Eine hervorragende Analyse von Michael Ladwig
Bismarck und der Sozialstaat
Der vermeintlich soziale Fürsorge verteilende Staat ist für die meisten Menschen unantastbar, sein Rückbau oder gar seine Abschaffung steht für sie nicht zur Debatte. Die staatliche Sozialversicherung wird von den meisten Menschen als „Errungenschaft“ gefeiert, ohne Wissen darüber, aus welchen Gründen Otto von Bismarck (1815–1898) sie dereinst ins Leben rief. Es war das politische Kalkül Bismarcks, den sozialdemokratischen Gegnern und ihren wohlfunktionierenden, privaten Gewerkschaftsvereinen das Wasser abzugraben. Es ging nicht darum, die soziale Idee aus reiner Menschlichkeit durch den Staat verwirklicht zu sehen. Bismarcks…
„… Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“[1]
Es ging, worum es in der Politik immer ging und geht: Um Macht. Bismarck sah eine Gefahr, die von einer besitzenden, vom Staat unabhängig lebenden Arbeiterklasse ausgehen könnte. Er schreibt:
„Wer seine Pension hat für das Alter, der ist viel zufriedener und viel leichter zu behandeln als wer darauf keine Aussicht hat. Sehen Sie den Unterschied zwischen einem Privatdiener und … einem Hofbedienten an; der Letztere wird sich weit mehr bieten lassen …; denn er hat Pension zu erwarten.“[2]
Selbst wenn sich die Menschen Bismarcks Motiven bewusst wären, der Sozialstaat ist den meisten von ihnen sakrosankt, mehr noch, die Befürworter finden sogar die wärmsten Worte für ihn, sehen in ihm ein Heiligtum. Die Überhöhung des sozialen Engagements, kurz und schnörkellos zum „Solidaritätsprinzip“ verklärt, ist inzwischen fest in Gesetzestexten und in den Köpfen der meisten Menschen verankert. Es wird schwergewichtig medial und politisch in Stellung gebracht, um politische Ziele mit möglichst wenig Widerstand zu erreichen.
Menschen, die sich nicht solidarisch zeigen, vergehen sich an der Gemeinschaft, so heißt es. Ja, sie schädigen sie und werden geschmäht. Die Gesetze sind in dieser Hinsicht eindeutig und unerbittlich. Steuerhinterzieher und Schwarzarbeiter werden hart bestraft. Von Politik, Sozialverbänden und anderen Potentaten des Sozialregimes hören die geplagten Menschen unentwegt, wer, wann, wo und wie viel in den großen Sozialtopf einzuzahlen hat. Mal sind es die sogenannten „Besserverdienenden“ oder „Reichen“, ein anderes mal die Unternehmen oder die „Spekulanten“. Alle müssen ihren Gewinn mit der Gemeinschaft teilen.
Solidarität ist DAS Buzzword der Politik und hat einen hohen moralischen Klang. Der Aufruf zum Kampf gegen soziale Missstände gleicht einer militärischen Mobilmachung in Friedenszeiten. Sie erfasst jeden: Vom Neugeborenen bis zum Rentner. Die Durchdringungstendenz solidarischer Zwangsabgaben betragen seit dem Ende der 1970er 30% dessen, was in der Bundesrepublik erwirtschaftet wird. Die Frage, wer mit wem und aus welchem Grund und mit welchen Mitteln und welchen Zielen solidarisch zu sein hat, wird dabei weder gestellt noch beantwortet. Der Austausch von sentimentalen Allgemeinplätzen tritt stattdessen als Antwort an die Stelle einer ethischen Argumentation. In der Gemeinschaft soll einer für den anderen eintreten. Argumentativ eine völlige Rechtfertigungswüste, aber scheinbar ausreichend, um 883 Mrd. € Sozialbudget, das in Summe die Ressourcen ausweist, die der Sozialstaat für sämtliche sozialen Zwecke aufwendet, umzuverteilen (Stand 2014, 10.900 € pro Kopf!)[3].
Die folgenden drei Diagramme zeigen die vergeblichen Versuche des bundesdeutschen Versorgungsstaates auf, mit dem Geld anderer Leute nach dem Gießkannenprinzip irgendwie „Hilfe“ zu organisieren, um die Gesellschaft zu einer „gerechten“ zu machen. Diagramm 1 offenbart die absolute Höhe aller Sozialausgaben in der Bundesrepublik, im Statistischen Jahrbuch als „Sozialbudget“ subsumiert. Der geneigte Leser erkennt deutlich den exponentiellen Anstieg seit der Schließung des Goldfensters im August 1971 durch US-Präsident Nixon. Diagramm 2 legt die absolute Summe des Sozialbudgets auf jeden Bewohner der Bundesrepublik um. Auch hier ist eine starke Steigung seit 1971 auszumachen. Diagramm 3 setzt das Sozialbudget zum Bruttoinlandsprodukt[4] ins Verhältnis. Der sprunghafte Anstieg seit 1971 ist unverkennbar. Seit den späten 1970er tänzelt das Verhältnis jedoch um die 30%-Marke, da das vom Statistischen Bundesamt ermittelte BIP seit der Zeit ungefähr im gleichen Maße stieg wie die Sozialausgaben.
Solidarismus als Werkzeug der Politik
Trotz massivem Wachstum des Sozialbudgets bleibt der Erfolg scheinbar auf der Strecke. Denn nie ist genug Geld für „angemessene“ Hilfe da. Ergo müssen im nächsten Jahr noch mehr Steuern und Sozialabgaben eingenommen werden, um den neuen Betätigungsfeldern Raum zu verschaffen. Die Frage nach dem „Warum“ der ewig zu leeren Kassen wird nicht gestellt.
Im Grunde beinhaltet der politisch überformte Solidarismus im wesentlichen das, was im Sinne eines herkömmlichen Gerechtigkeitsdenkens als ungeheuerliche Ungerechtigkeit betrachtet wird: Nämlich unter Androhung von Gewalt jemandem etwas von dem wegzunehmen, was derjenige rechtmäßig verdient hat oder besitzt, um es den weniger Gutgestellten zum Konsum zu überlassen.
Dabei ist „soziales Engagement“ keine staatliche Erfindung. Die Familie ist es, auf die wir unser Augenmerk zu richten haben. In ihr herrschte und herrscht die Ur-Ethik des gemeinschaftlichen Teilens. Und diese wechselseitigen persönlichen Beziehungen verknoten sich auch in größerem Maßstab zu einem Beziehungsnetzwerk, ein Brutkasten der gemeinhin als „Gesellschaft“ klassifiziert wird. Daher sind wohl einige Politiker schon dem völligen Unsinn verfallen, von der „Familie als der Keimzelle des Staates“ zu sprechen. Nichts ist falscher! Denn in der Familie sind die Eltern diejenigen, die die erarbeiteten Ressourcen regelgerecht umverteilen und diejenigen, die profitieren, bestimmen nicht die Regeln. Im Staat ist es umgekehrt. Die, die durch die erarbeiteten Ressourcen gefüttert werden, bestimmen unser Leben und die, die dafür zahlen, haben nichts zu sagen.
Über die Familie hinaus gibt es weitere, unzählige andere freiwillige – teils temporäre – Zusammenschlüsse, die von vitalem Selbstinteresse beseelt sind. Da sind zu nennen die Versicherungen, Vereine, Genossenschaften, Zünfte, Stiftungen, Verbände, Glaubensgemeinschaften, Initiativen, die ebenso bemüht sind, die sozialen Probleme ihrer Mitglieder lösen zu helfen. In Erweiterung der Familien-Ethik ist es zutreffend zu sagen, dass das Teilen der Besitztümer mit der Sippe, dem Dorf, dem Clan, den Nachbarschaften, mit Freunden, freien Assoziationen wie den oben genannten Geborgenheit stiftet, wobei sich jedoch auf jeder dieser Beziehungsebenen jeweils Identifikation und Pflichtgefühl permanent verwässert. Letztlich bleibt für die gesamte Menschheit am Ende materiell und auch zeitlich wenig übrig.
Der zeitgenössische Sozialstaat jedoch stellt die freiwillige Hilfe und deren hohen moralischen Wert auf den Kopf. Der politische Kampfbegriff „Solidarität“ öffnet Tür und Tor zum legalisierten Raub und weiterem Staatsausbau bis hin zu dem weit verbreiteten Glauben, dass jedermann von den Sozialabgaben seiner Mitbürger irgendwie profitieren könne. Die Verfechter des Sozialstaates müssen ihrer eigenen Doktrin gemäß zwangsläufig immer davon ausgehen, dass nicht genug Solidarität in einer Gesellschaft vorhanden ist, nur so lässt sich das Sozialbudget ständig erhöhen. Weil sie unentwegt neue Opfergruppen für sich entdecken, wird der Hilfe nie Genüge getan werden können. Möglicherweise nimmt die Suche nach neuen Opfern schon lange pathologische Züge an. Ihre Unzulänglichkeit, freiwillige Hilfe zu organisieren, wird nur von ihrem zwanghaften Eifer und der Gier nach Amtsstubenarbeitsplätzen übertroffen. Ihr Mittel der Wahl ist daher die Hilfe, die sich auf erzwungene Leistungen stützt: dem Sozialstaat. So werden jedoch die Befürworter des Sozialstaates zu den wahren Treibern der sozialen Kälte. Es ist eben der Zwang, in dem sich Kälte ausdrückt: Die Kälte derjenigen, die ihre Mitmenschen gegen deren Willen zur Hilfe nötigen. Ihre „Solidarität“ gibt das Geld anderer Leute aus und kehrt die Begrifflichkeit des Solidarischen ins Gegenteil. Sie erteilen einen Befehl, wer dem nicht Folge leistet, bekommt Besuch von der schwer bewaffneten Exekutive. Stefan Blankertz nannte diesen Umstand zu Recht „Solidarität von Räubern“.
Der Solidarismus spaltet eher die Gemeinschaft der Menschen, geradeso wie das Euroexperiment Europa mehr geschadet hat als es von Nutzen war. Die Politik bleibt damit immer im Spiel, weil es stets Dinge gibt, die geregelt werden wollen. Das ewige Lied vom divide et impera hat täglich Uraufführung. Man könnte auch sagen von den (Erfolg)Reichen nimmt die Politik das Geld und von den Habenichtsen die Stimmen und beiden Gruppen versprechen solidarische Politiker, sie jeweils vor der anderen Gruppe zu beschützen.
Findige Staatstheoretiker haben das vor langer Zeit bereits erkannt und bedienen sich der gesetzlich verordneten Solidarität als ein mächtiges, politisches Instrument. Schleichend, aber dennoch mit Gewissheit, wird dabei der Helfer auf Kosten der vermeintlichen Opfer gestärkt. Das Streben nach Herrschaft durchdringt mithilfe fürsorglicher Dialektik bald alle mitmenschlichen Verhältnisse. Der unverkennbare Erfolg des Solidaritätsprinzips liegt in der unspezifischen Forderung nach Gegenleistungen. Diese Art der „Solidarität“ ist aufgeladen in Form moralischer Schulden, die in den Zuwendungsempfängern eine Bereitschaft erzeugen soll, dem Zuwendungsgeber im Bedarfsfall zu Diensten zu sein, die er für seine Existenz benötigt und wenn es nur bedeutet, alle vier Jahre ein Kreuzchen auf einem Stück Papier zu machen. Genau aus diesem Grunde organisieren kluge Machthaber und Regierungen aller Couleurs gerne Solidarität, um Popularität zu gewinnen und sich mit fremdem Geld (und einer immer höheren Staatsverschuldung) Gefolgschaft zu erkaufen.
Die politische Dressur beginnt zumeist mit Geschenken. Diese alle aufzuzählen, reicht hier der Platz nicht, die Formen sind vielfältig. Sie reichen von Zuschüssen, über zinsgünstige Darlehen, Steuerbefreiungen, Steuervergünstigungen oder eben soziale Leistungen in Form von Geld. Die staatlich verordnete Solidarität wird oft durch politisches, kurzfristiges Denken bestimmt und mittels Schulden finanziert, das heißt auf Kosten anderer, deren Geburt erst noch heiß ersehnt wird.
Diese Art der Solidarität ist der säkularisierte Nachfolger der familiären Hilfe, wahlweise auch der christlichen Nächstenliebe, folgt jedoch ersichtlich anderen Gesetzen. Von hoher Moral ist Solidarität jedoch nur, wenn sie aus freiem Antrieb erfolgt und freiwillig gegeben wird. Das Handeln unter Zwang ist für eine Gemeinschaft von freien Menschen wertlos.
Gibt es zu wenig Hilfe?
Im Grunde dreht es sich bei jeder Diskussion, ob der Staat Hilfe in Form von sozialen Leistungen bereitstellen soll oder nicht, um das unbewiesene Motto: „Es gibt nicht genug private Hilfe!“. Von sozialer Kälte (Egoismus) ist meist gleichzeitig die Rede.
Dabei gibt es genügend Beispiele privater Hilfe. Die Milliarden Stunden ehrenamtlicher Hilfe, die jedes Jahr in Heimen, Vereinen und Tafeln außerhalb der Familien geleistet werden, darf man in dieser Diskussion nicht verschweigen. Ich weise nur daraufhin, dass der unbezahlte Einsatz von fast 15 Millionen Menschen in Deutschland[5] wohl kaum das Prädikat „zu wenig“ verdient hat. Ich erinnere nur an ein sehr bekanntes Beispiel großflächiger Hilfe, die vielen bekannt sein dürfte. Es ist die 1993 von der Pflegedienstbetreiberin Sabine Werth gegründete Tafel. Sie startete in Berlin und bis heute sind fast 1000 von ihnen eröffnet worden. Der Erfolg ist unübersehbar. Mehr als 100.000 t (!) Lebensmittel werden jedes Jahr an Bedürftige (ca. 1,5 Millionen!) abgegeben. Über 60.000 Menschen arbeiten für die Tafel, die meisten davon ehrenamtlich. Und was ganz erstaunlich ist, die Tafeln erhalten keinerlei flächendeckende Stütze aus Steuermitteln!
Die Gesellschaft ist erkennbar nicht so kalt, wie die Politik den Menschen suggerieren will. Dabei ist davon auszugehen, dass der überformte Sozialstaat in den vergangenen Jahrzehnten viele private Initiativen erstickt hat oder erst gar nicht hat entstehen lassen.
Schlimmer noch: Alle private Hilfe kann ein jähes Ende finden, wenn der Versorgungsstaat sich noch weiter ausdehnt und noch weiter wuchert. Denn echte Solidarität und der umverteilende Wohlfahrtsstaat stehen sich unversöhnlich gegenüber. Und was die Höhe der in die Hilfe fließenden Gelder betrifft, so stehen beide sogar in einem nicht zu leugnendem Konkurrenzverhältnis. Lt. Niemietz[6] nimmt die freiwillige Spendentätigkeit bei steigenden Einkommenssteuern und Sozialabgaben eklatant ab.
Was jedoch sicher sein dürfte ist, dass in einer zivilisierten Gesellschaft kein Mensch ohne Grundversorgung leiden muss, denn das, was den Menschen ausmacht und ihn vom Tierreich unterscheidet, ist gerade seine Fähigkeit, mit Menschen zu kooperieren, die er überhaupt nicht kennt und das schließt auch die gegenseitige Hilfe mit ein.
Der Wettbewerb der Ideen, Modelle und Verfahren ist nicht nur der beste Weg um herauszufinden, was die Menschen wollen und was nicht, sondern er verschafft uns auch das vielgelobte Leben im Plural.
Michael Ladwig für das Ludwig von Mises Institut Deutschland
[1] Habermann, Wohlfahrtsstaat, S. 181.
[2] aaO, S. 182.
[3] Statistisches Jahrbuch 2016, S. 228.
[4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4878/umfrage/bruttoinlandsprodukt-von-deutschland-seit-dem-jahr-1950/
[5] https://de.statista.com/themen/71/ehrenamt/
[6] Niemietz in „Sackgasse Sozialstaat“ S. 94 (Diagramm)