Um die Dinge einordnen zu können, muss man sich zu mindest ein wenig mit der Geschichte Chinas und seinem Weltbild beschäftigen. Die Geschichte eines Landes prägt die Menschen dort. In Deutschland prägt uns vor allem die NS-Zeit und die deutsche Teilung, auch dreißig Jahre danach reden wir noch von „Ossis“ und Wessis“. Die USA sind von dem „Wilden Westen“ geprägt. Diese Vergangenheit hat dem Land eine kriegerische Tradition gegeben, es geht um „Gut und Böse“ und um das Selbstverständnis, ein überlegenes Land zu sein, „God´s own country“ eben. Das hat seinen Ursprung in den Indianerkriegen und den Kriegen gegen Mexiko, als sich die USA in allen Belangen als überlegen ansahen. Auch moralisch. Und so werden bis heute alle ihre Kriege mit der angeblich höheren Moral der USA und ihren „Werten“ begründet. Polen ist geprägt davon, dass es Jahrhunderte zwischen Deutschland und Russland aufgeteilt war und das prägt bis heute die Politik gegenüber den beiden Nachbarn. Die Briten haben noch immer nicht verwunden, kein Empire mehr zu sein. Und so weiter.
Die Geschichte prägt die Menschen eines Landes mehr, als ihnen bewusst ist. Und klar: Die Ausnahme bestätigt immer die Regel, aber die Mehrheit der Bevölkerung eines Landes ist von ihrer Geschichte geprägt, ob sie will oder nicht. Das muss man im Hinterkopf haben.
China hat eine lange Tradition darin, nicht expandieren zu wollen, China ist sich selbst seit Jahrhunderten genug, anstatt zu expandieren, hat es seine Grenzen mit einer Mauer gesichert und sich eingeigelt. China ist stolz auf seine Jahrtausende alte Kultur und man hält sich deshalb auch durchaus den anderen gegenüber für kulturell überlegen. China war mal die führende Seemacht und hätte leicht eine Kolonialmacht wie Spanien werden können, aber dann entschied ein Kaiser sich für eine Politik der Isolation. Und während Europa die Welt eroberte, war China sich selbst genug und lehnte sogar den Handel mit dem Ausland weitgehend ab. Erst die Kolonialmächte haben China im 19. Jahrhundert zu einer Öffnung gezwungen.
Für die Chinesen ist diese eine Zeit der Schande, sie waren unterlegen, die Briten haben sie in den Opiumkriegen zum Konsum von Drogen gezwungen, das Kaiserreich brach Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen, das Land versank in Chaos und Bürgerkrieg, bis Mao es mit harter und brutaler Hand einigte und China ab den 1980er Jahren wieder begann, zu alter Blüte zurückzufinden. Heute ist China wieder eine Weltmacht und das entspricht auch dem chinesischen Selbstbild.
Aber China hat keine Tradition, anderen seinen Willen aufzuzwingen, Länder als Kolonien zu unterjochen oder seine Kultur zu exportieren. China ist nach außen nie aggressiv gewesen, China hat in den letzten Jahrhunderten niemanden angegriffen, seine Kriege waren defensiv, als die Briten die Isolation gewaltsam brachen oder als Japan China als Kolonie unterjochen wollte.
Und das ist bis heute so. Vor zwei Wochen hat China sein neues Weißbuch für das Militär vorgestellt und da spiegelt sich dieses Selbstbild wider. China setzt auf Partnerschaft statt Vormundschaft, auf eine multipolare Welt gleichberechtigter Partner anstatt auf Hegemonie:
„China verpflichtet sich, mit allen Ländern freundschaftliche Zusammenarbeit auf der Grundlage der fünf Prinzipien des friedlichen Zusammenlebens zu entwickeln. Es respektiert das Recht aller Völker, ihren eigenen Entwicklungsweg eigenständig zu wählen, und steht für die Beilegung internationaler Streitigkeiten durch gleichberechtigten Dialog, Verhandlung und Konsultation. China ist gegen die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, den Missbrauch der Schwachen durch die Starken und jeden Versuch, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. China befürwortet Partnerschaften statt Allianzen und tritt keinem Militärblock bei.“
Auch expansionistischen Kriegen erteilt China aufgrund seiner Geschichte eine klare Absage:
„Obwohl ein Land stark werden kann, wird Kriegslust zu seinem Verderben führen. Die chinesische Nation hat den Frieden immer geliebt. Seit dem Beginn der modernen Zeit hat das chinesische Volk unter Aggressionen und Kriege gelitten und den Wert von Frieden und das dringende Bedürfnis nach Entwicklung gelernt. Daher wird China niemals solche Leiden irgendeinem anderen Land zufügen.“
Nur in einer Frage versteht China keinen Spaß, das ist die nationale Einheit:
„China ist fest entschlossen und hat die Fähigkeit, die nationale Souveränität und territoriale Integrität zu verteidigen und wird nie die Sezession eines Teils seiner Territorien durch irgendjemand, durch irgendeine Organisation oder politische Partei … erlauben. Wir versprechen (in diesem Zusammenhang) nicht, den Einsatz von Gewalt auszuschließen, und behalten uns die Option vor, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen.“
Und das betrifft auch Taiwan, eine chinesische Insel, die sich als eigenständiger Staat versteht. China hat immer das Ziel vor Augen, sich mit dieser Insel wieder zu vereinigen, wobei es das in den letzten 70 Jahren nicht mit Krieg versucht hat, obwohl es Gelegenheiten gegeben hätte.
Und genau hier beginnen die Probleme. Die USA haben zwar aus Rücksicht auf Peking keine diplomatischen Beziehungen zu Taiwan, sind aber mit Taiwan eng verbunden und liefern Waffen. Das ist aus Sicht Chinas ein Stachel im eigenen Fleisch.
Man muss diese Sicht nicht teilen, aber es ist wichtig, das zu verstehen.
China setzt trotzdem auf Frieden und hat niemandem mit Krieg gedroht. Natürlich gibt es Konflikte, wenn China im chinesischen Meer Inseln aufschüttet und sie zum eigenen Staatsgebiet erklärt, um sich die dortigen Bodenschätze zu sichern. Das verärgert die Nachbarn, aber es ist keine Aggression gegen irgendwen. Sportlich betrachtet könnte man sagen, dass China eben schneller war, als seine Konkurrenten, die es auch auf diese Vorkommen abgesehen haben.
Natürlich haben die westlichen Politiker und Medien darauf eine andere Sicht. Der Spiegel titelte zum chinesischen Weißbuch „Chinas Militärstrategie – Inszenierte Friedfertigkeit“ und schrieb dazu:
„So wirft China den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten vor, mit ihrem militärischen Vorgehen für zunehmende Unsicherheiten in Asien zu sorgen. „Die chinesische Führung will den Spieß umdrehen und gibt die USA als Aggressor aus, der das globale Gefüge durcheinander bringt“, sagt Legarda. Die USA würden gezielt ihre „Militärallianzen im asiatisch-pazifischen Raum stärken“ und die Präsenz ihrer Streitkräfte ausweiten, heißt es im Weißbuch. Dadurch werde die Sicherheitslage „komplexer“.“
Nur warum will China angeblich „den Spieß umdrehen„? Was stimmt an der chinesischen Aussage nicht? Es sind die USA, die sich in dem Raum immer breiter aufstellen, es ist ja nicht China, das seine Präsenz in Mexiko oder der Karibik erhöht. Und es sind die USA, die mit Taiwan gerade erst einen Milliarden-Deal über Waffenlieferungen geschlossen haben und nicht etwa China, das Mexiko aufrüstet.
Der Westen – und diese Linie verfolgen die Medien kritiklos – nimmt sich das Recht heraus, in jeder Region der Welt die Regeln bestimmen zu wollen und ist ganz verwundert, wenn jemandem das nicht gefällt. Es ist keine drei Wochen her, als FDP-Chef Lindner bei einem China-Besuch seine Grenzen aufgezeigt bekam und die Entrüstung war groß.
Aber würde der Westen sich derartige Einmischungen vor seiner Haustür gefallen lassen?
Natürlich nicht.
In den Medien lesen wir immer, egal, ob es um den Persischen Golf oder um Taiwan oder andere Regionen geht, dass die freie Schifffahrt nicht bedroht werden darf. Und der Westen schickt dafür auch gerne gleich Flottenverbände in jede Region der Welt, ganz in der alten britischen Tradition der Kanonenboot-Politik und nennt das dann „Deeskalation“.
Aber für den Westen ist die freie Schifffahrt nur dann wichtig, wenn sie seine Schiffe betrifft weit weg stattfindet, sie gilt nicht für andere und nicht vor westlichen Gewässern.
So schicken die USA immer wieder demonstrativ Kriegsschiffe durch die Straße von Taiwan und begründen das mit der Freiheit der Schifffahrt. Für Chinas Entrüstung gibt es in den westlichen Medien kein Verständnis, im Gegenteil. Über den letzten derartigen Fall Ende Juli schrieb die „Zeit“:
„Die USA haben ein Kriegsschiff in die Straße von Taiwan geschickt. „Der Transit durch die Taiwan-Straße zeigt das Engagement der USA für einen freien und offenen Indopazifik“, sagte ein Sprecher der siebten Flotte der US-Marine in Washington. „Die U.S. Navy wird weiterhin fliegen, segeln und operieren, wo immer es das internationale Recht erlaubt.“
Aber setzt sich der Westen auch so für die freie Schifffahrt ein, wenn es vor seiner eigenen Haustür passiert?
Die Antwort finden wir schnell. Auf dem Weg vom Mittelmeer in die Ostsee müssen russische Schiffe immer wieder durch den Ärmelkanal. Aber das sehen die Briten als Provokation, wie wir zum Beispiel in der „Welt“ ausführlich lesen konnten:
„Eine Fregatte der britischen Marine hat mehrere russische Kriegsschiffe vor der britischen Küste abgefangen und durch den Ärmelkanal eskortiert. Die „HMS Westminster“ habe die russischen Fregatten „RFS Soobrazitelnyy“ und „RFS Boikiy“ sowie zwei Unterstützungsschiffe entlang der englischen Südküste begleitet, teilte das britische Verteidigungsministerium am Montag mit. (…) In einer ungewöhnlich deutlichen Erklärung hatte Verteidigungsminister Gavin Williamson daraufhin erklärt, er werde nicht zögern, „unsere Gewässer zu verteidigen“, und keine Form von Aggression dulden. Großbritannien lasse sich nicht einschüchtern, wenn es darum gehe, „unser Land, unser Volk und unsere nationalen Interessen zu verteidigen“.“
Vor der eigenen Haustür ist die freie Schifffahrt dem Westen lange nicht so heilig, wie vor den Haustüren anderer. Um es mit dem Titel des Spiegel-Artikels zu sagen: Wer inszeniert hier seine Friedfertigkeit?
Und das ist nicht alles. Die USA haben den INF-Vertrag gekündigt und seit dem 2. August dürfen sie wieder landgestützte Kurz- und Mittelstreckenraketen aufstellen. Was wir in Europa mit Sorge verfolgen, gefällt auch China nicht, denn die USA haben – im Gegensatz zur Situation in Europa – bereits angekündigt, solche Raketen in Asien aufstellen zu wollen, also in Japan und Südkorea. Das ist eine direkte Aggression gegen China. Und wieder: Es ist ja nicht China, dass solche atomwaffenfähigen Raketen in der Karibik oder Mexiko vor der Tür der USA aufstellt.
Der Spiegel schrieb dazu:
„Keine US-Raketen „auf Chinas Türschwelle“: Peking hat mit Drohungen auf US-Pläne reagiert, Mittelstreckenraketen in Asien zu installieren. US-Verteidigungsminister Mark Esper hatte am Samstag angekündigt, schon bald bodengestützte Raketen stationieren zu wollen, die Ziele in bis zu 5000 Kilometer Entfernung erreichen können. (…) Die USA wiederum haben ihre Militärpräsenz in Asien in den vergangenen Jahren stark ausgebaut, um ein Gegengewicht zum erstarkenden China zu bilden. In dem Zusammenhang stehen auch die aktuellen Raketenpläne der Trump-Regierung.“
Auch hier also wieder: China hat mit den Äußerungen in seinem Weißbuch objektiv gesehen recht. Die USA bauen ihre Militärpräsenz vor Chinas Haustür stark aus. Was ist dann der Aussage im chinesischen Weißbuch, die USA würden in der Region „für zusätzliche Unsicherheit sorgen„, falsch?
Und der Spiegel schreibt außerdem:
„Wie China genau reagieren will, sagte Fu nicht. Es seien aber „alle Optionen auf dem Tisch.“
Aber eine wichtige Aussage lässt er weg, denn Fu sagte dann auch:
„Die Amerikaner, die Bürger des Landes, die die Kuba-Krise miterlebt haben, müssen die chinesischen Gefühle verstehen, wenn es darum geht, dass solche amerikanischen Raketen vor Chinas Türschwelle aufgestellt werden.“
Und da hat er nicht unrecht. In allen Geschichtsbüchern und Dokus wird uns erzählt, dass die Aufstellung von sowjetischen Atomraketen vor der Haustür der USA für Kennedy inakzeptabel waren und für die USA bis heute inakzeptabel sind. Aber mit welchem Recht stellen die USA dann solche Raketen an den Grenzen Russlands und Chinas auf?
Im Spiegel konnte man weiter lesen:
„Außerdem sagte er, Peking habe keinerlei Interesse an Verhandlungen, dafür seien die eigenen atomaren Bestände und die Reichweiten zu gering. Es sei „weder vernünftig noch fair“ von China zu erwarten, sich an Abrüstungsgesprächen zu beteiligen.“
Das klingt böse: China will nicht verhandeln!
Dabei hat China recht und das auch in seinem Weißbuch geschrieben:
„China bekennt sich immer zu einer Atomwaffenpolitik, der zufolge bedingungslos zu keinem Zeitpunkt und unter keinen Umständen Atomwaffen zuerst zum Einsatz kommen und keine Atomwaffen gegen Nichtatomwaffenstaaten oder atomwaffenfreie Zonen eingesetzt werden oder damit gedroht wird. (…) China führt mit keinem anderen Land einen nuklearen Rüstungskampf durch und hält seine nuklearen Fähigkeiten auf dem für die nationale Sicherheit erforderlichen Mindestmaß.“
Und das stimmt ganz objektiv. Die USA und Russland haben jeweils über 6.000 Atomwaffen, China keine 300.
Wenn die USA mit China über atomare Abrüstung sprechen wollen, dann sollten die USA erst einmal auf das chinesische Niveau abrüsten. Russland wäre wahrscheinlich sogar bereit, mitzumachen. China hätte ja die Möglichkeiten, sein Arsenal auf die Größe des russischen oder amerikanischen aufzurüsten, hat das aber nie getan oder auch nur versucht. China hat genug Atomwaffen, um die USA abzuschrecken, mehr will es gar nicht haben. Worüber also verhandeln, solange die USA den Chinesen um mehr als das 20-fache überlegen sind?
Nun wird man abwarten müssen, ob Japan oder Südkorea überhaupt bereit sind, solche US-Waffen bei sich zu erlauben. Denn es ist klar, dass sie damit zum Ziel chinesischer und russischer Atomwaffen werden und das ist kein wünschenswertes Szenario. In einer ersten Reaktion hat Südkorea mitgeteilt, es gäbe keine Gespräche über die Stationierung solcher US-Raketen und es sein auch nicht geplant.
Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Osteuropa in verschiedenen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet, bevor er sich entschloss, sich als unabhängiger Unternehmensberater in seiner Wahlheimat St. Petersburg niederzulassen. Er lebt insgesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite www.anti-spiegel.ru. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vladimir Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?“
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