Lügen haben kurze Beine – der Mops von „Bell­tower” auch

von Roger Letsch | Was genau konnte man dem Artikel „Der gefühlte Jude“ im Spiegel 43/2018 denn nun ent­nehmen? Wolfgang Seibert, der Vor­sit­zende der jüdi­schen Gemeinde Pin­neberg, sei ein Hoch­stapler, so die Autoren Martin Doerry und Moritz Gerlach. Die aben­teu­er­liche Geschichte seiner Her­kunft und die angeb­liche jüdische Mutter wollten so gar nicht zu dem passen, was die Nach­for­schungen der Autoren ergaben. Ergebnis des mehr­sei­tigen Spiegel-Berichtes ist, dass Seibert, der unmit­telbar nach dem Erscheinen des Artikels noch eine Stel­lung­nahme ankün­digte, von seinem Amt zurücktrat und um Ent­schul­digung bat.

… Er log über seine angeb­liche jüdische Her­kunft und betrog enge Freunde. Der Lan­des­verband der jüdi­schen Gemeinden von Schleswig-Hol­stein gab nun bekannt, dass Seibert zurück­ge­treten ist. Diesen Schritt kün­digte er bereits gegenüber dem SPIEGEL an. Seibert selbst äußerte sich seither nicht mehr zu den Vor­würfen. Sein Anwalt Alex­ander Hoffmann teilte mit, Seibert habe in einigen öffent­lichen Dar­stel­lungen über­zogen und wolle sich dafür ent­schul­digen. Laut NDR gab Hoffmann zudem an, dass Seibert zwar leib­liche nicht-jüdische Eltern, aber jüdische Pfle­ge­eltern gehabt habe”, berichtete SPON am 26.10.2018.
Soweit die Fakten. Der Image-Schaden, den die betrogene jüdische Gemeinde Pin­neberg erlitt, dürfte beträchtlich sein. Ob der jah­re­lange Betrug recht­liche Kon­se­quenzen haben wird, ist noch nicht abzu­sehen. Die nach­ge­schickte Erklärung von Sei­berts Anwalt könnte gut als Fort­schreibung des Spiegel-Artikels durch­gehen. Denn immer dann, wenn eine der Lügen Sei­berts aufflog, rettete er sich in die nächste, noch aben­teu­er­li­chere. Nun behauptet er, jüdische Pfle­ge­eltern gehabt zu haben, nachdem seine erste Geschichte auf­ge­flogen war — der Mann kann einem nur leidtun! Doch das alles ist nicht Gegen­stand dieses Artikels, sondern nur das Fak­ten­gerüst für zwei Fragen.

Erste Frage

Wozu die Mas­kerade? Warum legt man sich heute über­haupt eine andere Iden­tität zu? Ich rede ja nicht von der Manie, Julius Caesar oder Napoleon I. zu sein, sondern von Gruppen-Iden­ti­täten. Der Spiegel sprach im Fall Seibert von dessen „geradezu unan­greif­barer jüdi­schen Iden­tität“ und liegt damit womöglich nahe an der Wahrheit. Ob eine Affi­nität für jüdische Religion und Kultur dabei für Seibert eine Rolle spielte, sei mal dahin­ge­stellt. Aber die Tendenz, sich im heu­tigen Diskurs besser in einer mög­lichst klar defi­nierten und gefühlt oder tat­sächlich dis­kri­mi­nierten Min­derheit zu ver­orten, um den eigenen Ansichten und Zielen Nach­druck zu ver­leihen, liegt auf der Hand. Die Mehr­heits­ge­sell­schaft in Deutschland sei, so raunt es in „pro­gres­siven linken Kreisen”, weiß, alt, christlich, rechts, irgendwie männlich und chau­vi­nis­tisch by nature. Man sollte also mög­lichst bunt, jung, religiös, nicht christlich, links, weiblich und femi­nis­tisch sein, um gesell­schaft­liche Relevanz zu haben. Dass sich ein Deut­scher dabei als Jude ausgibt, hat ange­sichts der Geschichte aber schon ein beson­deres G’schmäckle, wenn es auch kein neues Phä­nomen ist, wie der Fall Wachen­dorff vor wenigen Jahren zeigte.

Zweite Frage

Audio: NDR-Info, „Schabat Schalom”, Freitag, 26. Oktober 2018

Wozu jedoch die Ver­tei­digung des gestän­digen Seibert? Es gab nämlich eine solche, die den Spiegel-Artikel mit einer Breit­seite an Vor­würfen und Anschul­di­gungen angriff. Und zwar von Rosa Fava auf „Bell­tower“, der Medien- und Mel­de­plattform der Amadeu-Antonio-Stiftung. Fava eröffnet gleich mit der Frage „Bestimmt der Spiegel nun, was jüdisch ist?“ und ant­wortet gleich selbst und richtig: „Nein, das tun die jüdi­schen Gemeinden“. Nur wurden die im Fall Seibert aber auch getäuscht, was den Spiegel in diesem Fall zumindest zu dem Spiel­ver­derber macht, der er nach eigenem Dafür­halten als Pres­se­medium sein will und auch sein sollte. Man mag es kaum glauben, weil es schon so lange nicht mehr so ist in diesem Land, aber die Aufgabe der Presse ist es, durch gründ­liche Recherche Miss­ständen auf die Spur zu kommen, die von öffent­lichem Interesse sind, weil zum Bei­spiel öffent­liche Gelder im Feuer stehen oder Betrug vor­liegt. Wenn Men­schen getäuscht, Behörden und Öffent­lichkeit hinters Licht geführt werden, liegt es aus­drücklich im öffent­lichen Interesse, die Ergeb­nisse dieser Recherchen in Druck zu geben. Frau Fava fordert statt­dessen folgendes:
Anstatt sich mit den Unter­lagen, die zu belegen scheinen, dass Seibert sich nicht vor­handene jüdische Vor­fahren erdacht hat, ver­traulich an den Lan­des­verband oder andere jüdische Instanzen zu wenden und ihnen den Umgang mit den Infor­ma­tionen zu über­lassen, ließen die Autoren unter dem Titel „Der gefühlte Jude“ die Bombe platzen.
Vorab: Sie scheinen nicht zu belegen, sie belegen! Außerdem hatten sich schon andere Zweifler Jahre zuvor an Sei­berts Vor­ge­setzte gewandt, deren Nach­fragen Seibert jedoch stets zer­streuen konnte und mit eilig her­bei­ge­schafften Doku­menten unterlief. Und seit wann ist es Aufgabe der Presse, sich ver­traulich mit den Unter­lagen an irgendwen zu wenden, außer an den Leser? Die Argu­men­tation Favas erinnert stark an Franz-Josef Strauß, der Ver­gleich­bares 1962 eben­falls vom Spiegel for­derte. Was ist das bitte für ein Ver­ständnis von Jour­na­lismus? Sei­berts Tätigkeit für die Gemeinde kam auf­grund eines Betruges zustande, Punkt! Statt sich nun mit diesem unfass­baren Fall zu beschäf­tigen, geht Fava auf die Autoren des Artikels los und spricht von „Gene­ral­ab­rechnung“, „Jews are news“ und fragt sich, ob es wohl beab­sichtigt sei, in diesem Fall einfach die „Wahrheit“ zu schreiben (nicht meine Anführungszeichen).
Ich zähle mich selbst zu denen, die Anti­se­mi­tismus eine Meile gegen den Wind riechen und diese Geis­tes­haltung ver­ur­teilen und gegen sie anschreiben, wo es nur geht. Aber all die anti­se­mi­ti­schen Anfein­dungen, die Rosa Fava den Autoren des Spiegel-Artikels in diesem Fall um die Ohren schlägt, gehen kom­plett ins Leere. Die von ihr auf­ge­fun­denen „Anti­se­mi­ti­schen Topoi“ Geld (Vorwurf der Habgier), Raf­fi­nesse (Kon­spi­ration, Vorwurf der Ver­schwörung) treffen ja keinen Juden, sondern Seibert, der sich als Jude ausgab! Es gibt keinen Anti­se­mi­tismus, der sich nicht gegen Juden richtet – es sei denn, die Amadeu-Antonio-Stiftung hat ihn erfunden. Was zurück­bleibt, ist die jüdische Gemeinde Pin­neberg, die einem Betrüger auf­ge­sessen ist. Diesen Betrüger nun aus­ge­rechnet gegen angeb­lichen Anti­se­mi­tismus in Schutz zu nehmen, wie es Frau Fava tut, ist ein Bären­dienst für die geprellten Gemeindemitglieder!
Mit dem Wissen, dass Wolfgang Seibert seinen Betrug zuge­geben hat und um Ent­schul­digung bat, erscheint der vor­letzte Absatz des Bell­tower-Artikels besonders peinlich: Der Spiegel betreibt mit dem Artikel eine Selbst­er­mäch­tigung nicht­jü­di­scher Deut­scher gegenüber einer gefühlten jüdi­schen Auto­rität als Wider­stand gegen Hand­lungs­maxime, die sich aus der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­nich­tungs­po­litik ergeben würden und als Unfreiheit emp­funden werden. Quint­essenz des Ganzen ist: Wir trotzen den (gefühlten!) Beschrän­kungen nach Auschwitz und wer Jude ist, ent­scheiden wir. Die Welt soll das wissen.“
Mit „Selbst­er­mäch­tigung nicht­jü­di­scher Deut­scher” meint Fava nicht etwa Seibert, der diese Bezeichnung ver­dient hätte, sondern die Spiegel-Autoren. Die Quint­essenz ist, dass die Amadeu-Antonio-Stiftung einer freund­lichen Auf­for­derung, im Lichte der neu­esten Ereig­nisse ihren Artikel besser zu löschen, also ihr den rich­tigen „Umgang mit den Infor­ma­tionen“ zu über­lassen, nicht nachkam. Dabei postete Frau Kahane auf ihrer Facebook-Seite noch vor einigen Tagen selbst Fol­gendes: „Liebe Leute, ich sehe es ähnlich wie ihr. Ich dis­ku­tiere das mit der Kollegin.“ 
Geschehen ist nichts. Der fak­ten­fremde Artikel von Frau Fava steht immer noch auf der Seite der Amadeu-Antonio-Stiftung. Eine Stiftung, deren erklärte Aufgabe es ist, gegen Hate-Speech anzu­treten, hat also offenbar kein Problem damit, auf ihren eigenen Seiten gegen Jour­na­listen zu hetzen und ihnen Nähe zu Nazi­me­thoden vorzuwerfen.
Lieber trotzt man durch Selbst­er­mäch­tigung den Fakten und igno­riert sie, wenn sie nicht zur eigenen Hand­lungs­maxime passen. Zu dieser Maxime gehört, dass Seibert seit Jahren gut und laut ver­netzt ist im linken bis ganzweit­linken Milieu und gern gese­hener Gast in der „Roten Flora” sowie gern zitierter Anti­se­mi­tis­mus­experte zum Bei­spiel in der TAZ war. Das nun aus­ge­rechnet er durch Betrug als Gewährsmann auch für die Kahane-Stiftung aus­fällt, die in Sachen Anti­se­mi­tismus nur nach rechts blickt, auf dem linken Auge jedoch erstaunlich blind ist (ganz zu schweigen von der Blindheit gegenüber mus­li­mi­schem Anti­se­mi­tismus), muss schmerzhaft sein. Der fällige Schrei sollte aber sinn­voller nach innen gehen, anstatt sich auf zwei Redak­teure zu stürzen, die einfach nur ihre Arbeit machten.
Deshalb kann ich mir den Schlusssatz Frau Favas auch nicht zueigen machen, in welchem sie dazu auf­fordert, Nach­for­schungen doch besser bleiben zu lassen und auf das zu hören, was von ihrem „Bell­tower” als Wahrheit ver­kündet wird: Besser ist: Lassen Sie die Kir­chen­bücher unge­öffnet, wenden Sie sich an die nächst­ge­legene jüdische Auto­rität und das sollten Sie, ja genau, wegen jener zwölf Jahre tun.“ 
Ich hab’s nämlich nicht so mit Auto­ri­täten, egal, wie diese sich zu legi­ti­mieren ver­suchen!, denen nicht grund­sätzlich zu trauen ist — auch eine Lehre aus „jenen zwölf Jahren“ und den vierzig Jahren danach.


Quelle: Unbesorgt.de