ergebnis, so Zitelmann, sei beein­dru­ckend gewesen, und das Gesetz habe viel unter­neh­me­rische Initiative frei­ge­setzt. Aber es war erst nur eine Teil­lösung. Das not­wendige Weitere besorgte der Wirt­schafts­wis­sen­schaftler Leszek Bal­ce­rowicz, der 1989 als „Polens Ludwig Erhard“ Vize­premier und Finanz­mi­nister wurde. Mit ent­schlos­senen, schnellen und radi­kalen Reform­maß­nahmen nutzte er sein kurzes Zeit­fenster und hatte mit den Reformen großen Erfolg.

Die not­wen­digen Persönlichkeiten

In einem wei­teren Unter­ka­pitel befasst sich Zitelmann mit der Frage, was andere Länder von der pol­ni­schen Erfahrung lernen können. Zuerst sollte an der Spitze des Reform­pro­zesses jemand stehen, der ein klares markt­wirt­schaft­liches Koor­di­na­ten­system habe. Das sei in Deutschland nach dem Zweiten Welt­krieg mit Ludwig Erhard so gewesen, in den 80er-Jahren in Groß­bri­tannien so mit Mar­garet Thatcher, in den USA mit Ronald Reagan und in Polen mit Leszek Bal­ce­rowicz. Zu ergänzen wäre, dass solche Per­sön­lich­keiten Ver­trauen aus­strahlen sollten, Ver­trauen dann gewinnen und Ver­trauen verdienen.

Reformen müssen schnell kommen und radikal sein

Ohne Bal­ce­rowicz wäre das pol­nische Wirt­schafts­wunder nicht möglich gewesen. Ent­scheidend für den Reform­erfolg, so Zitelmann, sei aber eine sehr schnelle Aus­führung, „bevor Medien und poli­tische Gegner mit popu­lis­ti­schen Parolen Stimmung gegen die Reformen machen würden“. Zudem müsse die Reform auch radikal sein:

Das Reform­pro­gramm gehörte zu den radi­kalsten wirt­schaft­lichen Reform­pro­grammen, die es in der Welt­ge­schichte je zu Frie­dens­zeiten gegeben hat.

In einem wei­teren Unter­ka­pitel warnt Zitelmann:

Die Polen dürfen die Gründe für ihren Erfolg nicht vergessen.

Der Sozi­alneid gegenüber reichen Menschen

Anschließend folgen die Unter­ka­pitel „Was die Polen über den Kapi­ta­lismus denken“ (Stichwort: weniger Markt­wirt­schaft und mehr Staat?) und „Was die Polen über reiche Men­schen denken“ (Stichwort: Sozi­alneid). Hierzu findet der Leser das, was von Zitelmann in Auftrag gegebene und kom­men­tierte Befra­gungen ergeben haben. Eines der vielen Ergeb­nisse: Der Sozi­alneid gegenüber reichen Men­schen kommt in Deutschland deutlich stärker zum Aus­druck als in Polen.

Der klare markt­wirt­schaft­liche Kompass

Für Zitelmann zeigt das Bei­spiel Polen, „wie sehr kapi­ta­lis­tische Reformen das Leben der Men­schen in einem Land ver­bessern können – und dass dabei zuweilen Schnel­ligkeit und Radi­ka­lität gefragt sind. Polen hatte das

Glück, in einer ent­schei­denden Phase seiner Geschichte von Poli­tikern geführt zu werden, die ehrlich waren und einen klaren markt­wirt­schaft­lichen Kompass hatten. Zwei Dinge, die leider für viele andere ehemals sozia­lis­tische Länder nicht zutreffen.“

In Vietnam eine ähn­liche Ent­wicklung wie in Polen

In Vietnam verlief die Ent­wicklung ähnlich wie in Polen, auch wenn Vietnam das Ein­par­tei­en­system bei­be­hielt und sich offi­ziell nach wie vor als „sozia­lis­tisch“ bezeichnet. Nach dem Krieg führte Vietnam die sozia­lis­tische Plan­wirt­schaft ein. Weil auch sie mit ver­hee­renden Aus­wir­kungen schei­terte, sah sich Vietnam eben­falls zu markt­wirt­schaft­lichen Reformen gezwungen. Sie begannen fast zum gleichen Zeit­punkt wie in Polen. Doch waren es zunächst nur „bescheidene Reformen, die oftmals nur das lega­li­sierten, was bereits vorher spontan statt­ge­funden hatte – auf dem Land ebenso wie in den Städten“. Zitelmann kon­sta­tiert: Kapi­ta­lismus (also Markt­wirt­schaft) könne nicht ver­ordnet werden, „sondern er wächst in einem spon­tanen Prozess von unten, und das Beste, was die poli­tische Führung tun kann, ist, diesen Prozess nicht zu stören oder zu verhindern“.

Das Ein­ge­ständnis des Schei­terns und die „Doi-Moi“-Reformen

Dann kamen mit dem VI. Par­teitag vom Dezember 1986 die „Doi-Moi“-Reformen („Doi Moi“: Erneuerung). Offen gestand die Par­tei­führung ein, dass die Jahre 1976 bis 1980 ver­lorene Jahre waren. In ihrem Bericht führte sie unver­blümt auf, was und wo es im Argen lag. Der Par­teitag beschloss, mehr Markt zu wagen und die all­mächtige Rolle des Staates zurück­zu­drängen. Das bedeutete freilich nicht die plötz­liche Abkehr von der staat­lichen Plan­wirt­schaft und den Übergang zur freien Markt­wirt­schaft, sondern offi­ziell nur, dass der staat­liche, der genos­sen­schaft­liche und der private Sektor gleich­be­rechtigt neben­ein­ander exis­tieren sollten. Aber Pri­vat­ei­gentum an Pro­duk­ti­ons­mitteln war nicht mehr verpönt, und man wollte sich gegenüber dem kapi­ta­lis­ti­schen Ausland öffnen.

Reiche und Reichtum nicht mehr verpönt

Anders bewertet wurden nun auch Reiche und Reichtum. Wie in China die öko­no­mi­schen Reformen von Deng Xiaoping mit seiner Parole „Lasst erst mal einige reich werden“ begonnen hatten, hörte man auf dem VI. Par­teitag der Kom­mu­nis­ti­schen Partei Vietnams: „Wir sollten keine Angst davor haben, dass einige Leute wohl­habend werden. Denn unser Land wird nur dann stark sein, wenn unsere Men­schen wohl­habend sind.“

Reform­beginn in kleinen Schritten

1988 begannen die Reformen Gestalt anzu­nehmen. Das Buch zählt sie auf. Man begann mit Expe­ri­menten auf lokaler Ebene, und wenn diese erfolg­reich waren, wurden sie auf die gesamt­staat­liche Ebene über­tragen. Ein Schwer­punkt der Reformen lag in der Land­wirt­schaft. Die bäu­er­lichen Fami­li­en­be­triebe durften selb­ständig arbeiten. Eben­falls mehr Selb­stän­digkeit bekamen die Betriebe in Gewerbe und Industrie. Private Betriebe durften nun unbe­grenzt Arbeits­kräfte ein­stellen. Vorher hatte es Pri­vat­be­triebe gar nicht gegeben, abge­sehen von Fami­li­en­be­trieben, die aber keine Lohn­ar­beiter beschäf­tigen durften. Doch eine große Pri­va­ti­sie­rungs­welle wie in manchen ost­eu­ro­päi­schen Ländern fand vorerst nicht statt. Wie in Polen blieben Staats­be­triebe zwar bestehen, ver­loren aber gegenüber der pri­vaten Wirt­schaft relativ an Bedeutung.

Reform­an­stöße durch spontane Ent­wick­lungen von unten nach oben

Schon 1987 öffnete sich Vietnam aus­län­di­schen Inves­toren. 1989 libe­ra­li­sierte es (mit einigen Aus­nahmen) die Preis­po­litik. 1990/91 führte es die Rechts­formen des Ein­zel­un­ter­nehmens, der Gesell­schaft mit beschränkter Haftung und der Akti­en­ge­sell­schaft ein. 1992 ver­an­kerte es in seiner Ver­fassung den Schutz des Pri­vat­ei­gentums an Pro­duk­ti­ons­mitteln vor einer Enteignung.

Im Mai 1999 besei­tigte ein neues Unter­neh­mens­recht für private Firmen weitere büro­kra­tische Hürden. Die Reformen, so Zitelmann, sind ein stän­diger Prozess. Dazu die wichtige Beob­achtung: Man solle aber nicht ver­gessen, dass sie ihren Aus­gangs­punkt in spon­tanen Ent­wick­lungen in Richtung mehr Markt gehabt hätten, die dann der Par­teitag legi­ti­miert habe. Aller­dings not­ge­drungen, wäre zu ergänzen. „In Wirk­lichkeit war die Reform größ­ten­teils eine ver­spätete Geneh­migung der Akti­vi­täten, die sich zuvor in der ‚Grau- oder Schwarzzone‘ bewegt hatten.“ Heute sagt man dazu bottom-up statt top-down.

Die Pro­bleme Staats­be­triebe, Kor­ruption, Ein-Parteien-Herrschaft

In wei­teren Unter­ka­piteln beschreibt Zitelmann, wie die Reformen das Leben der Viet­na­mesen ver­bessert haben, wie Vietnam von der Glo­ba­li­sierung pro­fi­tiert, welche wichtige Rolle Frauen in Vietnam spielen, wie Viet­na­mesen reiche Men­schen und den Kapi­ta­lismus sehen. Aber es bleibe noch viel tun. Er ver­weist hierzu auf das Problem Staats­be­triebe und Kor­ruption, auf die Ein-Par­teien-Herr­schaft. Die Ursachen des Erfolgs der Viet­na­mesen sieht er in deren „Prag­ma­tismus und Gegenwartsorientierung“.

Vietnam mit mehr Ein­wohnern als jedes euro­päische Land

Nebenbei erfährt der Leser über Vietnam, dass dort in den letzten tausend Jahren die Perioden des Krieges länger waren als die des Friedens und dass sich Vietnam immer wieder gegen fremde Ein­dring­linge und Besatzer hat zur Wehr setzen müssen – gegen Chi­nesen und Mon­golen, gegen Japaner und Fran­zosen, zuletzt gegen die USA mit furcht­baren Zer­stö­rungen und großen und (durch Gift­ein­sätze, Napalm­bomben) auch grau­samen Men­schen­ver­lusten. Aber eben­falls gegen vieles andere mehr. Heute hat Vietnam mit fast 100 Mil­lionen Men­schen mehr Ein­wohner als jedes euro­päische Land (bis auf den euro­päi­schen Teil Russ­lands), also mehr auch als Deutschland, die Türkei, Groß­bri­tannien, Frank­reich, Italien oder Spanien.

Wenn Vietnam weiter dem markt­wirt­schaft­lichen Weg folgt …

Aus den von Zitelmann in Vietnam ver­an­lassten Befra­gungen zieht Zitelmann unter anderem diesen Schluss:

Obwohl Vietnam sich sozia­lis­tisch nennt, ori­en­tieren sich die Men­schen – vor allem die jungen – eher an den kapi­ta­lis­ti­schen Ländern wie Japan oder den USA. Sie haben erfahren, dass Kapi­ta­lismus nicht – wie viele Men­schen im Westen glauben – für Armut ver­ant­wortlich ist, sondern ganz im Gegenteil, dass nur Kapi­ta­lismus hilft, der Armut zu ent­rinnen. Wenn Vietnam weiter dem markt­wirt­schaft­lichen Weg folgt und die Reformen, die noch aus­stehen, wirklich durch­führt, hat es die Chance, eine der füh­renden Wirt­schafts­na­tionen der Welt zu werden. Sollte Vietnam jedoch – so wie China in den letzten Jahren – ver­gessen, was die Gründe für die enorme Ver­bes­serung des Lebens­stan­dards sind und wieder mehr auf den Staat setzen, dann hieße dies, eine riesige Chance zu verspielen.

Im Unter­grund markt­wirt­schaft­liche Struk­turen schon in sozia­lis­ti­scher Zeit

In einem vierten und Abschluss­ka­pitel befasst sich Zitelmann resü­mierend mit dem Thema „Wohl­stand und Armut von Nationen“. Ein Fazit darin lautet:

50 Jahre Ent­wick­lungs­hilfe und über 100 Jahre Erfah­rungen mit sozia­lis­ti­schen Expe­ri­menten haben gezeigt, dass Armut nicht durch Umver­teilung über­wunden wird. … Trotz schreck­licher Zer­stö­rungen durch Krieg und Sozia­lismus haben es diese Länder geschafft, mehrere Jahr­zehnte lang den Lebens­standard der Men­schen Jahr für Jahr zu ver­bessern Das Rezept war in beiden Fällen ähnlich: kapi­ta­lis­tische Reformen. Aber solche Reformen können nicht einfach von oben ver­ordnet werden. In Polen und Vietnam hatten sich schon in der sozia­lis­ti­schen Zeit im Unter­grund markt­wirt­schaft­liche Struk­turen herausgebildet.

Das zeigt: Der Markt ist nicht tot­zu­kriegen. Wo er als frei ver­boten ist, bricht er sich im Unter­grund Bahn als „schwarzer“ Markt.

Eine Erkenntnis aus den Bei­spielen Polen und Vietnam for­mu­liert Zitelmann so:

Das Beste, was die poli­tische Führung tun kann, ist, sich den spon­tanen Ent­wick­lungen nicht ent­ge­gen­zu­stemmen, sondern einen legalen Rahmen dafür zu schaffen, der Rechts­si­cherheit bringt.

Am Ende ein Appell: Stu­diert die Geschichte von Polen und Vietnam

Sein Buch ist lehr­reich. Es ver­mittelt auf ver­ständ­liche, leicht lesbare Weise wichtige öko­no­mische Zusam­men­hänge und bietet über beide Länder viel an Infor­ma­tionen, die für die wohl meisten Leser vorher unbe­kannt gewesen sind. Zitelmann beendet sein Buch mit einem Appell.

Er hoffe, dass sich die Men­schen in vielen heute armen Ländern an Polen und Vietnam ein Bei­spiel nehmen.

Ich möchte ihnen zurufen: Hört auf, euch mit der Ver­gan­genheit zu befassen und nach Schul­digen im Westen zu suchen, hört auf, zu glauben, der Westen könne euch mit ‚Ent­wick­lungs­hilfe‘ aus der Armut befreien. Stu­diert die Geschichte von Polen und Vietnam, denn sie enthält den Schlüssel, zu ver­stehen, wie Nationen der Armut entkommen!

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Über Klaus Peter Krause: Jahrgang 1936. Abitur 1957 in Lübeck. 1959 bis 1961 Kauf­män­nische Lehre. Dann Studium der Wirt­schafts­wis­sen­schaften in Kiel und Marburg. Seit 1966  pro­mo­vierter Diplom-Volkswirt. Von 1966 bis Ende 2001 Redakteur der Frank­furter All­ge­meinen Zeitung, davon knapp elf Jahre (1991 bis Ende 2001) ver­ant­wortlich für die FAZ-Wirt­schafts­be­richt­erstattung. Daneben von 1994 bis Ende 2003 auch Geschäfts­führer der Fazit-Stiftung gewesen, der die Mehrheit an der Frank­furter All­ge­meine Zeitung GmbH und der Frank­furter Societäts-Dru­ckerei gehört. Jetzt selb­stän­diger Jour­nalist und Publizist. Seine website ist www.kpkrause.de


Quelle: misesde.org