Erster Platz für alle!

Am ersten Mai wird bei uns gewandert. Immerhin zehn Kilo­meter. Entlang der Strecke knipst man mittels an Weg­marken hän­gender Zangen Löcher in ein kleines Kärtchen und hat man alle bei­sammen, ist also ohne Abkürzung ans Ziel gelangt, gibt’s ein gol­denes Stück Blech zum Umhängen. Die Kinder sind meist stolz wie Oskar, wenn sie behängt mit ihren Medaillen über den Platz laufen, wo die Erwach­senen längst zu Bier, Brat­wurst und Mai­bowle über­ge­gangen sind. Wir nehmen beim Laufen nicht die Zeit, auch wenn die sar­kas­ti­schen Sprüche beim Über­holen lang­samer Wan­derer natürlich dazu gehören. Die Scherze sind die ver­blasste Erin­nerung daran, dass es bei solchen Gele­gen­heiten meist darum geht, wer schneller, stärker oder geschickter ist. Wett­kampf nennt man das im Sport, Meri­to­kratie heißt das Konzept und wir sind als Gesell­schaft gut damit gefahren, den Leis­tungs­ge­danken, wenn nicht in allen, so doch in vielen Bereichen nicht ganz aus dem Blick zu ver­lieren. Beim Mai­wandern heißt das: wir laufen nicht sieben, nicht acht, sondern zehn Kilo­meter. Sonst keine Medaille.

Warum ich Ihnen das erzähle, liebe Leser? Weil sich unsere Gesell­schaft anschickt, den Leis­tungs­ge­danken selbst noch in seiner selbst­ver­ständ­lichsten Form aus dem Alltag zu ver­bannen, immer darauf bedacht, „alle mit­zu­nehmen“ und „nie­manden zurück­zu­lassen“, kurz, keine Ver­lierer zuzu­lassen. Gewinner gibt es dann aber auch nicht mehr. Das ist die Kehr­seite der „Equity“-Medaille.

Leis­tungs­druck vermeiden

Vor einigen Tagen erfuhr man, dass es Regel­än­de­rungen bei den nicht wenig gehassten Bun­des­ju­gend­spielen geben werde, um den Schülern die Demü­tigung zu ersparen, sich mit anderen Gleich­alt­rigen im Sport messen zu müssen. Die TAZ titeln in Post-Klas­sen­kampf-Manier „Die Bun­des­ju­gend­piele gehören abgeschafft!“

„Beim Wett­bewerb wird nicht das ein­zelne Ergebnis gemessen, sondern – am Bei­spiel Weit­sprung – in welchem vorher fest gelegten Bereich ein Kind gelandet ist. […] Am Grundsatz ändert sich damit wenig, denn es geht weiter darum her­aus­zu­finden, wie „gut“ ein Kind ist. Daran wäre wenig aus­zu­setzen, wenn das nicht damit ein­her­gehen würde, dass einigen schwarz auf weiß bescheinigt würde, wie „schlecht“ sie sind.“

Das sei „schwarze Päd­agogik“ meint die TAZ und von da ist es nur noch ein Kat­zen­sprung bis zum induk­tiven Schluss, Wett­bewerb sei an sich schon irgendwie ein Bisschen „Nazi“.

„Dabei gewinnen bei den Rand­sport­arten nicht selten die Kinder, die sonst immer als Letztes ins Ziel kommen, weil sie sich lang­samer und bedäch­tiger bewegen und nicht vor lauter Ehrgeiz und Bewe­gungs­drang im Hüpfsack über ihre eigenen Füße stolpern. Nur Letz­teres gilt als „sportlich“. Ob jemand gerne auf einen Baum klettert, im Wasser planscht, sich zu Musik bewegt, alleine oder mit anderen: Das spielt keine Rolle, wir sind hier schließlich im Kapi­ta­lismus. Höher! Schneller! Weiter! Ganz schlaue Leute wenden ein, die Bun­des­ju­gend­spiele seien gut für die­je­nigen, die in allen anderen Fächern mit schlechten Noten gede­mütigt werden. Als würde die Unter­schrift des Bun­des­prä­si­denten diese Ver­let­zungen aus­ra­dieren! Und als wären Zahlen und Ver­gleiche in irgend­einer Weise geeignet, Men­schen für etwas zu begeistern.“

Dabei sein ist alles, so sagt man, und Begeis­terung möge doch bitte durch Teil­nahme ent­stehen, nicht durch Siege. Die Vor­stellung, einem Bun­des­li­gaclub beim Fußball zuzu­sehen, dessen Spieler einfach nur gern gegen Bälle treten und die sich nie an irgend­welchen Leis­tungs­pa­ra­metern messen lassen mussten, amü­siert mich. TAZ-Autoren würden wohl ein­wenden, dass dies ja nun etwas gänzlich anderes sei, als bei Bun­des­ju­gend­spielen in eine Sand­grube zu hüpfen. Das ist richtig, doch wie kommt man von hier nach da ohne Wett­bewerb und die bit­teren Pillen für viele, denen es an Aus­dauer und Talent zum Profi mangelt?

Wie wird man besser in einer Sport­dis­ziplin, einem Handwerk oder einer Wis­sen­schaft, wenn man sich nie ehrlich mit anderen messen will? Wie süß schmeckt ein Sieg, wenn man nie gelernt hat, mit der Bit­terkeit einer Nie­derlage fertig zu werden? „Equity“, dieser poli­tisch kor­rekte Popanz der Gleich­ma­cherei, erzeugt Mit­telmaß und bestraft den, der die Extrameile geht, härter trai­niert, talen­tierter oder einfach nur flei­ßiger ist. Doch selbst wenn man Noten weg­lässt und im Sport „Ziel­kor­ridore“ weit fasst. die Betei­ligten wissen dennoch, wer weiter spring, schneller läuft und der Beste in Mathe ist. Man schafft ja nicht die Unter­schiede ab, sondern igno­riert sie oder erklärt sie für irrelevant.

Scheißegal und gute Laune

In der ange­strebten post-kom­pe­ti­tiven Gesell­schaft genügt es nicht, keinen Ehrgeiz zu ent­wi­ckeln, man muss auch die Erwar­tungen senken. Am 12. Juli ist 2023 Schul­jah­rende in Berlin, der Tag also, an dem die „Gift­blätter“ ver­teilt werden, wie wir früher unsere Zeug­nisse nannten. Die Schüler wissen natürlich auch ohne Noten, wer in ihrer Klasse der oder die beste in Mathe, Physik oder Eng­lisch ist. Die Frage, welche Ergeb­nisse den Fähig­keiten und dem Fleiß des Schülers ange­messen sind, obliegt der Ein­schätzung von Lehrern, Eltern und nicht zuletzt den Schülern selbst. Wir lebten jedoch nicht im besten Deutschland aller Zeiten, wenn sich nicht ein wil­liger Akteur fände, der selbst Unter­schiede bei Schul­noten mit Wohl­fühl­rhe­torik glatt­ziehen will. Nur keine Ver­gleiche, nur kein Wett­bewerb, nur keine Ver­lierer! Ganz vorn dabei in dieser Bewegung und ganz dem Zeit­geist der Unter­schieds­lo­sigkeit ver­schrieben: die evan­ge­lische Kirche!

Die lädt im besten Ber­liner Stadt­bezirk Neu­kölln für den 11.7. zum „Platz 1 für dich – Dein Scheiß auf Noten Segen“ in die Gene­za­reth­kirche. Mal abge­sehen von der etwas def­tigen For­mu­lierung wäre nichts ein­zu­wenden gegen die Bot­schaft „Noten sind nicht alles“. Aber durch „Platz 1 für dich“ wird es schon für Grund­schüler ziemlich eng auf dem Sie­ger­treppchen, auf dem alle unter­schiedslos stehen dürfen.

„Jedes Kind erhält ein Erin­ne­rungsfoto und eine Gute-Laune-Medaille.“

Viel­leicht bilde ich mir das nur ein, aber wohin man auch schaut, springen einem gleich­zeitig Mit­telmaß und eine uner­klär­liche Anspruchs­haltung ent­gegen, die sich aus nichts speist als der eigenen Existenz selbst. Leis­tungen erbringt man nicht, man erhält sie. Aner­kennung wird nicht ver­dient, sondern „gerecht“ ver­teilt. Du bist erster und bester, egal was du kannst und zu leisten ver­magst. Das mag in einer Religion ein Ideal in Bezug auf Gott prak­tisch und tröst­liches Heils­ver­sprechen sein, eine Gesell­schaft, ganz gleich wie ega­litär sie ist, lässt sich so nicht organisieren.

Für unsere zukünf­tigen Chir­urgen, Archi­tekten, Piloten und Bun­desliga-Fuß­baller wird hof­fentlich nie ein leis­tungs­un­ab­hän­giges „Platz 1 für dich“ gelten, ver­bindet sich doch mit dem Ver­trauen, dass man in sie setzen muss, der berech­tigte Erwar­tungs­druck, der gestellten Aufgabe gerecht zu werden. Den muss man aus­halten können, sowohl als Kapitän bei der Luft­hansa wie als Mann­schafts­ka­pitän beim BVB. Wer das nicht kann, muss nach wie vor in die Politik gehen, wo Quote, Proporz und Lis­ten­platz ihre ver­hee­rende Wirkung tun.

Irgendwie müssen solche Bedenken auch den Segens­ver­teilern der Gene­za­reth­kirche gekommen sein, denn die Seite mit der flap­sigen Ein­ladung zum „Ihr-seid-alle-gleich-Fest“ wurde offenbar noch vor Beginn der Ver­an­staltung vom Netz genommen.

Und nun alle husch husch, zurück ans Projekt „feh­lende Fach­kräfte ersetzen durch bedin­gungslose Mas­sen­ein­wan­derung“, um die Folgen der Pro­jekte „ihr seid alle gleich“ und „Leistung darf sich nicht mehr lohnen“ zu bekämpfen.


Quelle: unbesorgt.de