Eine Reise zu den Riesen

“Burg Niedeck ist im Elsaß der Sage wohlbekannt,
Die Höhe, wo vor­zeiten die Burg der Riesen stand;
Sie selbst ist nun ver­fallen, die Stätte wüst und leer;
Du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.”

(Adelbert von Cha­misso, Das Riesenspielzeug)

Ich muss acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als ich das Rie­sen­spielzeug zum ersten Mal ent­deckte; in einer illus­trierten, ziemlich zer­fled­derten Ausgabe, die allerlei deutsche Bal­laden zum Inhalt hatte und die auf “west­liche” Umwege in die DDR (genauer gesagt in das an der Elbe gelegene und ganz und gar nicht riesige, sondern vielmehr klein­bür­ger­liche Torgau) ein­ge­reist war. Bis heute ist die Ballade von Adelbert von Cha­misso (1781–1838) aus dem Jahr 1831 einer der wenigen Texte, die ich aus dem Steh­greif zitieren kann, sobald ich das Wort “Riese” höre.

Riese, das weckt nicht nur die Asso­ziation eines Wesens, das sehr viel größer ist als man selbst, sondern auf gewisse Weise auch uner­reichbar, mit großer Kraft aus­ge­stattet, über der Welt stehend und diese auch aus einem ganz anderen Blick­winkel wahr­nehmend. Etwas, das rie­senhaft ist, wirkt unüber­windlich und lässt alles andere im Ver­gleich dazu klein und unbe­deutend erscheinen. Riesen sind auch selten freundlich (geschweige denn men­schen­freundlich), sieht man einmal vom “Big Fri­endly Giant” (Disney, 2016) ab. Zudem werden die gigan­ti­schen Mythen- bzw. Fan­tasie-Zwei­beiner öfter als dümmlich cha­rak­te­ri­siert. Man denke da an den armen Grawp oder Grawpy aus Harry Potter, den Bruder des halb­rie­sigen Rubeus Hagrid, der Hermine mit einer Fahr­rad­klingel zu beein­drucken sucht.

Im Grimm­schen Märchen Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen kegelt der Prot­agonist gar mit den Köpfen von Riesen um die Wette.

Da mich der Zufall in den letzten Wochen zur nor­di­schen Mytho­logie führte und ich der Ent­stehung von Magie und Runen, dem Wel­tenbaum Ygg­drasil, den Nornen sowie dem “Schicksal der Götter” (Rag­narök) gefolgt bin, kam ich nicht umhin, auch den Riesen einen näheren Blick zu widmen. Und obwohl ich mir nicht anmaße, ihnen eine Ehren­rettung zukommen lassen zu wollen, so mag doch die eine oder andere Aus­führung erklären, warum sie im Umgang mit den “Kleinen” so ihre Pro­bleme haben.

Geschichten über Riesen bzw. rie­sen­hafte Wesen (man denke da bei­spiels­weise an die Riesen- und Schöp­fer­schlange Eingana aus der aus­tra­li­schen Traumzeit oder den Rie­sen­vogel Garuda aus der indi­schen Mytho­logie) sind weltweit in fast allen Kul­turen zu finden. In der Urge­schichte der Israe­liten etwa ist von rie­sen­haften Völkern in Kanaan die Rede (siehe u. a. Genesis 6, 4 sowie 4. und 5. Buch Mose). Die Aloiden (Otos und Ephi­altes), ein Brü­derpaar der grie­chi­schen Mytho­logie und Söhne des Mee­res­gottes Poseidon, wuchsen zu Riesen heran. Und natürlich ist da noch die Goliat(h)-Geschichte aus dem Alten Tes­tament (1. Buch Samuel); darin kämpft ein rie­sen­hafter Krieger vom Stamm der Phi­lister gegen den Hirten David, der den über­großen Gegner schließlich dank eines Hilfs­mittels besiegt:

“Als der Phi­lister [Goliat aus Gat] weiter vor­rückte und immer näher an David her­ankam, lief auch David von der Schlacht­reihe (der Israe­liten) aus schnell dem Phi­lister ent­gegen. Er griff in seine Hir­ten­tasche, nahm einen Stein heraus, schleu­derte ihn ab und traf den Phi­lister an der Stirn. Der Stein drang in die Stirn ein und der Phi­lister fiel mit dem Gesicht zu Boden. So besiegte David den Phi­lister mit einer Schleuder und einem Stein; er traf den Phi­lister und tötete ihn, ohne ein Schwert in der Hand zu haben. Dann lief David hin und trat neben den Phi­lister. Er ergriff sein Schwert, zog es aus der Scheide, schlug ihm den Kopf ab und tötete ihn. Als die Phi­lister sahen, dass ihr starker Mann tot war, flohen sie. ” (1 Sam, 17, 48–51)

Riesen reprä­sen­tieren im Mythos häufig den Typus des Urmen­schen. In der nor­di­schen Mytho­logie ist es Ymir, was soviel wie “Zwilling” oder “Lärmer” bedeutet. Ety­mo­lo­gisch soll das Wort den Alt­nor­disten Folke Ström und Britt-Mari Näss­ström zufolge gar mit dem alt­per­si­schen (aves­ti­schen) “Yima” und dem alt­in­di­schen “Yama” ver­wandt sein. Yima (was eben­falls mit “Zwilling” über­setzt werden kann), ist eine mytho­lo­gische Figur, mit welchem der Gott Ahura Mazda zu allererst die gött­liche Ordnung besprochen haben soll (laut Zara­thustra). Er war auch der erste Herr­scher, unter dem die Men­schen ohne Krankheit und Armut lebten. Yama wie­derum ist ursprünglich eine vedische Gottheit. Er regiert die Unterwelt und ist bekannt als der Gott des Todes und der Zeit. Im Hin­du­ismus gilt er als der erste Sterb­liche, der in den Himmel gelangte und fortan den Men­schen den Weg zu den Göttern weist.

In der nor­di­schen Mytho­logie ist Ymir als das erste Wesen sowohl männ­lichen als auch weib­lichen Geschlechts und aus Eis und Feuer geboren. Es ist über­liefert, dass Ymir tie­rische Gesell­schaft besaß, denn den Mythen nach ernährte er sich von der Milch der Urkuh Aud­h­umbla. Ein recht nahr­haftes Getränk, denn nachdem Ymir ein­ge­schlafen war, wuchsen aus seinem Schweiß ein namen­loser Sohn sowie eine namenlose Tochter. Auch der Riese Thrud­gelmir soll Ymirs Sproß sein wie es im Vafþrúð­nismál der Lieder-Edda heißt:

“Unzählige Jahre bevor die Erde erschaffen wurde,
da wurde Ber­gelmir geborn;
Thrud­gelmir war dessen Vater,
Aur­gelmir [Ymir] der Großvater.”

Wie lange Ymirs Existenz im nor­di­schen Kosmos andauerte, ist unbe­kannt. Besser bekannt ist aber sein Ende. Gemeinsam mit seinen beiden Brüdern Vili und Ve tötete Odin, der dritte im Reigen der ersten Götter, Ymir. Aus den Lei­chen­teilen schufen sie die Welt. Aus dem Fleisch wurde die Erde. Sein Blut wurde das Meer. Bäume aus den Haaren und Gebirge und Felsen aus den Knochen.

Aus dem Gehirn wurden Wolken und der Schädel erhielt als Himmel eine neue Exis­tenz­be­rech­tigung. Bei der Vor­stellung muss ich unwei­gerlich an Mary Shelley denken. Demnach wäre die Welt nichts anderes als die Kreatur eines Tri­viums göttlich-schöp­fe­ri­scher Fran­ken­steine. Dass die nor­di­schen Riesen den Göttern in den Mythen fast aus­schließlich bedrohlich, gewalt­tätig und feind­selig gegen­über­stehen, ist ange­sichts der “Umge­staltung” ihres Ahn­herren nicht gänzlich unverständlich.

Die nor­di­schen Riesen werden im All­ge­meinen als Jötunn (Plural: Jötnar) bezeichnet und leben in Jötunheim, einem Reich, dem nor­di­schen Kosmos zufolge, ent­ge­gen­ge­setzt der Men­schenwelt. Der Name kann vom alt­hoch­deut­schen Verb “ezzan” (essen; altenglich “eotan”) abge­leitet werden. Demnach ist ein Riese auch ein “Gefrä­ßiger”. Eine pas­sende Geschichte dazu findet sich im Gyl­fa­g­inning der Edda des Snorri Stur­luson. Als der Gott des Donners, Thor, und seine Gefährten (dar­unter Loki, der Trickster unter den nor­di­schen Göttern und Sohn eines Riesen) nach Utgard (Útgarðr „Außenwelt“) zogen, mussten sie sich dem Riesen Utgardloki (eine Art “Trickster-Riese”) und dessen Rie­sen­freunden in einer Reihe von Wett­kämpfen stellen.

Eines davon war ein Wett­essen, welches Loki gegen einen Riesen namens Logi durch­führte, wobei er aber nicht mit dem Riesen mit­halten konnte. Thor erging es derweil nicht besser. Ver­geblich ver­suchte er sich darin, Trink­hörner zu leeren, (rie­sen­hafte) Katzen zu stemmen oder gegen die Rie­senamme Elli einen Ring­kampf zu gewinnen. Einen Tag später offen­barte sich indes die Trick­serei und Utgardloki suchte eilends das Weite, bevor Thor ihm mit seinem Hammer den Rie­senleib spalten konnte.

Als äußerst feind­selig gelten in der nor­di­schen Mytho­logie die Thursen, gegen die Thor sehr häufig zu Felde zieht. Zudem exis­tieren Frostriesen (hrí­mþursar), Feu­er­riesen (eld­jötnar) und Berg­riesen (berg­risar). Aber was wäre die mytho­lo­gische Welt, wenn sich nicht auch freundlich gestimmte Zeit­ge­nossen in der Rie­sen­fa­milie finden ließen.

Da wäre bei­spiel­weise der Riese Mimir. Er lebt unter dem Weltbaum Ygg­drasil und hütet eine der dort ent­sprin­genden Quellen, auch als Mimirs Brunnen bezeichnet. Aus­ge­stattet mit Wissen, Weisheit und vor allem der Gabe der Weis­sagung, ist es vor allem Odin, der Mimir eng ver­bunden ist und oft seinen Rat zu erlangen sucht. Und Ägir, der Riese der See, ist auch als Freund und Gastwirt der Götter bekannt, der ihnen Bier bereitet.

In der grie­chi­schen Mytho­logie sind die Riesen vor allem in Gestalt der Titanen, die zudem ein Göt­ter­ge­schlecht waren, und der Giganten anzu­treffen. So trägt der Titan Atlas das Him­mels­ge­wölbe auf Schultern und Rücken und ver­hindert auf diese Weise, dass es auf die Erde stürzt.

 

Atlas, John Singer Sargent (1925).

Zu den Giganten wie­derum zählt man jene von der Göt­ter­mutter Gaia geborene Misch­wesen, die gegen die olym­pi­schen Götter Krieg führten. Weitere rie­sen­hafte Krea­turen sind die ein­äu­gigen Kyklopen. Geradezu berühmt-berüchtigt ist die Episode aus der Odyssee, in der Odysseus den men­schen­fres­senden Kyklopen Polyphem blendet und sich ihm als “Niemand” (grie­chisch “Οὖτις”) offenbart.

Als die Gefährten des Ver­stüm­melten diesem zu Hilfe eilen wollen, erklärt er “Niemand habe ihn geblendet” und “Niemand habe ver­sucht ihn zu ermorden”. Das Motiv des geblen­deten Ogers findet sich übrigens in den folk­lo­ris­ti­schen Erzäh­lungen vom Kel­ti­schen bis zum Litaui­schen und Deut­schen bis zum Rus­si­schen und Fin­ni­schen. Der Sprach- und Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Wilhelm Grimm (1786–1859) trug viele dieser Ver­sionen zusammen, u. a. die Erzählung Der Räuber und seine Söhne, die aller­dings nur in der 5. und 6. Auflage der Kinder- und Haus­märchen sowie der Gesamt­ausgabe über­liefert ist.

Ein alter Räuber will, dass sich seine drei Söhne bessern und nicht sein “Handwerk” nach­ahmen. Doch nachdem diese der Königin das Pferd stehlen wollten, werden sie gefasst. Die Königin gewährt dem Vater die Aus­lösung und will dafür die drei merk­wür­digste Geschichte aus dessen Leben hören. Für den ersten Sohn lautet diese wie folgt:

“Frau Königin, hört meine Rede, ich will euch ein Ereignis erzählen, was mich mehr erschreckt hat als Feuer und Wasser. Ich brachte in Erfahrung daß in einer wilden Wald­schlucht zwi­schen zwei Bergen, zwanzig Meilen von den Men­schen ent­fernt, ein Riese lebte, der einen großen Schatz, viel tausend Mark Silber und Gold besäße. Ich wählte also aus meinen Gesellen so viele aus, daß unser hundert waren, und wir zogen hin. Es war ein langer müh­samer Weg zwi­schen Felsen und Abgründen. Wir fanden den Riesen nicht zu Haus, waren froh darüber, und nahmen von dem Gold und Silber so viel wir tragen konnten. Als wir damit uns auf den Heimweg machen wollten, und ganz sicher zu sein glaubten, da kam der Riese mit zehn andern Riesen unver­sehens daher, und nahm uns alle gefangen. Sie theilten uns unter sich aus: jeder erhielt zehen von uns, und ich fiel mit neun meiner Gesellen dem Riesen zu, dem wir seinen Schatz genommen hatten. Er band uns die Hände auf den Rücken, und trieb uns wie Schafe in seine Fel­sen­höhle. Wir waren bereit uns mit Geld und Gut zu lösen, er aber ant­wortete ‘eure Schätze brauche ich nicht, ich will euch behalten, und euer Fleisch ver­zehren, das ist mir lieber.’ Dann befühlte er uns alle, wählte einen aus, und sprach ‘der ist der fet­teste, mit dem will ich den Anfang machen.’ Dann schlug er ihn nieder, warf das zer­schnittene Fleisch in einen Kessel mit Wasser, den er über das Feuer setzte, und als es gesotten war, hielt er seine Mahlzeit. So aß er jeden Tag einen von uns, und weil ich der magerste war, so sollte ich der letzte sein. Als nun meine neun Gesellen auf­ge­zehrt waren, und die Reihe an mich kam, so besann ich mich auf eine List. ‘Ich sehe wohl daß du böse Augen hast,’ sprach ich zu ihm, ‘und am Gesicht leidest: ich bin ein Arzt und bin in meiner Kunst wohl erfahren, ich will dir deine Augen heilen, wenn du mir mein Leben lassen willst.’ Er sicherte mir mein Leben zu, wenn ich das ver­möchte. Er gab mir alles was ich dazu ver­langte. Ich that Öl in einen Kessel, mengte Schwefel, Pech, Salz, Arsenik und andere ver­derb­liche Dinge hinein, und stellte den Kessel über das Feuer, als wollte ich ein Pflaster für seine Augen bereiten. Sobald das Öl im Sieden war, mußte der Riese sich nie­der­legen, und ich goß ihm alles, was im Kessel war, auf die Augen, über den Hals und den Leib, so daß er das Gesicht völlig verlor, und die Haut am ganzen Leib ver­brannte und zusam­men­schrumpfte. Er fuhr mit ent­setz­lichem Geheul in die Höhe, warf sich wieder zur Erde, wälzte sich hin und her, und schrie und brüllte dabei wie ein Löwe oder ein Ochse. Dann sprang er in Wuth auf, packte eine große Keule, und in dem Haus umher laufend, schlug er auf die Erde und gegen die Wand, und dachte mich zu treffen. Ent­fliehen konnte ich nicht, denn das Haus war überall von hohen Mauern umgeben, und die Thüren waren mit eisernen Riegeln ver­schlossen. Ich sprang aus einem Winkel in den andern, endlich wußte ich mir nicht anders zu helfen, ich stieg auf einer Leiter bis zu dem Dach, und hieng mich mit beiden Händen an den Hah­nen­balken. Da hieng ich einen Tag und eine Nacht, als ich es aber nicht länger aus­halten konnte, so stieg ich wieder herab, und mischte mich unter die Schafe. Da mußte ich behend sein, und immer mit den Thieren zwi­schen seinen Beinen hin­durch­laufen ohne daß er mich gewahr ward. Endlich fand ich in einer Ecke unter den Schafen die Haut eines Widders liegen, ich schlüpfte hinein, und wußte es so zu machen, daß mir die Hörner des Thiers gerade auf dem Kopf standen. Der Riese hatte die Gewohnheit, wenn die Schafe hinaus auf die Weide gehen sollten, so ließ er sie vorher durch seine Beine laufen. Da zählte er sie, und welches am feiß­testen war, das packte er, kochte es, und hielt damit seine Mahlzeit. Ich wäre bei dieser Gele­genheit gerne davon gelaufen, und drängte mich durch seine Beine, wie die Schafe thaten, als er mich aber packte, und merkte daß ich schwer war, so sprach er ‘du bist feißt, du sollst mir heute meinen Bauch füllen.’ Ich that einen Satz, und ent­sprang ihm aus den Händen, aber er ergriff mich wieder. Ich entkam nochmals, aber er packte mich aufs neue, und so gieng es sie­benmal. Da ward er zornig und sprach ‘lauf hin, die Wölfe mögen dich fressen, du hast mich genug genarrt.’ Als ich draußen war, warf ich die Haut ab, rief ihm spöt­tisch zu daß ich ihm doch ent­sprungen wäre, und höhnte ihn. Er zog einen Ring vom Finger und sprach ‘nimm diesen gol­denen Ring als eine Gabe von mir, du hast ihn wohl ver­dient. Es ziemt sich nicht daß ein so lis­tiger und behender Mann unbe­schenkt von mir gehe.’ Ich nahm den Ring, und steckte ihn an meinen Finger, aber ich wußte nicht daß ein Zauber darin lag. Von dem Augen­blick an, wo er mir am Finger saß, mußte ich unauf­hörlich rufen ‘hier bin ich! hier bin ich!’ ich mochte wollen oder nicht. Da der Riese daran merken konnte wo ich mich befand, so lief er mir in den Wald nach. Dabei rannte er, weil er blind war, jeden Augen­blick gegen einen Ast oder einen Stamm, und fiel nieder wie ein mäch­tiger Baum, aber er erhob sich schnell wieder und da er lange Beine hatte, und große Schritte machen konnte, so holte er mich immer wieder ein, und war mir schon ganz nahe, denn ich rief ohne Unterlaß ‘hier bin ich! hier bin ich.’ Ich merkte wohl daß der Ring die Ursache meines Geschreies war, und wollte ihn abziehen, aber ich ver­mochte es nicht. Da blieb mir nichts anderes übrig, ich biß mir mit meinen Zähnen den Finger ab. In dem Augen­blick hörte ich auf zu rufen, und entlief glücklich dem Riesen. Zwar hatte ich meinen Finger ver­loren, aber ich hatte doch mein Leben behalten.” (191, 5. Aufl. 1843, S. 468 ff. )

In der Odyssee sind es nicht nur die Kyklopen, welche eine Rückkehr der Helden erschweren. Auch von den Lai­stry­gonen wird berichtet, einer Mischung aus Riesen und Kan­ni­balen. Und die Argo­nauten treffen während ihrer legen­dären Suche nach dem Gol­denen Vlies gar auf einen Riesen mit sechs Armen, der sich Gegeneis (“der Erd­ge­borene”) nennt und die Aben­teurer mit Fels­brocken bewirft. Von den Heka­toncheiren, den rie­se­haften Söhnen von Gaia und Uranos, wird sogar berichtet, sie hätten bis zu ein­hundert Arme besessen. Über­haupt sind die Riesen der grie­chi­schen Mytho­logie von ihrem Erschei­nungsbild her sehr viel mär­chen­hafter als die nor­di­schen Riesen. So auch Talos, ein bron­zener Riese, der einer Version des Mythos zufolge vom Schmie­degott Hephaistos geschaffen worden sein soll.

Er patroul­lierte dreimal täglich um die Insel Kreta und ver­trieb die sich nähernden Schiffen ähnlich wie Gegeneis mit Fels­brocken. Gelang es doch einem Schiff, anzu­landen, soll sich der Riese auf­ge­heizt haben, bis er rot­golden glühte und die Gegner ver­brannt haben. Aller­dings besaß er, ähnlich wie der tro­ja­nische Held Achilles, eine nicht uner­heb­liche Schwach­stelle an der Ferse. Dort war ein Propf ange­bracht. Zog man diesen heraus, floss alles Blut aus dem Riesen und er musste sterben.

Auch in der grie­chi­schen Mytho­logie sind die Riesen nicht unbe­dingt als die cle­versten Wesen bekannt. Im kos­mo­lo­gi­schen Gefüge nehmen sie dennoch ihren berech­tigten Platz ein, ihre Exis­tenz­be­rech­tigung wird niemals infrage gestellt. Denn sie haben im Erzähl­kanon der Geschichten ihre ureigene Aufgabe zu erfüllen, fordern den Helden heraus, lassen diesen nach Lösungen suchen.

Sie sind niemals nur Feinde oder schlichtweg Hin­der­nisse. Anders verhält es sich mit den Riesen, wie sie im Märchen und der Sagenwelt des Mit­tel­alters vor­kommen. Obwohl immer noch von mythi­scher Gestalt, sind die Riesen hier vor allem grob­schlächtig oder von äußerster Dummheit.

In der Sage Der Riese Bruns von Han­stedt will ein Riese das erste Got­teshaus der Stadt mittels einer Schleuder zer­stören, weil seine Tochter, die heid­ni­schen Glaubens war, Selbstmord beging. Doch das misslang ihm und er und seine Frau wurden hernach zum Chris­tentum bekehrt. Auch in den Märchen werden Riesen meist als plumpe Gestalten dar­ge­stellt, die der Held im Zuge seines Aben­teuers ent­weder aus­trickst, tötet oder über­windet. Im Rie­sen­spielzeug des Adelbert von Cha­misso hin­gegen, sind die Riesen weder Unholde noch Hindernisse.

Vielmehr geht es in der Ballade darum, das Groß und Klein ein­ander zu achten haben, da das Eine ohne das Andere nicht exis­tieren kann. Gerade diesen Unterton (lässt man einmal die natio­na­lis­ti­schen Inter­pre­ta­ti­ons­motive bei­seite, die der Ballade ange­sichts ihrer Ent­ste­hungszeit zwei­fellos anhaften) fand ich stets treffend, vor allem auch in seiner meta­pho­ri­schen Bedeutung. Denn zweifllos haftet der Vor­stel­lungen von den Riesen auch eine Ich-bezogene, psy­cho­lo­gische Dimension an, eigene Grenzen über­winden zu müssen bzw. all­zu­große Pro­bleme zu fürchten oder vor ihnen zurück­zu­schrecken. Manche Dinge beginnen groß. Manche Dinge beginnen klein.

Wie immer ist es wohl die rechte Mischung, die ent­scheidet. Und sind wir im Grunde nicht alle wie Gul­liver auf unseren Reisen zwi­schen Lil­liput und Brob­dingnag? Von daher kann es ab und an sehr lohnend sein, auch einmal seine Scheu zu über­winden und einem Riesen die Hand zu reichen.

Quelle


Quelle: anti-matrix.com