Eudämonismus
Sozialphilosophisch stellt sich die Wahl zwischen einer auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnung einerseits und einem Gesellschaftssystem, das auf dem Gemeineigentum an Produktionsmitteln beruht. Aus Sicht der eudämonistischen Ethik kommt es auf die Leistungsfähigkeit der beiden denkbaren gesellschaftlichen Grundformen an. Der Begriff Eudämonismus, den Mises für seinen Standpunkt gebrauch, kommt aus dem Griechischen von εὐδαιμονία (eudaimonía). Es bezeichnet den guten (eu) Geist (daimon), der mit dem Streben nach Glückseligkeit verbunden ist. Für die antiken Denker galt es als ausgemacht, dass die eudämonistische Ethik, und damit eine auf Glückseligkeit ausgerichtete Lebensführung, das Ziel aller rechtdenkenden Menschen sei. Diese Annahme gilt als das „Eudämonistische Axiom“.
Nach Mises sind Religionen untauglich, um darauf eine brauchbare Gesellschaftstheorie aufzubauen. Diese ist nur auf eudämonistischer Grundlage unter dem Gesichtspunkt des Utilitarismus aufbaubar. Eben der Umstand, dass Jesus kein Sozialreformer war, hat den Erfolg des Christentums begründet. Die ursprüngliche christliche Lehre ist frei von jeder für das irdische Leben anwendbaren Ethik. Die Grundbotschaft des Christentums ist, sich auf die Zeit der Wiederkunft des Herrn vorzubereiten. (S. 385)
Weder die Urkirche noch die mittelalterliche Kirche taugen zur Begründung des christlichen Sozialismus. Dieser entstand erst durch die Glaubenskämpfe des sechzehnten Jahrhunderts. Der wirtschaftspolitische Liberalismus ist zusammen mit der Aufklärung und dem Rationalismus entstanden und wuchs in der Gegnerschaft zur etablierten Kirche. Als solcher hat der Liberalismus die Mächte gestürzt, mit denen die Kirche über viele Jahrhunderte in einem Bündnis gelebt hat. (S. 393)
In der Geschichte bis heute hat das Christentum mit gleichem Unrecht beiden Gruppen gedient: denen, die die herrschende Gesellschaftsordnung stützen wollten, und denen, die sie stürzen wollen. Es gibt Christen, die für und solche die gegen den Sozialismus kämpfen. Es ist ein vergebliches Streben, die Einrichtung des Sondereigentums an Produktionsmitteln auf die Lehren Christi zu stützen – oder umgekehrt.
Es wäre somit eine falsche Erwartung, vom christlichen Glauben eine Wehr gegen die Verbreitung eigentumsfeindlicher Lehren zu erhoffen. Das Evangelium ist nicht sozialistisch, nicht kommunistisch, es enthält allerdings Ressentiments gegen das Besitztum. Die christliche Heilsbotschaft bietet kein ausreichendes Fundament, um darauf eine Soziallehre aufzubauen, die das gesellschaftliche Zusammenwirken der Menschen bejahen würde. (S. 390)
Mises betont, dass die Gesellschaft kein Naturereignis oder gottgegeben ist, sondern ein Erzeugnis des Willens und der Tat. Gesellschaft wird dadurch möglich, dass jedermann, indem er seine eigenen Anliegen verfolgt, zugleich die Interessen der anderen fördert. In der Gesellschaft ist jeder Einzelne Mittel und Zweck zugleich. Das Wohlbefinden des Einzelnen ist die Bedingung für das Wohlergehen der anderen. So hebt sich in der Gesellschaft der Gegensatz zwischen Ich und Du auf. Für den Menschen in der Gesellschaft ist der Gegensatz von Mittel und Zweck überwunden. Die Gesellschaft selbst verfolgt kein Ziel. Ziele haben die einzelnen Menschen. Höchster und letzter Zweck des Individuums ist die bestmögliche Befriedigung seiner Wünsche.
Mises betont, dass die Gesellschaft kein Naturereignis oder gottgegeben ist, sondern ein Erzeugnis des Willens und der Tat.
Utilitaristische Sozialllehre vs. ethischer Anti-Kapitalismus
Unter der Missachtung der utilitaristisch-eudämonistischen Gesellschaftsbegründung leidet auch die rationalistische philosophische Ethik, wie sie ursprünglich von Immanuel Kant (1724–1804) entwickelt wurde. In der allgemeinen Form lautet das Kant’sche Prinzip
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
Immanuel Kant: „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, Akademieausgabe, (S. 421)
Demgegenüber ziehen die Apologeten des ethischen Sozialismus die andere Variante von Kants Grundlegung der Ethik heran, die da heißt:
Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. (Kant, ebd. S. 429 f)
Auf dieser Grundlage wird die ethische Behauptung aufgestellt, dass in der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Wirtschaftsordnung alle Menschen oder ein Teil der Menschen als Mittel und nicht als Zweck angesehen würden. Da der Mensch dem Kant’schen ethischen Imperativ gemäß nicht zum Mittel gemacht werden darf, weist der „ethische Sozialismus“ den Kapitalismus zurück.
Der Irrtum in dieser Auffassung besteht darin, dass in jeder Gesellschaft der Mensch jederzeit sowohl Zweck als auch Mittel ist. Jeder einzelne Mensch sieht zunächst in allen anderen ein Mittel, seine Ziele zu verwirklichen. Aber dieses Ziel erreicht der Einzelne nur dann, wenn er sich selbst allen anderen als Mittel zur Verwirklichung ihrer Zwecke erweist. Durch diese Wechselwirkung, in der jeder Mensch Zweck und Mittel zugleich ist, wird das höchste Ziel des gesellschaftlichen Zusammenlebens als die Ermöglichung eines besseren Daseins für jeden erreicht.
Da Gesellschaft nur möglich ist, indem jedermann, sein eigenes Leben lebend, zugleich das der anderen fördert, indem jeder Einzelne Mittel und Zweck zugleich ist, indem jedes Einzelnen Wohlbefinden zugleich die Bedingung für das Wohlergehen der anderen ist, wird der Gegensatz von Ich und Du, von Mittel und Zweck, in ihr überwunden. (S. 401)
Egalitarismus
Wer für möglichst gleiche Einkommen eintritt, muss sich darüber klar sein, dass dieses Ziel nur unter Verzicht der Erreichung anderer Ziele erreicht werden kann. Die Befürworter der Einkommens- und Vermögensgleichheit beachten nicht, dass mit der Verwirklichung ihrer Forderung nach Gleichheit die Vermögens- und Einkommenssumme nicht unverändert bleibt. Die Aufhebung des Sondereigentums an Produktionsmitteln geht notwendigerweise mit einem starken Rückgang des Volkseinkommens einher. Richtig gestellt lautet die Frage somit, ob man für gleiche Einkommensverteilung auch bei einem niedrigeren Wohlstand für die Masse der Menschen ist oder für die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen bei einem höheren Wohlstandsniveau. (S. 405)
Es ist nicht so, dass die einen arm sind, weil die anderen reich sind. Wollte man die kapitalistische Gesellschaftsordnung durch eine andere ersetzen, in der es keinen Unterschied der Einkommensgröße gibt, dann würde man alle ärmer machen. So paradox es dem Laien klingen mag, auch die Armen haben das, was ihnen zufließt, nur weil es Reiche gibt. (S 406)
Im Unterschied zu allen vorherigen Gesellschaften hat die moderne kapitalistische Gesellschaft den Vorzug, dass der Einzelne die Chance hat, durch Arbeit und Unternehmungen wohlhabend und sogar reich zu werden. Früher war Reichtum und Armut weitgehend durch Geburt bestimmt. Dies ist in der kapitalistischen Gesellschaft anders. Im wettbewerblichen Kapitalismus kann der Reiche leichter arm werden und der Arme leichter reich. In der Wirtschaftsordnung des Kapitalismus gibt es keine beschaulichen Ruheposten. (S. 407)
Bei den Vertretern des Gleichheitsideals verbindet sich mangelndes Verständnis der Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenschlusses der Menschen mit dem Ressentiment der Schlechtweggekommenen. Der ethische Sozialismus zeigt sich als unfähig, die Probleme des Gesellschaftslebens zu begreifen. Er gibt aufgrund dieser Ahnungslosigkeit seinen Anhängern eine falsche Sicherheit und burschikose Unbekümmertheit. Die Anhänger des ethischen Sozialismus glauben, dass sie die sozialen Fragen spielend lösen könnten, gäbe es nur mehr Gleichheit, wobei ihnen ihr Ressentiment die Kraft der Entrüstung verleiht und sie auf den Widerhall bei Gleichgesinnten setzen können.
Wo die vernünftige Erwägung aussetzt, wird die Bahn für die Romantik frei. Das Antisoziale im Menschen siegt über den Geist. (S. 409)
Den gesellschaftspolitischen Romantikern fehlt die Einsicht in das Wesen des Geschäftlichen, wie es im Kapitalismus herrscht. Sie spotten über die Bürger und verachten seine sogenannte „Krämermoral“. Während die Romantiker des Gesellschaftslebens blind gegenüber den Leistungen der bürgerlichen Kultur sind, richten sie ihr Augenmerk außerordentlich scharf auf alle Gebrechen des Lebens, die sie naiv auf die Mangelhaftigkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen, den Kapitalismus, zurückführen. (S. 410)
Die Anhänger des ethischen Sozialismus glauben, dass sie die sozialen Fragen spielend lösen könnten, gäbe es nur mehr Gleichheit, wobei ihnen ihr Ressentiment die Kraft der Entrüstung verleiht …
Die sozialpolitischen Romantiker haben stets nur diejenigen im Blick, denen es nicht gut geht. Sie sind blind für die Großartigkeit der kapitalistischen Kultur, die einen Wohlstand geschaffen und verbreitet hat, an dem gemessen die Lebensführung aller Königshöfe der Vorzeit ärmlich erscheint. Die Gleichheitsapostel klagen den Kapitalismus an, weil er nicht alle Menschen schon jetzt wohlhabend gemacht hat.
Die politischen Gleichheitsromantiker
haben immer nur den Schmutz und das Elend erblickt, die der kapitalistischen Kultur noch als Erbe der Vorzeit anhafteten, nie die Werte, die sie selbst geschaffen hatte. (S. 410)
Ohne Sondereigentum an den Produktionsmitteln gibt es auf die Dauer keine andere Produktion als die von der Hand in den Mund für den eigenen Bedarf zu wirtschaften. Sozialismus würde heißen, dass die Fabriken, Bergwerke und die Bahnen stillstehen und die Städte veröden.
Die Unverwirklichbarkeit des Sozialismus ist nicht in der sittlichen, sondern in der intellektuellen Sphäre begründet. Weil eine sozialistische Gesellschaft nicht rechnen könnte, kann es keine Gemeinwirtschaft geben. Auch Engel könnten, wenn sie nur mit menschlicher Vernunft begabt waren, kein sozialistisches Gemeinwesen bilden. (S. 420)
Ob sich die Gesellschaft in Richtung auf fortschreitende Arbeitsteilung entwickelt oder wieder verfällt, haben die Menschen selbst in der Hand. Der allgemeine Wohlstand hängt davon ab, dass das Sondereigentum an Produktionsmitteln gewahrt bleibt.
Wer das Leben dem Tode, die Glückseligkeit dem Leid, den Wohlstand der Not vorzieht, wird die Gesellschaft bejahen müssen. Und wer die Gesellschaft und ihre Fortbildung will, muss auch, ohne Einschränkungen und Vorbehalte, das Sondereigentum an den Produktionsmitteln wollen. (S. 479)
In der kapitalistischen Wirtschaftsordnung verzichten die Eigner der Produktionsmittel und die privaten Sparer den gegenwärtigen Konsum, um in Zukunft ein höheres Konsumniveau zu erreichen. Somit beruht in der kapitalistischen Gesellschaft die Erhaltung des Kapitals und seine Akkumulation auf einer Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung und darin liegt ihre utilitaristisch-eudämonistische Rechtfertigung.
Ob sich die Gesellschaft in Richtung auf fortschreitende Arbeitsteilung entwickelt oder wieder verfällt, haben die Menschen selbst in der Hand.
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Dies war der elfte Teil der Artikelreihe zu Ludwig von Mises‘ Buch „Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus“. Den zehnten Teil finden Sie hier.
Quelle: misesde.org
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