Wieso ein “ethisch begrün­deter” Anti-Kapi­ta­lismus zum Nie­dergang und zur Auf­lösung der Gesell­schaft führt

Hundert Jahre „Die Gemein­wirt­schaft“ von Ludwig von Mises — Teil 11
Dies ist der elfte Teil der Arti­kel­reihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemein­wirt­schaft. Unter­su­chungen über den Sozia­lismus“. In diesem und dem nach­fol­genden Artikel folgen wir der zweiten umge­ar­bei­teten Auflage von 1932.
(von Antony P. Mueller)Sozia­lismus ist nicht deshalb unmöglich, weil der Men­schen mora­lisch noch zu niedrig stünde, sondern deshalb, weil die Auf­gaben, die eine sozia­lis­tische Wirt­schaft an die Ver­nunft stellen würde, nicht mit mensch­licher Ver­nunft gelöst werden können.

Eudä­mo­nismus

Sozi­al­phi­lo­so­phisch stellt sich die Wahl zwi­schen einer auf dem Son­der­ei­gentum an den Pro­duk­ti­ons­mitteln beru­henden Gesell­schafts­ordnung einer­seits und einem Gesell­schafts­system, das auf dem Gemein­ei­gentum an Pro­duk­ti­ons­mitteln beruht. Aus Sicht der eudä­mo­nis­ti­schen Ethik kommt es auf die Leis­tungs­fä­higkeit der beiden denk­baren gesell­schaft­lichen Grund­formen an. Der Begriff Eudä­mo­nismus, den Mises für seinen Stand­punkt gebrauch, kommt aus dem Grie­chi­schen von εὐδαιμονία (eudai­monía). Es bezeichnet den guten (eu) Geist (daimon), der mit dem Streben nach Glück­se­ligkeit ver­bunden ist. Für die antiken Denker galt es als aus­ge­macht, dass die eudä­mo­nis­tische Ethik, und damit eine auf Glück­se­ligkeit aus­ge­richtete Lebens­führung, das Ziel aller recht­den­kenden Men­schen sei. Diese Annahme gilt als das „Eudä­mo­nis­tische Axiom“.

Nach Mises sind Reli­gionen untauglich, um darauf eine brauchbare Gesell­schafts­theorie auf­zu­bauen. Diese ist nur auf eudä­mo­nis­ti­scher Grundlage unter dem Gesichts­punkt des Uti­li­ta­rismus auf­baubar. Eben der Umstand, dass Jesus kein Sozi­al­re­former war, hat den Erfolg des Chris­tentums begründet. Die ursprüng­liche christ­liche Lehre ist frei von jeder für das irdische Leben anwend­baren Ethik. Die Grund­bot­schaft des Chris­tentums ist, sich auf die Zeit der Wie­der­kunft des Herrn vor­zu­be­reiten.  (S. 385)

Weder die Urkirche noch die mit­tel­al­ter­liche Kirche taugen zur Begründung des christ­lichen Sozia­lismus. Dieser ent­stand erst durch die Glau­bens­kämpfe des sech­zehnten Jahr­hun­derts. Der wirt­schafts­po­li­tische Libe­ra­lismus ist zusammen mit der Auf­klärung und dem Ratio­na­lismus ent­standen und wuchs in der Geg­ner­schaft zur eta­blierten Kirche. Als solcher hat der Libe­ra­lismus die Mächte gestürzt, mit denen die Kirche über viele Jahr­hun­derte in einem Bündnis gelebt hat. (S. 393)

In der Geschichte bis heute hat das Chris­tentum mit gleichem Unrecht beiden Gruppen gedient: denen, die die herr­schende Gesell­schafts­ordnung stützen wollten, und denen, die sie stürzen wollen. Es gibt Christen, die für und solche die gegen den Sozia­lismus kämpfen. Es ist ein ver­geb­liches Streben, die Ein­richtung des Son­der­ei­gentums an Pro­duk­ti­ons­mitteln auf die Lehren Christi zu stützen – oder umgekehrt.

Es wäre somit eine falsche Erwartung, vom christ­lichen Glauben eine Wehr gegen die Ver­breitung eigen­tums­feind­licher Lehren zu erhoffen. Das Evan­gelium ist nicht sozia­lis­tisch, nicht kom­mu­nis­tisch, es enthält aller­dings Res­sen­ti­ments gegen das Besitztum. Die christ­liche Heils­bot­schaft bietet kein aus­rei­chendes Fun­dament, um darauf eine Sozi­al­lehre auf­zu­bauen, die das gesell­schaft­liche Zusam­men­wirken der Men­schen bejahen würde. (S. 390)

Mises betont, dass die Gesell­schaft kein Natur­er­eignis oder gott­ge­geben ist, sondern ein Erzeugnis des Willens und der Tat. Gesell­schaft wird dadurch möglich, dass jedermann, indem er seine eigenen Anliegen ver­folgt, zugleich die Inter­essen der anderen fördert. In der Gesell­schaft ist jeder Ein­zelne Mittel und Zweck zugleich. Das Wohl­be­finden des Ein­zelnen ist die Bedingung für das Wohl­ergehen der anderen. So hebt sich in der Gesell­schaft der Gegensatz zwi­schen Ich und Du auf. Für den Men­schen in der Gesell­schaft ist der Gegensatz von Mittel und Zweck über­wunden. Die Gesell­schaft selbst ver­folgt kein Ziel. Ziele haben die ein­zelnen Men­schen. Höchster und letzter Zweck des Indi­vi­duums ist die best­mög­liche Befrie­digung seiner Wünsche.

Mises betont, dass die Gesell­schaft kein Natur­er­eignis oder gott­ge­geben ist, sondern ein Erzeugnis des Willens und der Tat.

Uti­li­ta­ris­tische Sozi­all­lehre vs. ethi­scher Anti-Kapitalismus

Unter der Miss­achtung der uti­li­ta­ris­tisch-eudä­mo­nis­ti­schen Gesell­schafts­be­gründung leidet auch die ratio­na­lis­tische phi­lo­so­phische Ethik, wie sie ursprünglich von Immanuel Kant (1724–1804) ent­wi­ckelt wurde. In der all­ge­meinen Form lautet das Kant’sche Prinzip

Handle nur nach der­je­nigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein all­ge­meines Gesetz werde.

Immanuel Kant: „Grund­legung zur Meta­physik der Sitten“, Aka­de­mie­ausgabe, (S. 421)

Dem­ge­genüber ziehen die Apo­lo­geten des ethi­schen Sozia­lismus die andere Variante von Kants Grund­legung der Ethik heran, die da heißt:

Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brau­chest. (Kant, ebd. S. 429 f)

Auf dieser Grundlage wird die ethische Behauptung auf­ge­stellt, dass in der auf dem Son­der­ei­gentum an den Pro­duk­ti­ons­mitteln beru­henden Wirt­schafts­ordnung alle Men­schen oder ein Teil der Men­schen als Mittel und nicht als Zweck ange­sehen würden. Da der Mensch dem Kant’schen ethi­schen Impe­rativ gemäß nicht zum Mittel gemacht werden darf, weist der „ethische Sozia­lismus“ den Kapi­ta­lismus zurück.

Der Irrtum in dieser Auf­fassung besteht darin, dass in jeder Gesell­schaft der Mensch jederzeit sowohl Zweck als auch Mittel ist. Jeder ein­zelne Mensch sieht zunächst in allen anderen ein Mittel, seine Ziele zu ver­wirk­lichen. Aber dieses Ziel erreicht der Ein­zelne nur dann, wenn er sich selbst allen anderen als Mittel zur Ver­wirk­li­chung ihrer Zwecke erweist. Durch diese Wech­sel­wirkung, in der jeder Mensch Zweck und Mittel zugleich ist, wird das höchste Ziel des gesell­schaft­lichen Zusam­men­lebens als die Ermög­li­chung eines bes­seren Daseins für jeden erreicht.

Da Gesell­schaft nur möglich ist, indem jedermann, sein eigenes Leben lebend, zugleich das der anderen fördert, indem jeder Ein­zelne Mittel und Zweck zugleich ist, indem jedes Ein­zelnen Wohl­be­finden zugleich die Bedingung für das Wohl­ergehen der anderen ist, wird der Gegensatz von Ich und Du, von Mittel und Zweck, in ihr über­wunden. (S. 401)

Ega­li­ta­rismus

Wer für mög­lichst gleiche Ein­kommen ein­tritt, muss sich darüber klar sein, dass dieses Ziel nur unter Ver­zicht der Errei­chung anderer Ziele erreicht werden kann. Die Befür­worter der Ein­kommens- und Ver­mö­gens­gleichheit beachten nicht, dass mit der Ver­wirk­li­chung ihrer For­derung nach Gleichheit die Ver­mögens- und Ein­kom­mens­summe nicht unver­ändert bleibt. Die Auf­hebung des Son­der­ei­gentums an Pro­duk­ti­ons­mitteln geht not­wen­di­ger­weise mit einem starken Rückgang des Volks­ein­kommens einher. Richtig gestellt lautet die Frage somit, ob man für gleiche Ein­kom­mens­ver­teilung auch bei einem nied­ri­geren Wohl­stand für die Masse der Men­schen ist oder für die Ungleichheit der Ein­kommen und Ver­mögen bei einem höheren Wohl­stands­niveau. (S. 405)

Es ist nicht so, dass die einen arm sind, weil die anderen reich sind. Wollte man die kapi­ta­lis­tische Gesell­schafts­ordnung durch eine andere ersetzen, in der es keinen Unter­schied der Ein­kom­mens­größe gibt, dann würde man alle ärmer machen. So paradox es dem Laien klingen mag, auch die Armen haben das, was ihnen zufließt, nur weil es Reiche gibt. (S 406)

Im Unter­schied zu allen vor­he­rigen Gesell­schaften hat die moderne kapi­ta­lis­tische Gesell­schaft den Vorzug, dass der Ein­zelne die Chance hat, durch Arbeit und Unter­neh­mungen wohl­habend und sogar reich zu werden. Früher war Reichtum und Armut weit­gehend durch Geburt bestimmt. Dies ist in der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft anders. Im wett­be­werb­lichen Kapi­ta­lismus kann der Reiche leichter arm werden und der Arme leichter reich. In der Wirt­schafts­ordnung des Kapi­ta­lismus gibt es keine beschau­lichen Ruhe­posten. (S. 407)

Bei den Ver­tretern des Gleich­heits­ideals ver­bindet sich man­gelndes Ver­ständnis der Bedin­gungen des gesell­schaft­lichen Zusam­men­schlusses der Men­schen mit dem Res­sen­timent der Schlecht­weg­ge­kom­menen. Der ethische Sozia­lismus zeigt sich als unfähig, die Pro­bleme des Gesell­schafts­lebens zu begreifen. Er gibt auf­grund dieser Ahnungs­lo­sigkeit seinen Anhängern eine falsche Sicherheit und bur­schikose Unbe­küm­mertheit. Die Anhänger des ethi­schen Sozia­lismus glauben, dass sie die sozialen Fragen spielend lösen könnten, gäbe es nur mehr Gleichheit, wobei ihnen ihr Res­sen­timent die Kraft der Ent­rüstung ver­leiht und sie auf den Widerhall bei Gleich­ge­sinnten setzen können.

Wo die ver­nünftige Erwägung aus­setzt, wird die Bahn für die Romantik frei. Das Anti­so­ziale im Men­schen siegt über den Geist. (S. 409)

Den gesell­schafts­po­li­ti­schen Roman­tikern fehlt die Ein­sicht in das Wesen des Geschäft­lichen, wie es im Kapi­ta­lismus herrscht. Sie spotten über die Bürger und ver­achten seine soge­nannte „Krä­mer­moral“. Während die Roman­tiker des Gesell­schafts­lebens blind gegenüber den Leis­tungen der bür­ger­lichen Kultur sind, richten sie ihr Augenmerk außer­or­dentlich scharf auf alle Gebrechen des Lebens, die sie naiv auf die Man­gel­haf­tigkeit der gesell­schaft­lichen Ein­rich­tungen, den Kapi­ta­lismus, zurück­führen. (S. 410)

Die Anhänger des ethi­schen Sozia­lismus glauben, dass sie die sozialen Fragen spielend lösen könnten, gäbe es nur mehr Gleichheit, wobei ihnen ihr Res­sen­timent die Kraft der Ent­rüstung verleiht …

Die sozi­al­po­li­ti­schen Roman­tiker haben stets nur die­je­nigen im Blick, denen es nicht gut geht. Sie sind blind für die Groß­ar­tigkeit der kapi­ta­lis­ti­schen Kultur, die einen Wohl­stand geschaffen und ver­breitet hat, an dem gemessen die Lebens­führung aller Königshöfe der Vorzeit ärmlich erscheint. Die Gleich­heits­apostel klagen den Kapi­ta­lismus an, weil er nicht alle Men­schen schon jetzt wohl­habend gemacht hat.

Die poli­ti­schen Gleichheitsromantiker

haben immer nur den Schmutz und das Elend erblickt, die der kapi­ta­lis­ti­schen Kultur noch als Erbe der Vorzeit anhaf­teten, nie die Werte, die sie selbst geschaffen hatte. (S. 410)

Ohne Son­der­ei­gentum an den Pro­duk­ti­ons­mitteln gibt es auf die Dauer keine andere Pro­duktion als die von der Hand in den Mund für den eigenen Bedarf zu wirt­schaften. Sozia­lismus würde heißen, dass die Fabriken, Berg­werke und die Bahnen still­stehen und die Städte veröden.

Die Unver­wirk­lich­barkeit des Sozia­lismus ist nicht in der sitt­lichen, sondern in der intel­lek­tu­ellen Sphäre begründet. Weil eine sozia­lis­tische Gesell­schaft nicht rechnen könnte, kann es keine Gemein­wirt­schaft geben. Auch Engel könnten, wenn sie nur mit mensch­licher Ver­nunft begabt waren, kein sozia­lis­ti­sches Gemein­wesen bilden. (S. 420)

Ob sich die Gesell­schaft in Richtung auf fort­schrei­tende Arbeits­teilung ent­wi­ckelt oder wieder ver­fällt, haben die Men­schen selbst in der Hand. Der all­ge­meine Wohl­stand hängt davon ab, dass das Son­der­ei­gentum an Pro­duk­ti­ons­mitteln gewahrt bleibt.

Wer das Leben dem Tode, die Glück­se­ligkeit dem Leid, den Wohl­stand der Not vor­zieht, wird die Gesell­schaft bejahen müssen. Und wer die Gesell­schaft und ihre Fort­bildung will, muss auch, ohne Ein­schrän­kungen und Vor­be­halte, das Son­der­ei­gentum an den Pro­duk­ti­ons­mitteln wollen. (S. 479)

In der kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­ordnung ver­zichten die Eigner der Pro­duk­ti­ons­mittel und die pri­vaten Sparer den gegen­wär­tigen Konsum, um in Zukunft ein höheres Kon­sum­niveau zu erreichen.  Somit beruht in der kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft die Erhaltung des Kapitals und seine Akku­mu­lation auf einer Ungleichheit der Ein­kommens- und Ver­mö­gens­ver­teilung und darin liegt ihre uti­li­ta­ris­tisch-eudä­mo­nis­tische Rechtfertigung.

Ob sich die Gesell­schaft in Richtung auf fort­schrei­tende Arbeits­teilung ent­wi­ckelt oder wieder ver­fällt, haben die Men­schen selbst in der Hand.

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Dies war der elfte Teil der Arti­kel­reihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemein­wirt­schaft. Unter­su­chungen über den Sozia­lismus“. Den zehnten Teil finden Sie hier.


Quelle: misesde.org