Die neue gewalt­tätige poli­tische Kultur der Türkei

von Burak Bekdil

  • Im Kern der Sache steht eine Kultur, die die am wenigsten gebil­deten Massen (und in der Türkei beträgt die durch­schnitt­liche Schulzeit 6,5 Jahre) ent­weder zur Kon­version des “Anderen”, oder, wenn das nicht möglich ist, zur phy­si­schen Ver­letzung des “Anderen” pro­gram­miert. Eine tiefe gesell­schaft­liche Pola­ri­sierung seit dem Amts­an­tritt der Partei für Gerech­tigkeit und Ent­wicklung (AKP) von Prä­sident Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2002 hat sich auf ein erschre­ckendes Maß ausgeweitet.
  • Nachdem der Oppo­si­ti­ons­führer Kemal Kılı­ç­da­roğlu in ein sicheres Ver­steck gebracht worden war, umzin­gelten es Mit­glieder des Mobs und riefen: “Lasst uns das Haus niederbrennen”!
  • Anscheinend ermutigt jeder unbe­strafte Fall poli­ti­scher Gewalt, der im Namen der domi­nanten Staats­ideo­logie (Isla­mismus) und ihres sakro­sankten Führers (Erdoğan) begangen wird, zum nächsten. Im Mai wurde ein Jour­nalist, der die Regierung Erdoğan und ihre natio­na­lis­ti­schen Ver­bün­deten kri­ti­siert hatte, ins Kran­kenhaus ein­ge­liefert, nachdem er vor seinem Haus ange­griffen worden war.

In den meisten zivi­li­sierten Ländern gehen die Bürger am Wahltag zur Wahlurne — ob es um Parlaments‑, Prä­si­denten- oder Kom­mu­nal­wahlen geht — um ihre Stimmen abzu­geben, nach Hause zu gehen, um Nach­richten über die Ergeb­nisse zu sehen, und am nächsten Tag zur Arbeit zu gehen, einige glücklich, andere ent­täuscht, um bis zu den nächsten Wahlen in Frieden zu leben. Nicht so in der Türkei, wo jedes poli­tische Rennen eher nach Krieg­führung als nach ein­fachem demo­kra­ti­schem Wett­bewerb aussieht.
Ein Grund dafür ist die Dominanz der Iden­ti­täts­po­litik in dem Land, das seine Wurzeln tief in den 1950er Jahren hat, als sich die Türkei zu Mehr­par­tei­en­po­litik ent­wi­ckelte. Der Kampf zwi­schen “uns” und “ihnen” läuft seither. Im Kern der Sache steht eine Kultur, die die am wenigsten gebil­deten Massen (und in der Türkei beträgt die durch­schnitt­liche Schulzeit 6,5 Jahre) ent­weder zur Kon­version des “Anderen”, oder, wenn das nicht möglich ist, zur phy­si­schen Ver­letzung des “Anderen” pro­gram­miert. Eine tiefe gesell­schaft­liche Pola­ri­sierung seit dem Amts­an­tritt der Partei für Gerech­tigkeit und Ent­wicklung (AKP) von Prä­sident Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2002 hat sich auf ein erschre­ckendes Maß ausgeweitet.
Keiner der Vor­fälle, mit denen oppo­si­tio­nelle Jour­na­listen heute kon­fron­tiert sind, ist ein Zufall. So atta­ckierte im Sep­tember 2015 eine wütende Gruppe von AKP-Fans die Redaktion von Hür­riyet, der größten Zeitung der Türkei, damals noch ein oppo­si­tio­nelles Medi­en­un­ter­nehmen. Die Menge schlug die Fenster des Gebäudes mit Stöcken und Steinen ein und sang: “Allah‑u aqbar” (“Gott ist größer!”), als wären sie in einem Reli­gi­ons­krieg. Tat­sächlich dachten sie, sie seien in einem, weil Hür­riyet damals eine säkulare Zeitung war, die Erdoğan kri­ti­sierte. Lange Zeit beob­ach­teten die Sicher­heits­kräfte die Vor­fälle mit nur einer Poli­zei­einheit. Die Menge nahm die Flagge der Doğan Gruppe (die damals Hür­riyet gehörte) her­unter und ver­brannte sie. Nach wie­der­holten For­de­rungen wurde weitere Polizei ent­sandt. Der Stell­ver­treter der AKP Istanbul und der Leiter der AKP-Jugend­ab­teilung, Abdür­rahim Boy­nu­kalın, waren in der Menge. Er kün­digte auf seinem Twitter-Account an: “Wir pro­tes­tieren vor Hür­riyet gegen falsche Nach­richten und rezi­tieren den Koran für unsere Mär­tyrer.” Es war ein Dschihad: Angriff auf eine Zeitung…
Einen Monat später war Ahmet Hakan, ein pro­mi­nenter Hür­riyet-Kolumnist und Mode­rator bei CNN-Türk, außerhalb seines Hauses. Hakan wurde von vier Männern in einem schwarzen Auto vom Fern­seh­sender nach Hause ver­folgt, bevor er in der Nähe seiner Wohnung ange­griffen wurde. Hakan wurde wegen einer gebro­chenen Nase und Rippen behandelt. Nur wenige Monate zuvor hatte Erdoğan den Besitzer von Hür­riyet als “Put­schist” beschuldigt und seine Jour­na­listen als “Schar­latane” bezeichnet.
Im Oktober 2016 ver­öf­fent­lichte die tür­kische Direktion für reli­giöse Ange­le­gen­heiten, “Diyanet”, ein Rund­schreiben zur Gründung von “Jugend­zweig­stellen”, die mit den Zehn­tau­senden von Moscheen des Landes ver­bunden sein sollen. Zunächst sollten die Jugend­zweig­stellen in 1.500 Moscheen gegründet werden. Aber nach dem neuen Plan würden 20.000 Moscheen bis 2021 und schließlich sollen 45.000 Moscheen Jugend­zweig­stellen haben, die wie “Moschee-Milizen” aus­sehen werden.
Dann ist da noch der merk­würdige Fall der Alperen Hearths, einer heftig pro-Erdoğan-ori­en­tierten Gruppe, die pan-tür­ki­schen Ras­sismus mit Isla­mismus, Neo­to­ma­nismus und Anti­se­mi­tismus ver­schmilzt. Im Jahr 2016 drohten die Alperen mit Gewalt gegen einen jähr­lichen Gay-Pride-Marsch in Istanbul. Alperens Istanbul-Chef, Kürşat Mican, sagte:

“Wir werden nicht zulassen, dass Dege­ne­rierte ihre Fan­tasien auf diesem Land ver­wirk­lichen… Wir sind nicht ver­ant­wortlich für das, was nach diesem Punkt pas­sieren wird … Wir wollen nicht, dass die Men­schen in dieser hei­ligen Stadt, die vom Blut unserer Vor­fahren getränkt ist, halb­nackt mit Alko­hol­fla­schen in ihren Händen herumlaufen.”

Das Büro des Gou­ver­neurs von Istanbul hat den Marsch später ver­boten.
Ein wei­teres Mal, 2016, pro­tes­tierten Alperen-Mit­glieder vor einer der bedeu­tendsten Syn­agogen in Istanbul, um die Sicher­heits­maß­nahmen Israels nach einem töd­lichen Angriff auf dem Tem­pelberg zu ver­ur­teilen, bei dem zwei israe­lische Poli­zisten starben. “Wenn Sie unsere Reli­gi­ons­freiheit dort [in der Jeru­sa­lemer al-Aqsa-Moschee] ver­hindern, dann werden wir Ihre Reli­gi­ons­freiheit hier [in der Neve-Shalom-Syn­agoge in Istanbul] ver­hindern”, sagte eine Erklärung der Alperen. “Unsere (paläs­ti­nen­si­schen) Brüder können dort nicht beten. Der Einsatz von Metall­de­tek­toren schi­ka­niert unsere Brüder.” Einige Alperen­ju­gend­liche traten mit den Füssen gegen die Türen der Syn­agoge, andere warfen Steine auf das Gebäude.
In jün­gerer Zeit ist es leider nicht fried­licher. Am 31. März, als die Türken zu den Wahl­urnen gingen, um ihre Bür­ger­meister zu wählen, for­derte die Gewalt an einem ein­zigen Tag sechs Men­schen­leben und ließ 115 Men­schen durch Stöcke, Messer, Schlag­stöcke und Schüsse ver­letzt zurück. Wenige Tage später stieg die Zahl der Todesopfer.
In einer spek­ta­ku­lären Gewalt­de­mons­tration lynchten Fans von Erdoğan fast Kemal Kılı­ç­da­roğlu, den Führer der wich­tigsten oppo­si­tio­nellen Repu­bli­ka­ni­schen Volks­partei (CHP). Im April ging Kılı­ç­da­roğlu in eine kleine Stadt am Rande von Ankara, um an der Beer­digung eines gefal­lenen Sol­daten teil­zu­nehmen, der bei Zusam­men­stößen mit den sepa­ra­tis­ti­schen kur­di­schen Milizen getötet worden war. Während der Beer­digung wurde er von einer natio­na­lis­ti­schen Menge ange­griffen und zu seinem Schutz in ein nahe­ge­le­genes Haus gebracht. Ein Video des Vor­falls auf Social Media zeigte einen Mob, der vor­wärts drängte und Kılı­ç­da­roğlu schlug, während er sich durch die Menge bewegte. Nachdem er in ein sicheres Haus gebracht worden war, umzin­gelten es Mit­glieder des Mobs und chan­teten: “Lasst uns das Haus nie­der­brennen!” Der Mann, der den Oppo­si­ti­ons­führer geschlagen hatte, erwies sich später als offi­zi­elles Mit­glied der AKP.
Der Angreifer, Osman Sarıgün, wurde nach einer kurzen Inhaf­tierung rasch wieder frei­ge­lassen. Am nächsten Tag war er ein Held. Scharen von Erdoğan Fans eilten zu seinem Bau­ernhaus, um seine Hände auf sizi­lia­nische “baccio la mano”-Manier zu küssen, und zollten ihm den größten Respekt vor dem phy­si­schen Angriff auf einen Oppositionsführer.
Anscheinend ermutigt jeder unge­strafte Fall poli­ti­scher Gewalt, der im Namen der domi­nanten Staats­ideo­logie (Isla­mismus) und ihres sakro­sankter Führers (Erdoğan) begangen wird, zum nächsten. Im Mai wurde ein Jour­nalist, der die Regierung Erdoğan und ihre natio­na­lis­ti­schen Ver­bün­deten kri­ti­sierte, ins Kran­kenhaus ein­ge­liefert, nachdem er außerhalb seines Hauses ange­griffen worden war. Die Zeitung Yeniçağ sagte, dass der Kolumnist Yavuz Selim Demirağ von fünf oder sechs Leuten mit Base­ball­schlägern geprügelt wurde, nachdem er in einer TV-Show auf­ge­treten war. Die Angreifer ent­kamen vom Tatort in einem Fahrzeug.
Für Göknur Damat, eine 34-jährige Schön­heits­spe­zia­listin, bei der Brust­krebs dia­gnos­ti­ziert worden war, ging alles wie durch ein Wunder gut. Im Jahr 2017 trat sie in einer Fern­seh­sendung auf und sagte weinend dem Publikum, dass ihre Ärzte sagten, sie würde nicht länger als sechs Monate leben. Sie gewann Erdoğans Sym­pa­thien (und die­je­nigen anderer Leute) und erhielt eine Ein­ladung zum Treffen mit dem Prä­si­denten, der sie danach “meine Pfle­ge­tochter” nannte. Sie war nun der Liebling aller AKP-Anhänger. Ihr Geschäft flo­rierte und, noch besser, Damat gewann auf wun­dersame Weise ihren Kampf gegen Krebs. In letzter Zeit hat sie jedoch einen Fehler gemacht. Sie spendete 20 Lire (ca. 3,50 Dollar) für den Wahl­kampf des Oppo­si­ti­ons­kan­di­daten, der für das Bür­ger­meis­teramt von Istanbul kan­di­dierte. Schlimmer noch, das Wissen um ihre Spende gelangte irgendwie an die Öffent­lichkeit, und Tau­sende von Erdoğan Fans fragten: “Wie kommt es, dass die Pfle­ge­tochter unseres Prä­si­denten für die Kam­pagne der Oppo­sition gespendet hat…” Kürzlich, als sie aus ihrem Haus kam, kam ein unbe­kannter Mann auf sie zu, fragte sie: “Bist du so tapfer?” und stach ihr mit einem Messer ins Bein. Der Angreifer wurde, wie die meisten anderen, noch nicht gefunden.
Die Türkei war nie ein Dänemark oder Nor­wegen in Sachen poli­ti­scher Reife, Toleranz und Kultur, statt­dessen nähert sie sich gefährlich dem Wesen eines ihrer Nachbarn im Süden oder Osten.


Quelle: Gatestone