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Ren­ten­ein­tritt an Lebens­er­wartung koppeln? Von moderner Sklavenhaltung

Ein Beitrag aus der Reihe, unbe­ab­sich­tigte Folgen von ein­ge­schränktem Denken.

Veronika Grimm ist nicht mit den Gebrüdern Grimm verwandt.
Deshalb sammelt sie keine Märchen.
Vielmehr hat Grimm einen Lehr­stuhl für Volks­wirt­schafts­lehre und Wirt­schafts­theorie an der Uni­ver­sität Erlangen-Nürnberg inne. Seit 2008 und wohl bis zur Emeritierung.
Und seit etwas mehr als einem Jahr ist Grimm “Wirt­schafts­weise”.
Früher waren die Wirt­schafts­weisen eine Instanz.
Heute sind sie eine Ansammlung von Leuten, die regie­rungs­affine Poli­tik­be­ratung betreiben.
Indes, zuweilen mit Vor­schlägen, die es in sich haben.
So hat Grimm gerade vor­ge­schlagen, das Ren­ten­ein­tritts­alter und damit die erreichbare Höhe der mick­rigen Staats-Rente an die durch­schnitt­liche Lebens­er­wartung zu koppeln. Nimmt die Lebens­er­wartung um ein Jahr zu, dann soll das Ren­ten­ein­tritts­alter um zwei Drittel Jahr ansteigen.

Dazu Grimm in der ARD:

“Rente mit 67? Das sei in Zukunft nicht mehr zu finan­zieren, warnt Wirt­schafts­weise Grimm. Um das Ren­ten­system zu ent­lasten, schlägt sie vor, das Alter für den Ein­tritt an die stei­gende Lebens­er­wartung zu koppeln.

In der Debatte über die Zukunft der Rente spricht sich die Wirt­schafts­weise Veronika Grimm dafür aus, das Ren­ten­ein­tritts­alter bei stei­gender Lebens­er­wartung auto­ma­tisch anzu­heben. “Man sollte die Regel­al­ters­grenze für den Ren­ten­ein­tritt an die Lebens­er­wartung koppeln”, sagte sie den Zei­tungen der Funke Mediengruppe.

“Die Formel in Zukunft könnte sein: Nimmt die Lebens­er­wartung um ein Jahr zu, so würden zwei Drittel des zusätz­lichen Jahres der Erwerbs­arbeit zuge­schlagen und ein Drittel dem Ruhestand.””

Die Idee ist natürlich vor dem Hin­ter­grund ent­wi­ckelt worden, die Ren­ten­kasse, aus der Poli­tiker seit Jahren Geld der Ren­ten­ver­si­che­rungs­zahler zweck­ent­fremden, um es Leuten, die nicht in die Ren­ten­kasse ein­ge­zahlt oder so gut wie nicht ein­ge­zahlt haben, zugute kommen zu lassen, zu ent­lasten. Wenn Leute immer älter werden, dann muss Rente immer länger gezahlt werden, wenn Rente immer länger gezahlt werden muss, dann muss ent­weder das Ren­ten­niveau noch weiter abge­senkt werden oder der Ren­ten­beitrag ange­hoben oder das Ein­tritts­alter in die Rente und somit der Zeit­punkt, der bei nicht-Erreichen zu Abzug bei der Ren­tenhöhe führt, ange­hoben werden.

Was Grimm natürlich nicht bedacht hat, sind die Kon­se­quenzen einer Kop­pelung des Ren­ten­ein­tritts­alters an die Lebenserwartung.

Ein Junge, der derzeit geboren wird, hat eine Lebens­er­wartung von 78,3 Jahren, ein Mädchen eine solche von 83,2 Jahren. Fünf Jahre Unter­schied. Nach der Formel von Grimm müsste das Ren­ten­ein­tritts­alter von Frauen 3,75 Jahre höher sein, als das Ren­ten­ein­tritts­alter von Männern.

Aber das ist erst der Anfang.
Wer sich mit Ana­lysen zur Lebens­er­wartung beschäftigt, der wird schnell fest­stellen, dass das ganze sehr sport- und gesund­heits­lastig ist. Ein Ergebnis der Tat­sache, dass die­je­nigen, die diese Ana­lysen erstellen, Berufe ausüben, die es dem Aus­übenden nach Fei­er­abend erlauben, seine über­schüssige Kraft im Fancy-Dress auf einem “Bike” oder beim Joggen abzu­bauen. Gesundheit und sport­liche Betä­tigung sind im Wesent­lichen ein Nähe­rungswert für den beruf­lichen Status.

Quelle: Berlin Institut

Und wenn man etwas genauer hinter die Kulissen blickt, dann findet man zunächst und gewöhnlich als einzige Form, in der For­scher der Tat­sache, dass bestimmte Berufe mit höherer kör­per­licher Anstrengung ver­bunden sind und diese Berufe sich unter Ange­hö­rigen bestimmter Schichten häu­figer anzu­treffen sind, eine Analyse nach sozialem Status. Sowas zum Beispiel:

Eine Abbildung, die zeigt, dass Geschlecht im Hin­blick auf die Lebens­er­wartung rele­vanter ist als sozialer Status, denn Männern nützt auch ein hoher sozialer Status nichts: Sie sterben dennoch früher als Frauen mit gerin­gerem sozialen Status. Ana­lysen wie diese sind im Aus­sa­gewert schon deshalb beschränkt, weil sozialer Status natürlich etwas ist, was adskri­biert wird: Ent­weder Befragte ordnen sich selbst dort ein, wo sie denken, sozial hin­zu­ge­hören, z.B. in die obere oder untere Mit­tel­schicht, oder sie werden von For­schern zuge­ordnet, zumeist unter Nutzung von Variablen wie Ein­kommen und Bildungsabschluss.

Indes, die Frage, warum Männer früher sterben als Frauen, ist damit nicht beant­wortet. Und wer Publi­ka­tionen durch­stöbert, um die Antwort auf diese Frage zu finden, der wird mit Gesundheit und sport­lichen Akti­vi­täten zuge­schüttet: Männer ernähren sich unge­sünder, was die Frage auf­wirft, ob in den mehr­heitlich hete­ro­se­xu­ellen Lebens­ge­mein­schaften, die man früher Ehe genannt hat, getrennt zu Abend gegessen wird. Auch bei sport­licher Akti­vität stehen Männer nicht hinter Frauen zurück, im Gegenteil, sie sind aktiver, woraus man schließen müsste, dass mehr sport­liche Akti­vität das Leben ver­kürzt. Das wie­derum stünde im Wider­spruch zu allem, was im Hin­blick auf die Lebens­er­wartung seit Jahr­zehnten behauptet wird.

Lange Rede kurzer Sinn: So kommt man nicht weiter. Ver­weise auf Gesundheit sind Schein­ge­fechte auf Basis von Variablen, die in der Regel nur Symptom einer grund­le­genden Variable sind: Beruf und vor allem: Inten­sität der kör­per­lichen Anfor­de­rungen im Beruf und Gefähr­lichkeit des aus­ge­übten Berufs. Eine erste Näherung zum Zusam­menhang zwi­schen Beruf und Lebens­er­wartung findet sich in einer Arbeit des Instituts für Arbeit und Qua­li­fi­kation an der Uni­ver­sität Duisburg-Essen:

Martin Brussig & Schulz, Susanne Eva (2019). Soziale Unter­schiede im Mor­ta­li­täts­risiko. Das frühere Arbeits­leben beein­flusst die fernere Lebens­er­wartung. Uni­ver­sität Duisburg-Essen: IAQ.

Mit bestimmten Berufen geht ein frü­heres Sterben einher.

Es liegt auf der Hand, die Bedin­gungen, die in Berufen herr­schen, das Ausmaß an kör­per­licher Arbeit, die von der Tätigkeit aus­ge­hende Gefahr bzw. sonstige Belastung in Form von schäd­lichen Sub­stanzen, mit denen umge­gangen werden muss, und so weiter, in Rechnung zu stellen, wenn es darum geht, die Frage der Lebens­er­wartung und ihrer Abhän­gigkeit von der sozialen Lage zu beant­worten. Und eben das haben Brussig und Schulz im Hin­blick auf kör­per­liche Anfor­de­rungen, die mit bestimmten Berufen ver­bunden sind, getan. Und siehe da:

Die Tabelle gibt Ergeb­nisse einer sta­tis­ti­schen Analyse auf Basis des Sozio­öko­no­mi­schen Panels (SOEP) wieder. Das SOEP ist ein Längs­schnitt-Datensatz, der es erlaubt, den­selben Befragten über Zeit zu folgen. Befragte zeigt schon an, dass ein in der Regel stan­dar­di­sierter Fra­ge­bogen genutzt wird, um die­selbe Gruppe von Befragten im zeit­lichen Abstand von ein paar Monaten wieder zu befragen.

Brussig und Schulz haben sich das zunutze gemacht, um das Ster­be­risiko für 3.957 Befragte des SOEP, die 65 Jahre und älter waren, und von denen 687 im Laufe der Panel-Zeit ver­storben sind, in Abhän­gigkeit von unter­schied­lichen Variablen zu berechnen. Wer ein höheres Ster­be­risiko hat, wird nicht so alt wie der­jenige, der ein gerin­geres hat, was man direkt in Lebens­er­wartung über­tragen kann.

Die vier Spalten mit Zahlen, die mit Ein­kommen, Arbeits­leben, Demo­graphie und Gesundheit über­schrieben sind, geben an, welche Variablen im Modell ent­halten bzw. hin­zu­ge­kommen sind. Leider gibt es keine Gütemaße für die Ereig­nis­da­ten­analyse, aber die Tat­sache, dass die vier Modelle sich nicht son­derlich von­ein­ander unter­scheiden spricht dafür, dass hier etwas reliables gemessen wurde. Und in allen vier Modellen erklärt die Arbeits­be­lastung. Je höher die Arbeits­be­lastung, desto höher das Ster­be­risiko. Dauer der Beschäf­tigung und Ein­kommen leisten keinen bzw. keinen kon­ti­nu­ier­lichen (über Modelle hinweg) Erklä­rungs­beitrag, was die Bedeutung der mit einer Arbeit ver­bun­denen kör­per­lichen und damit gesund­heit­lichen Belastung zudem bestätigt. Und neben der Arbeits­be­lastung erklärt Geschlecht. Männer haben ein fast doppelt so hohes Ster­be­risiko wie Frauen, wenn sie es bis ins 65. Lebensjahr geschafft haben.

Wenn der Ren­ten­ein­tritt an die Lebens­er­wartung gekoppelt werden soll, dann ist es unab­dingbar, sofern es auch nur ansatz­weise darum geht, Bei­trags­zahler gerecht zu behandeln, Männer und Per­sonen, die in kör­perlich anspruchs­vollen Berufen tätig sind, besser zu stellen, d.h. das, was sie an Lebens­er­wartung weniger haben, durch einen frü­heren Ein­tritt in die Rente zu kompensieren.

Aber ver­mutlich hat Frau Grimm an so etwas nicht gedacht als sie vor­ge­schlagen hat, das Ren­ten­ein­tritts­alter an die Lebens­er­wartung zu koppeln. Sie hat eher nach einer Mög­lichkeit gesucht, eine Ren­ten­kürzung so zu ver­packen, dass man nicht von einer Ren­ten­kürzung sprechen muss. Denn: In der Welt von Frau Grimm kommen kör­perlich arbei­tende Männer ver­mutlich nur in Form von denen, die man ruft, wenn XY nicht mehr funk­tio­niert, vor. Sie sind keine Per­sonen, denen man die Tat­sache, dass sie in der Regel deutlich länger in eine Ren­ten­ver­si­cherung ein­be­zahlen als ein “Stu­dierter”, dafür auf­grund kür­zerer Lebens­er­wartung relativ weniger ent­nehmen als sozial gespon­serte Lebens­ent­würfe von z.B. Schwulen, die sich die Elternzeit geteilt haben, ent­gelten muss.

Skla­ven­haltung ist nicht verschwunden.
Die Methoden von Skla­ven­haltung haben sich etwas verändert.
Man lässt Sklaven heute für den eigenen Lebens­entwurf bezahlen.

       

Dieser Beitrag erschein zuerst hier: sciencefiles.org