Wie Nega­tiv­zinsen unsere Wirt­schaft zer­stören – eine Erklärung des Zinsphänomens

Jeder kennt ihn, alle sprechen über ihn: den Zins. Was aber ist eigentlich der Zins? Die Zins­theorie ist in der Volks­wirt­schafts­lehre ein Zank­apfel. Es gibt eine ganze Reihe mit­ein­ander kon­kur­rie­render, sich teil­weise wider­spre­chender Zins­theorien: die Pro­duk­ti­vi­täts­theorie des Zinses, die Abs­ti­nenz­theorie des Zinses, die Aus­beu­tungs­theorie des Zinses, die Liqui­di­täts­theorie des Zinses, die Zeit­prä­fe­renz­theorie des Zinses und andere mehr.
(von Thorsten Polleit)
Die Frage nach der „rich­tigen Zins­theorie“ – die mal weniger, mal mehr Interesse auf sich zieht – hat in jüngster Zeit wieder besonders große Auf­merk­samkeit gefunden. Denn einige Öko­nomen behaupten nun, der „neue natür­liche Zins“ sei negativ. Sie sagen, es werde weltweit zu viel gespart im Ver­gleich zu den Inves­ti­ti­ons­vor­haben – auch wegen der Über­al­terung der Bevöl­kerung –, und das ließe den gleich­ge­wich­tigen Zins unter die Null­linie fallen.

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Weil aber die Markt­zinsen nicht von allein, gewis­ser­maßen aus „freien Stücken“, unter die Null­linie fallen (können), müssten die Zen­tral­banken nach­helfen: Sie sollen, so die Emp­fehlung der Öko­nomen, die Markt­zinsen unter die Null­linie und auf den neuen gleich­ge­wich­tigen Nega­tivzins drücken (durch Zins­sen­kungen und/oder Auf­käufe von Schuld­pa­pieren der Staaten) und dadurch Wachstum und Beschäf­tigung befördern.
Doch halt: Ein Marktzins, der sich durch das frei­willige Angebot der Sparer und die frei­willige Nach­frage der Inves­toren bildet, soll nicht in der Lage sein, ein volks­wirt­schaftlich gewünschtes Ergebnis, ein Gleich­ge­wicht, her­vor­zu­bringen? Das ist aber merk­würdig! Doch wir wollen die Markt­skepsis, die die Nega­tivzins-Befür­worter durch die „Hin­tertür“ pro­pa­gieren, an dieser Stelle nicht weiter thematisieren.
Es soll darum gehen, den Zins zu erklären. Der Zins wird voll und ganz ver­ständlich, wenn man auf erkennt­nis­theo­re­tische Ein­sichten zurück­greift. Dazu zählen logische Denk­ge­setze wie zum Bei­spiel „Eine Aussage kann nicht wahr und falsch zugleich sein“. Im Bereich des mensch­lichen Han­delns gehören zu den logisch unbe­streit­baren Erkennt­nissen die Zeit­prä­ferenz und der Urzins; Immanuel Kant (1724–1804), der Kri­tiker der reinen Ver­nunft, würde sie ver­mutlich als Bedin­gungen der Mög­lichkeit objek­tiver Erfahrung bezeichnen.
Die Logik des mensch­lichen Handelns
Die Erklärung des Zinses beginnt mit der nicht wider­leg­baren Aussage „Der Mensch handelt.“ Wer sagt, der Mensch handelt nicht, der handelt und wider­spricht damit dem Gesagten. Aus der Logik des mensch­lichen Han­delns lassen sich nun eine ganze Reihe wei­terer wahrer (logisch wider­spruchs­freier) Aus­sagen ableiten. Bei­spiels­weise dass das Handeln stets ziel­be­zogen ist; auch das lässt sich nicht wider­spruchsfrei verneinen.
Und weiter: Wer handelt, der muss Mittel ein­setzen, um seine Ziele zu erreichen, und Mittel sind stets knapp. Zeit ist ein unver­zicht­bares Mittel; denn zeit­loses Handeln lässt sich nicht wider­spruchsfrei denken. Weil Handeln nun aber not­wen­di­ger­weise Knappheit impli­ziert, wertet der Han­delnde not­wen­di­ger­weise einen grö­ßeren Güter­vorrat (mehr Mittel) höher als einen klei­neren Güter­vorrat (weniger Mittel).
Und weil Zeit ein knappes Mittel ist, zieht der Han­delnde eine frühere Ziel­er­rei­chung einer spä­teren Ziel­er­rei­chung vor. Genau darin kommt nun die Zeit­prä­ferenz zum Aus­druck, und ihre Mani­fes­tation ist der Urzins. Er steht für den Wert­ab­schlag, den die spätere Erfüllung der Bedürf­nisse gegenüber der frü­heren Erfüllung der Bedürf­nisse (von gleicher Art und Güter und unter gleichen Bedin­gungen) erleidet.
Zeit­prä­ferenz und ihre Mani­fes­tation, der Urzins, stecken gewis­ser­maßen in jedem han­delnden Men­schen, in jedem Indi­viduum. Sie und ich, wir alle haben eine positive Zeit­prä­ferenz und folglich auch einen posi­tiven Urzins. Logi­scher­weise immer und überall. Im freien Markt bildet sich durch das Angebot von und die Nach­frage nach Erspar­nissen ein „sozialer Urzins“ (manche nennen ihn auch „neu­traler Zins“) – der eben­falls immer und überall positiv ist.
Zeit­prä­ferenz und Urzins sind von Mensch zu Mensch unter­schiedlich, und sie können sich auch im Zeit­ablauf ver­ändern; sie können sich zum Bei­spiel in Richtung der Null­linie bewegen. Aber Zeit­prä­ferenz und Urzins können niemals null oder negativ werden; sie lassen sich aus dem Werten und Handeln der Mensch nicht wegdenken.
Wird zum Bei­spiel das Gegen­wartsgut hoch bewertet relativ zum Zukunftsgut, sind Zeit­prä­ferenz und Urzins hoch; und sind Zeit­prä­ferenz und Urzins niedrig, wird das Gegen­wartsgut relativ zum Zukunftsgut niedrig bewertet. Mit anderen Worten: Zeit­prä­ferenz und Urzins stehen für das Wert­ver­hältnis, das die Han­delnden Gegen­warts­gütern relativ zu Zukunfts­gütern (gleicher Art und Güte) zuweisen.
Der Urzins ist nicht etwa das, was den Han­delnden zum Sparen und Kon­su­mieren antreibt; er ist nicht die Ursache des Sparens. Vielmehr ist der Urzins Aus­druck der Tat­sache, dass die Han­delnden der gegen­wär­tigen und künf­tigen Bedürf­nis­er­füllung eine unter­schied­liche Rang­stellung geben, sie unter­schiedlich bewerten. Vor dem Hin­ter­grund des Gesagten lassen sich die fol­genden grund­sätzlich Aus­sagen ableiten:
  • Ein posi­tiver (nicht unendlich) hoher Urzins bedeutet, dass aus dem Ein­kommen ein Teil kon­su­miert und ein Teil gespart (also inves­tiert bezie­hungs­weise pro­du­ziert) wird.
  • Ein Urzins von null bedeutet, dass das gesamte Ein­kommen gespart wird, dass nichts kon­su­miert, sondern alles inves­tiert wird; dass also heute nicht kon­su­miert wird, morgen nicht und über­morgen nicht und auch nicht in einem Monat oder zehn Jahren. Das klingt nicht nur absurd, das ist es auch, weil es das Handeln unter Knappheit ver­neint
  • Die Idee, es gäbe gar keinen Urzins, ist eben­falls unver­einbar mit dem logi­schen Men­schen­ver­stand: Sie ist gleich­be­deutend mit der Aussage, dass der Mensch nicht handelt; das aber ist logisch falsch, denn der Mensch kann nicht nicht handeln.
  • Und das Gleiche gilt auch für die Idee eines nega­tiven Urzinses; ein nega­tiver Urzins lässt sich eben­falls mit dem logi­schen Men­schen­ver­stand gar nicht sinnvoll ver­stehen. 

Inter­tem­po­rales Tau­schen mit Waren
Die Nega­tivzins-Theo­re­tiker führen viele Bei­spiele an, die zeigen sollen, dass Zeit­prä­ferenz und Urzins auch negativ sein können: „Ich bevorzuge den Verzehr des Apfels morgen und nicht heute“, oder: „Die Ren­diten für 10-jährige Anleihen sind negativ, und das zeigt ja wohl, dass der soziale Urzins auch negativ sein kann!“ Im Fol­genden soll erklärt werden, dass diese (und andere) Bei­spiele nicht über­zeugen können.
Um das zu erklären, sei auf die Arbeiten des US-Öko­nomen Frank A. Fetter (1863–1949) ver­wiesen. Er hat in seiner Inter­pre­tation der Zeit­prä­fe­renz­theorie den Zins gedanklich in zwei Kom­po­nenten zerlegt: (1) in den Urzins (die „reine Zeit­prä­fe­renzrate“) und (2) in einen (Bewertungs-)Faktor, der die beson­deren Umstände zum Zeit­punkt der Ver­wendung des betref­fenden Gutes berücksichtigt.
Warum ist diese „Zer­legung“ des Zins­phä­nomens wichtig? Sie ist deshalb wichtig, weil es einen kate­go­ri­schen Unter­schied macht, ob beim inter­tem­po­ralen Tausch Sach­güter oder Geld getauscht werden.
Betrachten wir zunächst den inter­tem­po­ralen Tausch von Sach­gütern: Das Gegen­wartsgut wird gegen das Zukunftsgut getauscht. Ein posi­tiver Urzins bedeutet hier, dass der Han­delnde bereit ist, eine geringere Menge eines Gegen­warts­gutes gegen eine größere Menge des Zukunftsguts zu tau­schen: Ich bin bereit, heute auf 95 Äpfel zu ver­zichten, wenn ich dafür in einem Jahr 100 Äpfel (gleicher Art und Güte) erhalte.
Diesem Fall werden ver­mutlich alle zustimmen; er ist der „plau­sible Nor­malfall“. Wie aber ist der fol­gende Fall zu behandeln? Er lautet: Ich bin bereit, 110 Äpfel heute gegen 100 Äpfel in einem Jahr ein­zu­tau­schen. Der Grund: In einem Jahr feiere ich meinen 50. Geburtstag, und an diesem Tag, und nicht heute, bevorzuge ich es, mit meinen gela­denen Gästen 100 Äpfel zu ver­speisen. Sind Zeit­prä­ferenz und Urzins für mich negativ? Die Antwort lautet nein.
Neben meinem (immer und überall posi­tiven Urzins) ist in diesem Bei­spiel ein zweites Bewer­tungs­element zu berück­sich­tigen: und zwar die beson­deren Umstände, unter denen das künftige Handeln im Ver­gleich zu den gegen­wärtig vor­herr­schenden Umständen stattfindet.
Die Umstände, die in einem Jahr zum Zeit­punkt des Han­delns vor­herr­schen, haben für mich einen Wert, in diesem Bei­spiel beziffert er sich auf 10 Äpfel. Mein posi­tiver Urzins zeigt sich darin, dass ich heute auf 95 Äpfel ver­zichte im Tausch gegen 100 Äpfel in 1 Jahr. Und dafür, dass ich in einem Jahr – zu einem für mich ganz besonders wich­tigen Zeit­punkt – mit meinen Gästen 100 Äpfel kon­su­mieren kann, bin ich bereit, heute auf 110 Äpfel zu verzichten.
Mein Urzins ist und bleibt dabei stets positiv: Er kommt in den 5 Äpfeln zum Aus­druck, die ich ver­lange, damit ich heute auf 95 Äpfel ver­zichte im Tausch gegen 100 Äpfel in einem Jahr. Und die beson­deren Umstände, unter denen künftig gehandelt wird – der Verzehr von 100 Äpfeln mit Gästen auf meiner Feier in einem Jahr –, sind mir den Ver­zicht auf 10 Äpfel wert. Soweit so gut. Ändert sich etwas in einer Geld­wirt­schaft?
Inter­tem­po­rales Tau­schen mit Geld 
In einer Geld­wirt­schaft wird Geld als das all­gemein akzep­tierte Tausch­mittel ver­wendet: Waren und Dienste werden durch Ver­mittlung, durch Zwi­schen­schaltung des indi­rekten Tausch­mittels, des Geldes, abge­wi­ckelt. Das gilt sowohl für Tauschakte, die in der Gegenwart abge­wi­ckelt werden, als auch für inter­tem­po­rales Tau­schen – wie zum Bei­spiel der Tausch von 1 Euro heute gegen 1,05 Euro in einem Jahr.
Frage: Würden Sie 1 Euro, über den Sie heute ver­fügen, geringer bewerten als 0,95 Euro, die Sie erst in einem Jahr erhalten, würden Sie 1 Euro heute gegen 0,95 Euro in einem Jahr ein­tau­schen? Ver­mutlich nicht. Denn Sie werden mehr Geld haben, wenn Sie diesen Tausch nicht machen. Und nicht nur Sie, sondern auch viele andere werden ver­mutlich diesen Tausch aus­schlagen – weil Sie und alle anderen einen posi­tiven Urzins haben. Das mag plau­sibel klingen, ist aber ver­mutlich noch kein über­zeu­gender Beweis.
Kann es nicht doch den Fall geben, in dem 1 US-Dollar in einem Jahr höher wert­ge­schätzt wird als 1 US-Dollar heute? Die Antwort ist nein. Der Grund: Der Urzins ist immer und überall positiv. Und anders als bei allen anderen Waren und Diensten – das ist ganz wichtig zu ver­stehen – spielen beim Geld die beson­deren Umstände, die zum Zeit­punkt seiner Ver­wendung herr­schen, keine Rolle für den Nutzen bezie­hungs­weise den Wert einer Geld­einheit heute im Ver­gleich zum Wert einer Geld­einheit in der Zukunft.
Für den per­sön­lichen Nutzen, den der Verzehr eines Apfels mir stiftet, können die beson­deren Umstände, die zum Zeit­punkt des Ver­zehrs herr­schenden, sehr wohl bedeutsam sein: Der Verzehr des Apfels am 6. Sep­tember 2020 mag für mich genuss­voller sein als der Verzehr des Apfels heute, und aus eben diesem Grunde bin ich bereit, zum Bei­spiel 2 Äpfel heute gegen 1 Apfel in einem Jahr ein­zu­tau­schen. (Wie vor­an­stehend gezeigt, heißt das aber nicht, dass meine Zeit­prä­ferenz und mein Urzins negativ wären!) Anders stehen die Dinge beim Geld.
Die beson­deren Umstände, die den Nutzen der Güter im inter­tem­po­ralen Tausch beein­flussen, haben für den Nutzen des Geldes (anders als bei allen anderen Gütern) keine Bedeutung. Um das zu ver­stehen, mache man sich zunächst klar, dass das Geld nur eine Funktion hat: die Tausch­mit­tel­funktion. Geld ist weder Pro­duk­tions- noch Kon­sumgut, es ist ein Gut eigener Art, es ist das Tauschgut.
Die Tausch­funktion ist die einzige Funktion des Geld; Rechen­ein­heits- und Wertauf­be­wah­rungs­funktion des Geldes sind keine eigen­stän­digen Funk­tionen, sie sind nur Aus­druck (oder auch: Unter­funk­tionen) der Tausch­mit­tel­funktion des Geldes. Der Nutzen des Geldes besteht also allein darin, als Tausch­mittel zu dienen.
Als Tausch­mittel ist Geld die all­ge­meine Bezugs­einheit (der numé­raire), das heißt, die Tausch­re­lation der Güter wird in Geld­ein­heiten aus­ge­drückt (1 Birne lässt sich ein­tau­schen gegen 1,5 Euro). Und nur weil jede ein­zelne Geld­einheit wert­gleich mit jeder anderen ist (Frank A. Fetter spricht von „value-equi­va­lence“), kann Geld über­haupt als all­ge­meine Bezugs­einheit dienen und einen Ver­gleich zwi­schen den Werten ver­schie­dener Güter (aus­ge­drückt in Geld­ein­heiten, also Geld­preisen) möglich machen; das gilt für Tauschakte in der Gegenwart wie auch für Tauschakte, die sich von der Gegenwart in die Zukunft erstrecken.
Wenn von beson­deren Umständen gesprochen wird, so sind damit die unter­schied­lichen Umstände gemeint, die zu unter­schied­lichen Zeit­punkten, an dem gehandelt wird, vor­herr­schen, und die der Wert­gleichheit von (Sach-)Gütern zu unter­schied­lichen Zeit­punkten ent­ge­gen­stehen können. Die aber betreffen nicht das Geld, weil jede Geld­einheit heute und morgen und über­morgen in gleicher Weise als Tausch­mittel dient; der Nutzen einer Geld­einheit, als Tausch­mittel zu dienen, ist unab­hängig davon, zu welchem Zeit­punkt sie als Tausch­mittel dient.
Weil also jede Geld­einheit für das Tau­schen glei­cher­maßen dienlich ist, wird 1 Euro heute höher bewertet als 1 Euro, der erst in 1 Jahr ver­fügbar ist: Wegen des immer und überall posi­tiven Urzinses erleidet der 1 Euro in einem Jahr einen Wert­ab­schlag gegenüber 1 Euro heute; aus diesem (hand­lungs­lo­gi­schen) Grund wird ein grö­ßerer Geld­betrag heute (sagen wir 110 Euro) immer höher bewertet als ein klei­nerer Geld­betrag (sagen wir 100 Euro) in der Zukunft.
Übrigens: Werden Sach­güter inter­tem­poral getauscht, gibt es viele ein­zelne Tausch­re­la­tionen (wie zum Bei­spiel 1 Birne heute gegen 1,5 Birnen in 1 Jahr; oder 1 Auto heute gegen 2 Autos in 2 Jahren), aber keinen ein­heit­lichen Marktzins. Erst die Ver­wendung von Geld im inter­tem­po­ralen Tausch bringt das Phä­nomen eines ein­heit­lichen Markt­zinses über­haupt hervor. Ohne Geld gäbe es das Phä­nomen des ein­heit­lichen Markt­zinses gar nicht.
Einige Illus­tra­tionen 
Was das Gesagte für den Marktzins bedeutet, soll nun ver­deut­licht werden. – Nehmen wir an, Ihr Urzins beträgt 2% p.a., und es gäbe keine Kauf­kraft­ver­än­de­rungen des Geldes und keine Kre­dit­aus­fall­ri­siken. Sie werden folglich Ihren Euro nur dann ver­leihen, wenn sie mehr als 2% Rendite geboten bekommen. Ihr Urzins mar­kiert Ihre Zins­un­ter­grenze. Ein Kre­dit­ge­schäft kommt erst zustande, wenn jemand bereit ist, Ihnen mehr als 2% zu zahlen (weil er zum Bei­spiel erwartet, mit 1 Euro eine Rendite von mehr als 2% erzielen zu können).
Nehmen wir weiter an, Ihr Urzins beträgt 2% p.a., und Sie erwarten, dass die Güter­preise in den kom­menden zwölf Monaten um, sagen wir, 3% fallen. Das heißt, wenn Sie Geld halten, beträgt Ihr Kauf­kraftgewinn am Ende der zwölf Monate 3,09% (siehe hierzu die Tabelle). Wenn Ihnen nun ein Wert­papier ange­boten wird, das eine Rendite von, sagen wir, minus 1% hat: Würden Sie es erwerben?

Wenn Sie das Wert­papier kaufen, bekommen Sie nach einem Jahr 0,99 Euro zurück, der nominale Verlust daraus beträgt also 1%. Gleich­zeitig ver­zeichnen Sie jedoch einen Kauf­kraft­gewinn von 3,09%. Ins­gesamt beläuft sich Ihr Gewinn auf 2%. Es ist also für Sie vor­teil­hafter, das Geld nicht zu ver­leihen, sondern in der Kasse zu halten – denn dadurch erzielen Sie einen Kauf­kraft­gewinn von 3,09%. Lange Rede, kurzer Sinn:
Weil der Urzins immer und überall positiv ist, fällt der nominale Marktzins in einem freien Markt nicht auf oder unter die Null­linie: Ein nomi­naler Marktzins von null oder unter null kommt in einem freien Markt nicht zustande, weil die Han­delnden einen posi­tiven Urzins haben, sie eine gegen­wärtig ver­fügbare Geld­einheit höher wert­schätzen als eine künftig ver­fügbare Geld­einheit. Was aber, wenn der Markt nicht frei, sondern gehemmt ist? 
Zins­ma­ni­pu­lation
In einem gehemmten Markt kann die Zen­tralbank die nomi­nalen Markt­zinsen in den Nega­tiv­be­reich befördern – indem sie die Leit­zinsen unter die Null­linie senkt oder Anleihen zu einem Preis auf­kauft, der höher ist als die Summe der Zins- und Til­gungs­zah­lungen der Anleihen. Das heißt aber nicht, dass dadurch ein gleich­ge­wich­tiger Marktzins her­vor­ge­bracht würde. Im Gegenteil: Solch ein Nega­tivzins ver­ur­sacht not­wen­di­ger­weise ein Ungleich­ge­wicht.
Die Schäden, die ein Nega­tivzins anrichtet, sind viel­fältig: Sparen wird ent­mutigt, Konsum gefördert, die Zukunft wird gewis­ser­maßen heute ver­früh­stückt; das Wirt­schaften auf Pump wird for­ciert; Unter­nehmen werden zu Fehl­in­ves­ti­tionen ver­leitet; poli­tische Reformen werden ent­mutigt; das Geld­ver­mögen wird ent­wertet, die Alters­vor­sorge zer­stört. Die EZB hat mit ihrer Geld­po­litik bereits dafür gesorgt, dass viele Markt­zinsen unter die Null­linie gefallen sind. Und es ist zu ver­muten, dass sie ihre Nega­tiv­zins­po­litik noch weiter ver­schärfen wird.

Ist es denkbar, dass auch Konsum‑, Hausbau- und Unter­neh­mens­kredite mit einem Nega­tivzins ange­boten werden? Ja das ist es. Um zu ver­deut­lichen, wie das geschehen kann, nehmen wir an, die Euro-Banken bekommen Kredit bei der EZB für minus 2 % pro Jahr: Sie leihen sich 100 Euro und zahlen nach einem Jahr 98 Euro zurück. So erzielen die Banken mühelos einen Gewinn von 2 Euro. Die EZB wird aber Kredite zu Minus­zinsen nur unter der Bedingung ver­geben, dass die Banken das Geld weiterverleihen.
Um in unserem Bei­spiel zu bleiben: Die Bank beschafft sich 100 Euro für 1 Jahr zu minus 2 % pro Jahr bei der EZB. Sie ver­leiht das Geld an Kon­su­menten zu einem Zins von, sagen wir, minus 1 Prozent (sie ver­leiht also 100 Euro und erhält nach einem Jahr 99 Euro zurück). Ins­gesamt gesehen macht die Bank einen Gewinn von 1 Euro: Sie ver­dient durch die Kre­dit­auf­nahme bei der EZB 2 Euro, not­ge­drungen ver­liert sie im Kre­dit­ge­schäft 1 Euro. Für den Wohl­stand der Volks­wirt­schaften bedeutet das nichts Gutes.
Wenn Banken Kredite mit einem Nega­tivzins anbieten, wird die Kre­dit­nach­frage ver­mutlich durch die Decke schießen: Bei einem Zins von, sagen wird, minus 1 Prozent kann man sich 100 Euro leihen, sie im ein­fachsten Fall auf dem Konto liegen lassen, und nach einem Jahr zahlt man 99 Euro zurück. Wer möchte an diesem Berei­che­rungs­spiel nicht gern teil­haben? Damit also die Kredit- und Geld­schöpfung nicht aus dem Ruder läuft und den Wäh­rungswert unkon­trol­liert her­ab­setzt, werden die Zen­tralbank-Räte zu einer Kre­dit­ra­tio­nierung greifen müssen: Sie legen vorab fest, wie groß die Kre­dit­menge sein soll und teilen sie dann zu.
Nach welchen Kri­terien aber sollen die neuen Kredite aus­ge­geben werden? Sollen alle den gleichen Anteil erhalten? Oder sollen beschäf­ti­gungs­in­tensive Branchen bevorzugt werden? Oder sollen nur Zukunfts­branchen an die neuen Kredite kommen? Soll der Süden Europas mehr als der Norden bekommen? Die EZB ist die Instanz, die verfügt, wer wann wieviel Kredit erhält. Und damit bestimmt sie ganz maß­geblich, welche Indus­trien gefördert oder zurück­ge­drängt werden; welche Volks­wirt­schaften stärker und welche schwächer wachsen dürfen; welche Banken über­leben dürfen und welche nicht. Mehr denn je befindet die EZB über die Geschicke der Volks­wirt­schaften. Will­kommen in der Planwirtschaft!
Die EZB steht dabei, wie jede plan­wirt­schaft­liche Insti­tution, vor einer unlös­baren Aufgabe: Ohne dass man auf den Markt und die Knapp­heits­preise, die er her­vor­bringt, zurück­greift, kann man bekanntlich nicht wissen, wie knappe Mittel am besten ein­zu­setzen sind, um die drän­genden Bedürf­nisse zu bedienen. Fehl­ent­schei­dungen, Ver­schwendung und Kor­ruption sind die abseh­baren Begleit­erschei­nungen solch einer Zutei­lungs­po­litik. Eine „Zom­bie­wirt­schaft“ wird befördert, in der unpro­fi­table Unter­nehmen und Banken nicht mehr durch bessere Anbieter ersetzt, sondern künstlich am Leben gehalten werden. Die Effi­zienz schwindet, und Wachstum und Beschäf­tigung leiden. 
Ende der Arbeitsteilung
Wenn die Zen­tralbank die Markt­zinsen (immer tiefer) in den Nega­tiv­be­reich her­un­ter­drückt, blähen sich die Preise für die Bestands­güter – hierzu zählen Aktien, Häuser und Grund­stücke – auf, bezie­hungs­weise die Preise fallen höher aus im Ver­gleich zu einer Situation, in der die Markt­zinsen nicht künstlich abge­senkt worden wären. Denn je nied­riger der Zins ist, desto höher sind auch die Bar­werte der künf­tigen Zah­lungen und damit auch die Markt­preise der Ver­mö­gens­güter. Das beschert den Inves­toren zunächst hohe Ren­diten. Doch gleich­zeitig ver­schlechtern sich dadurch die künf­tigen Ren­di­te­aus­sichten für die Investitionen.
Das erklärt sich wie folgt: Die Null- und Nega­tiv­zinsen lassen die Preise von bei­spiels­weise Aktien und Häusern so weit ansteigen, bis die erwartete Rendite, die diese Anla­ge­klassen ver­sprechen, sich dem Niedrig- bezie­hungs­weise Nega­tivzins, den die Zen­tralbank setzt, ange­nähert hat. Im Extremfall fallen die erwar­teten Markt­ren­diten sogar auf oder gar unter die Null­linie. Wenn aber die Zen­tralbank alle Ren­diten auf oder unter die Null­linie gedrückt hat, ist das, was von der freien Markt­wirt­schaft noch übrig ist, am Ende. Ohne einen posi­tiven Marktzins, ohne eine positive Rendite in Aus­sicht zu haben, hört das Sparen und Inves­tieren auf – schließlich hat ja jeder Kon­sument, jeder Unter­nehmer einen posi­tiven Urzins, das heißt er ver­langt einen posi­tiven Aus­gleich für seinen Konsumverzicht.
Die arbeits­teilige Volks­wirt­schaft kommt zum Erliegen. Ersatz- und Erwei­te­rungs­in­ves­ti­tionen bleiben aus. Maschinen, Werks­hallen, Häuser ver­rotten. Kapi­tal­auf­zehrung setzt ein. Die moderne Volks­wirt­schaft fällt zurück in eine pri­mitive Sub­sis­tenz­wirt­schaft. Das ist – kon­se­quent zu Ende gedacht – das Ergebnis einer Nega­tiv­zins­po­litik: Sie zer­stört das Wirt­schaften, wie es in der west­lichen Welt im Zuge der indus­tri­ellen Revo­lution im 19. Jahr­hundert ent­standen ist und den Men­schen wirt­schaft­lichen und kul­tu­rellen Fort­schritt gebracht hat.
Die Lösung: Freies Marktgeld
Die Aus­sicht auf Nega­tiv­zinsen ist eine Schre­ckens­vision. Es ist der Versuch, die Gesetze der (Handlungs-)Logik außer Kraft zu setzen. Das aber ist unmöglich. Ein Nega­tivzins ist ver­nunft­widrig. Ob die „neue“ Theorie des Nega­tiv­zinses Ergebnis eines großen Irrtums ist, oder aber ihre Befür­worter sich absichtlich irren (das ist ja auch denkbar): Die Macht der EZB wird zuse­hends zur Ohn­macht für die Bevöl­kerung. Wie schon so oft in der Geschichte zeigt sich: Eine poli­tisch gewährte Mono­pol­stellung lässt sich nicht wirksam kontrollieren.
Auf außer­par­la­men­ta­ri­schem Wege wird der Weg für eine sozia­lis­tische Trans­for­mation von Wirt­schaft und Gesell­schaft geebnet. Dass die EZB-Räte und die auf sie Ein­fluss neh­menden Inter­es­sen­gruppen eine beängs­ti­gende Macht­fülle und gewaltige Miss­brauchs­mög­lich­keiten haben, steht außer Frage. Die Sym­pa­thi­santen des Sozia­lismus werden das begrüßen. Aber alle, die Freiheit, Wohl­stand und Frieden in Europa wollen, müssen fordern, die Mono­pol­stellung der EZB zu beenden. Aber wie?
Nun, indem ein freier Markt für Geld geschaffen wird, in dem die Men­schen von ihrem Selbst­be­stim­mungs­recht auf die freie Wahl ihres Geldes Gebrauch machen: dem Recht auf die Freiheit, das Geld wählen zu dürfen, das man ver­wenden möchte. Es gibt keine über­zeu­genden Gründe – weder öko­no­mische noch ethische – warum die Staaten oder ihr Agent, die Zen­tralbank, das Geld­mo­nopol inne­haben sollten. Wenn die Men­schen das ver­standen haben und ihr Recht auf die freie Geldwahl aktiv ein­fordern, sind die Schrecken – EZB-Mono­pol­macht, Nega­tivzins und seine schäd­lichen Folgen – gebannt.

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Thorsten Polleit, Jahrgang 1967, ist seit April 2012 Chef­volkswirt der Degussa. Er ist Hono­rar­pro­fessor für Volks­wirt­schafts­lehre an der Uni­ver­sität Bay­reuth, Adjunct Scholar am Ludwig von Mises Institute, Auburn, US Alabama, Mit­glied im For­schungs­netzwerk „Research On money In The Economy“ (ROME) und Prä­sident des Ludwig von Mises Institut Deutschland. Er ist Grün­dungs­partner und volks­wirt­schaft­licher Berater eines Alter­native Investment Funds (AIF). Die private Website von Thorsten Polleit ist: www.thorsten-polleit.comHier Thorsten Polleit auf Twitter folgen.

Quelle: misesde.org