[Anmerkung: Weil mir dieser etwas über 8 Din A4 Seiten umfassende Beitrag äußerst bedeutsam erscheint, steht er zu Download und weit möglichster Verbreitung hier als PDF-Datei bereit. :andreas.]
—————————————–
13. Januar 2020, The Transnational
Zu täuschen, Halbwahrheiten oder komplette Lügen zu erzählen, ist in der Politik, insbesondere in der Sicherheitspolitik, nichts Neues. Aber bis vor etwa 20–30 Jahren habe ich das – möglicherweise aus Naivität – als Ausnahme betrachtet. Tragischerweise – und vielleicht zur Überraschung vieler Leser – ist es mittlerweile die Regel. Zumindest in Kreisen der Vereinigten Staaten (VS) und der NATO, und das ist besonders bedauerlich, da der Westen von sich behauptet, ein demokratisches System mit besonderen Werten und sogar moralischer Führer für Den Rest der Welt zu sein.
(von Jan Oberg
Übersetzung©: Andreas Ungerer)
Systematisch über Fakten, historische Fakten, sowie andere Länder und Kulturen zu lügen, sollte mit der Vorstellung Des Westens von sich selbst unvereinbar sein. Heutzutage jedoch, ist es das nicht.
Lügen sind in der so genannten Sicherheitspolitik weit verbreitet, wenn irgendein militaristisches Projekt für intelligente Menschen und den (gesunden) Menschenverstand keinen Sinn ergibt, wenn die wahren Motive vertuscht werden müssen und ein Krieg vorbereitet wird, oder wenn das soziologische Krebsgeschwür namens militärisch-industriell-medial-akademischer Komplex, (MIMAC), und die Eliten, aus denen er besteht, versuchen, noch höhere Militärausgaben von ihren Steuerzahlern zu erhalten.
Man lügt, um einen Feind zu erschaffen, der dann zur Rechtfertigung der eigenen Taten und zur eigenen Bereicherung herangezogen werden kann. Mit mehr als 40 Jahren Erfahrung in der Sicherheitspolitik im Allgemeinen und der NATO/US-Politik im Besonderen weiß ich zu viel – verzeihen Sie die Arroganz – und bin zu zynisch geworden, um zu glauben, daß, was gerade vor sich geht, der Selbstverteidigung, der Sicherheit oder dem Frieden dient.
Einige kurze Beispiele für grobe, empirisch aufgedeckte, der Welt aufgetischte Lügen – und all die Lügner sind nach wie vor auf freiem Fuß:
- In den 1990er Jahren war Serbiens Präsident Slobodan Milošević (laut Bill Clinton) Europas neuer Hitler und plante [nach der Worten des damaligen deutschen Außenministers, dem Kriegsverbrecher Joseph Martin Fischer] einen Genozid an den Albanern im Kosovo. (In eckigen Klammern eingefügte Textstelle stammt vom Übersetzer.)
- Saddam Husseins Soldaten haben Neugeborene in Kuweit aus Inkubatoren gerissen.
- Afghanistan mußte wegen 9/11 zerstört werden.
- Saddam Hussein war im Besitz von Massenvernichtungswaffen.
- Der von den Vereinigten Staaten (VS) angeführte Weltweite Krieg gegen den Terror sollte den Terrorismus reduzieren.
- Bei dem von VS/NATO orchestrierten Versuch eines Regime Change in Syrien von 2011–2016 ging es ausschließlich um die jähen sadistischen Tötungen des Diktators al-Assad an „seiner eigenen Bevölkerung“.
- Gaddafi war gerade dabei alle Einwohner von Benghazi zu ermorden.
- Der Ukraine-Konflikt begann mit Putins „Einmarsch“ auf die Krim, dem nichts vorausgegangen ist.
- Der Iran hat den Erwerb von Nuklearwaffen stets insgeheim geplant und darüber gelogen.
- Es gibt nur Schlechtes über Rußland und China zu sagen und…
Sie können die Listeneinträge selbst fortsetzen.
Die jüngste Lüge ist besonders bösartig, weil es sich nicht um ein begrenztes Ereignis oder einen Vorwand handelt. Es handelt sich um den zynischen Versuch, die Zeitgeschichte umzuschreiben, um die (noch weiter ausgedehnte) NATO-Erweiterung zu rechtfertigen und Rußland einzuschüchtern.
Die Lüge lautet wie folgt:
- Die Staatschefs des Westens haben Michail Gorbatschow und seinem Außenminister Eduard Schewardnadse niemals versprochen die NATO nicht nach Osten auszuweiten. Auch haben sie niemals erklärt, die sowjetisch-russischen Sicherheitsinteressen entlang deren Grenzen ernstzunehmen. Und aus diesem Grund haben alle Mitgliedsländer des ehemaligen Warschauer Pakts das Recht auf einen NATO-Beitritt, wenn sie sich hierfür frei entscheiden.
Diese Lüge ist es, mit der ich mich im Folgenden befasse, und Sie werden diese Lügen, in leicht veränderten Versionen, von Antony Blinken und Jens Stoltenberg in kristallener Klarheit in den folgenden beiden Videos präsentiert bekommen.
Lassen Sie mich, bevor ich beginne, sagen, daß es nie mein Stil gewesen ist, mich auf Individuen zu fokussieren oder diese anzugreifen. Ich war immer mehr an den Strukturen und Prozessen interessiert, und inwieweit diese Menschen formen. Aber es kommt eine Zeit, in der Führer verantwortlich gemacht werden müssen, weil sie sich dafür entscheiden fortgesetzt zu lügen, obwohl sie die Wahl haben, dies nicht zu tun.
Und weil aus Lügen oft Kriegsverbrechen entstanden sind.
Antony Blinken
Beginnen wir mit der Stellungnahme des Außenministers der Vereinigten Staaten (VS), Antony Blinken, vom 7. Januar 2022 – scrollen Sie zu Absatz 8 des Transkripts, wo er beginnt die Geschichte bereits am Anfang des Ukraine-Konflikts zu verzerren:
„In 2014, the Ukrainian people chose a democratic and European future for themselves. Russia responded by manufacturing a crisis and invading.“
(Im Jahr 2014 hat sich das ukrainische Volk für eine demokratische und europäische Zukunft entschieden. Rußland hat mit der Inszenierung einer Krise und mit einer Invasion geantwortet.)“
Dann fährt er ab Absatz 32 mit der Behauptung fort, daß Rußland die Falschdarstellung betreibt, daß der Westen Rußland/Gorbatschow in der Zeit zwischen 1989 und 1990 versichert haben soll, die Grenzen der NATO nicht nach Osten zu erweitern. „Das hat sie weder gewollt noch gekonnt“, sagt er. Und alle Behauptungen, die Rußland aufstellt, sind falsch und sollen „uns“ nicht vom Wesentlichen ablenken: Rußlands nicht provozierten Angriff gegen die Ukraine.
Gleich im 41. Absatz erscheint eine weitere Lüge, daß Rußland auch in Georgien einmarschiert ist.
Jeder, der die Analyse des U.S. Congressional Research Service von 2009, „Russia-Georgia Conflict in 2008: Context and Implications for U.S. Interests“ (Kontext und Auswirkungen auf die Interessen der USA) gelesen hat, weiß, dass diese Angelegenheit weitaus komplexer war und dass Georgien – unter der Führung des hitzköpfigen US-Freundes Michail Saakaschwili, dessen politisches Leben seither einer tragikomischen Farce gleicht – den größten Teil Südossetiens besetzt hatte, bevor Rußland massiv intervenierte. Die Verantwortung für den Krieg und die Gewalt kann nicht ernsthaft allein der russischen Seite zugeschoben werden.
Und er fährt mit seinen selbstgerechten Anklagen fort. Blinkens Liste ist lang, und er liest seine Anklageliste mit der Geschwindigkeit einer Maschinenpistole vor, manchmal so stolpernd und undeutlich, daß man sich fragen muß, ob er sich unwohl fühlt, weil er sich unbewußt dessen bewußt ist, daß er lügt, täuscht und Fakten verschweigt, um seine psycho-politischen Projektionen der eigenen dunklen Seiten der VS intelligent, logisch und wahrheitsgemäß erscheinen zu lassen.
Dieser US-Außenminister kann sich nicht um Fakten oder Nuancen kümmern. Genauso wenig wie sein Vorgänger Mike Pompeo, der stolz darauf gewesen ist zu sagen, daß bei der CIA, deren Direktor er immerhin war, „gelogen, betrogen, und gestohlen worden ist, und es hierin ganze Trainingskurse gab…“ Blinken fährt fort mit seiner obsessiven, haßerfüllten Aufzählung aller Sünden Rußlands. Als ob es die USA/NATO nicht gäbe deshalb kein Konflikt existierten, zu dem normalerweise mindestens zwei Parteien gehören. In seinem umfassenden Konflikt-Analphabetismus hat dieser Konflikt nur eine Partei: Rußland.
Das intellektuelle Niveau ist erbärmlich. Die NATO-Verbündeten und die Mainstream-Medien haben keine öffentliche Meinung oder kritische Ansichten zu all dem. Man muß davon ausgehen, daß sie zustimmen und selbst nicht in der Lage sind bessere Analysen anzustellen.
Nun werfen Sie zumindest einen Blick auf die oben von mir erwähnten Sequenzen. Im Anschluß an das Video weise ich Sie auf Blinkens vorsätzliche Lügen hin.
Sollte dieser Link nicht mehr funktionieren, benutzen Sie bitte diesen hier. Das Video läßt sich auch bei C‑Spam und YouTube betrachten.
Nun, wie kann Mr. Blinken rundweg leugnen, daß Gorbatschow Versicherungen gegeben worden waren?
Die einzige Quelle, die ich hierzu finden konnte ist ein Artikel von Steven Pifer aus dem Jahr 2014, in dem behauptete wird, daß Gorbatschow selbst leugnet, daß eine NATO-Expansion jemals erörtert worden ist. „Hat die NATO je versrprochen, sich nicht auszudehnen? Gorbatschow sagt ‚Nein‘„, was auf ein Interview mit Gorbatschow bei Russia Beyond verweist.
Aber hierbei handelt es sich um eine Art Zitierbetrug.
Steven Pifer zitiert aus diesem Interview-Artikel, hört aber direkt vor der wohlbekannten Erklärung des damaligen US-Außenministers James Baker auf, daß „die NATO sich nicht einen Zentimeter weiter nach Osten bewegen wird“. Auch läßt er die diese Worte von Gorbatschow selbst aus:
„Die Entscheidung die VS und ihrer Verbündeten, die NATO nach Osten zu erweitern, ist maßgeblich im Jahr 1993 getroffen worden, und ich habe sie, von Beginn an, für einen großen Fehler gehalten. Es war definitiv eine Verletzung des Geistes der im Jahr 1990 an uns abgegebenen Stellungnahmen und Versicherungen.“
Kann das tatsächlich so gedeutet werden, als hätte Gorbatschow gesagt, daß keinerlei Versicherungen jemals abgegeben worden seien?
Wir erhalten einen Schlüssel dazu, warum Blinken eine gefälschte Analyse verwendet: Weil es zu seinem Auftreten als Inbegriff der Wahrheit paßt und weil Mr. Pifer nicht nur Senior Fellow bei Brookings, sondern auch ehemaliger US-Botschafter in der Ukraine und Berater einer der kämpferischsten Denkfabriken, des Center for Strategic & International Studies in Washington, ist.
Eine kleine Verdrehung, Auslassung oder interpretative Kasuistik* ist doch nicht so wichtig, oder? Nun, sollten Sie immer noch nicht davon überzeugt sind, daß Mr. Blinken vorsätzlich lügt, bitte ich Sie, das maßgebliche National Security Archive der George Washington University zu besuchen. Es ist eine unglaubliche Quelle von Fakten, und wir sollten dankbar dafür sein, die Wahrheit in Form einer dermaßen umfassenden Dokumentation zu so vielen sicherheitsrelevanten Themen zur Verfügung gestellt zu bekommen.
TFF hat zwei wesentliche Teile dieses Archivs mit unwiderlegbaren Belegen dafür gespiegelt, daß Gorbatschow Ende 1989 und bis in das Jahr 1990 hinein von den einflußreichsten westlichen Staatsoberhäupter tatsächlich solche Zusicherungen – „Kaskaden“ von Zusicherungen!, wie es in dem Beitrag heißt – erhalten hat:
“NATO Expansion: What Gorbachev heard” – und
“NATO Expansion: The Budapest Blow Up 1994”
Lesen Sie sie, und sie werden schockiert sein.
Sie werden feststellen, daß sie eine Menge Anmerkungen und insgesamt nicht weniger als 48 historische Originaldokumente enthalten. Hier ist zum Beispiel nur eines der 48 Dokumente, das uns über die Ansicht und Erklärung des damaligen NATO-Generalsekretärs Manfred Wörner informiert:
„Wörner hatte im Mai 1990 in Brüssel eine viel beachtete Rede gehalten, in der er geltend machte: ‚Die Hauptaufgabe des nächsten Jahrzehnts wird darin bestehen, eine neue europäische Sicherheitsstruktur aufzubauen, welche die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Paktes einschließt. Der Sowjetunion wird beim Aufbau eines solchen Systems eine wichtige Rolle zukommen. Wer sich die derzeitige Lage der Sowjetunion vor Augen führt, die praktisch keine Verbündeten mehr hat, wird ihren berechtigten Wunsch verstehen, nicht aus Europa verdrängt zu werden.‘
Mitte 1991 hat Wörner den Russen geantwortet, daß sowohl er persönlich als auch der NATO-Rat gegen eine Erweiterung seien – ’13 von 16 NATO-Mitgliedern teilen diesen Standpunkt‘ – und daß er sich bei den Staats- und Regierungschefs Polens und Rumäniens gegen eine Mitgliedschaft in der NATO aussprechen werde, wie er es bereits bei den Staats- und Regierungschefs Ungarns und der Tschechoslowakei getan habe. Wörner betont, daß ‚wir nicht zulassen dürfen, daß […] die UdSSR von der Europäischen Gemeinschaft isoliert wird.’“
Diese ist nur eine der „Kaskaden“ von Stellungnahmen und Zusicherungen, welche die Russen zu jener Zeit erhalten haben. Vor über 30 Jahren waren 13 von deren damals 16 Mitgliedsstaaten gegen eine Erweiterung der NATO, da sie die Krise und die legitimen Sicherheitsinteressen Rußlands respektiert haben! Heute, im Jahr 2022, zählt die NATO 30 Mitglieder.
Sind dem VS-Außenminister, seinen Beratern und Redenschreibern die nächstgelegenen Nationalen Sicherheitsarchive und die darin enthaltenen Informationen über eines der wichtigsten Ereignisse der Zeitgeschichte nicht bekannt: die Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts? Sollen wir wirklich glauben, daß sie keinen blassen Schimmer von den Bedingungen und Dialogen am Ende des ersten Kalten Krieges haben? Wenn das der Fall ist, sollten sie wegen ihrer unglaublichen Inkompetenz umgehend zurücktreten oder entlassen werden.
Falls nicht – wenn sia den Inhalt dieser historischen Dokumente also kennen – wissen Mr. Blinken sowie seine Berater und Redenschreiber, daß sie lügen.
Daher sollte man ihren Worten niemals trauen. Genauso wenig wie den Medien, die es vermeiden, diese Lügen aufzudecken und sich damit mitschuldig machen. Die Aufgabe einer angeblich freien Presse ist es, den Machtmißbrauch demokratisch gewählter Personen aufzudecken, die ihre Wählerschichten bewußt mit Lügen füttern.
So einfach ist das.
Jens Stoltenberg
In diesem Video der Pressekonferenz vom 7. Januar 2022 trägt NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg einige derselben rhetorischen Verzerrungen, Vereinfachungen und Lügen vor. Ganz zu schweigen von Plattitüden, die von einer fast humorvollen Körpersprache mit bombastischen Gesten begleitet werden, um seine schwachen Inhalte, Mantras und Wiederholungen zu kompensieren.
Achten Sie bei etwa Min: 19 darauf, wie er erklärt, daß die NATO-Erweiterung „extrem wichtig für Stabilität und Frieden und Freiheit und Demokratie in Europa“ gewesen sei, wobei tatsächlich behauptet werden kann, daß diese Erweiterung der Hauptgrund dafür ist, daß sich Europa jetzt in einer Situation befindet, die man mit Fug und Recht als den zweiten Kalten Krieg bezeichnen kann.
Warum sonst hat die NATO seit ihrer Gründung im Jahr 1949 nicht den gewünschten und geforderten Frieden und die Stabilität geschaffen? Also nein, Herr Stoltenberg, Sie können nicht weiterhin – wie Ihre Herren in Washington – argumentieren, daß die gegenwärtigen Kriegsrisiken von Rußland und allein von Rußland verursacht werden? Wenn Ihnen befohlen worden ist, das zu sagen, haben Sie die Möglichkeit, den Anstand zu wahren und zurückzutreten.
Es ist schlicht nicht die Wahrheit.
Als Bündnis verfügt die NATO über enorme Ressourcen zur Beeinflussung der Meinung in potentiellen Mitgliedsstaaten. Im Gegensatz zu seinem Gerede von der offenen Tür ist in der NATO-Charta nur von der Einladung neuer Mitglieder die Rede, nicht davon, daß die Tür für alle, die beitreten möchten offen gehalten wird.
Es sollte – auch wenn es das nicht ist – inzwischen bekannt sein, daß Wladimir Putin Ende der 1990er Jahre den Beitritt zur NATO beantragt hat, aber hierzu ist es nicht gekommen, nicht wahr, Herr Stoltenberg? Und warum nicht? Weil Putin – Rußland – als gleichberechtigter Partner eingeladen werden wollte und nicht, um es ganz offen zu sagen, abwarten wollte, bis Montenegro Mitglied geworden war. Die NATO hat auf Putins Wunsch hin beschlossen, die Tür zu schließen.
Diese geradezu fantastische Geschichte wird von dem ehemaligen NATO-Generalsekretät George Robertson erzählt. Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß sie unglaubwürdig ist oder nur ein Gerücht darstellt. Oder, daß Putin es in dieser Hinsicht nicht ernst gemeint hat.
Und was für ein aufregender Gedanke: Rußland in der NATO! Wem sollten Mr. Stoltenberg und Mr. Blinken – und der ganze Rest des militärisch-industriell-medial-akademischen Komplexes (MIMAC), dann die ganze Schuld zuschieben? Wie ließen sich dann die permanente Aufrüstung der NATO und die Erhöhung der Militärausgaben um 12% anders als mit Rußlands rechtfertigen?
Mr. Stoltenberg muß klar sein, daß er lügt, wenn er von der offenen Tür der NATO spricht. Für Rußland steht sie nicht offen. Sie hat nicht einmal offene Ohren für Rußlands Sicherheitsbedenken (die sämtlichen NATO-Mitgliedern, insbesondere den VS, verständlich erschienen, wenn ein russisches Militärbündnis sich schrittweise an ihre Grenzen schleichen würde).
Und er muß wissen, daß er lügt, wenn er so tut, als ob er nicht wüßte, daß Rußland seit nicht weniger als 30 Jahren gegen eben jene NATO-Erweiterung ist, von der er vorgibt, sie sei so positiv für ganz Europa.
Witzigerweise betont Stoltenberg zunächst (etwa bei Min.19:00), daß alle neuen NATO-Mitglieder sich aus freien Stücken für einen Beitritt entschieden haben. Dann prahlt er damit, was die NATO alles unternimmt, um die Kandidaten auszubilden, zu helfen und zu unterstützen, und wie wichtig die Ukraine, trotz fehlenden Mitgliedsstatus‘ als NATO-Partner ist. Wie er sagt, müssen die Kandidaten Reformen durchführen, um die NATO-Standards zu erfüllen. Und die NATO gibt ihnen „praktische und politische Unterstützung“, damit sie – später – die NATO-Standards erfüllen und Mitglied werden können.
Welch außergewöhnlicher Altruismus, den die NATO ausstrahlt! Sollen wir wirklich glauben, daß die NATO wirklich keine Staaten an sich bindet, wie er behauptet?
Die NATO hat bereits im Jahr 1994 ein Büro im ukrainischen Kiew eröffnet, und hier können Sie sehen, wie die Ukraine mit einem Dokument nach dem anderen, schrittweise, in eine versprochenermaßen große Euro-Atlantische Zukunft eingebunden und verführt worden ist.
Und hier sehen Sie, wie Olga Stefanishyna, die stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, die im NATO-Hauptquartier mit Stoltenberg zusammensitzt, ständig von der NATO als „Verbündeten“ der Ukraine spricht, alle möglichen Garantien erwartet und – selbstverständlich bezüglich der Außenpolitik – argumentiert, daß die Ukraine angesichts der russischen Aggression einen Klaren Weg zur NATO-Mitgliedschaft benötigt.
Und nun ist der Integrationsprozeß vermutlich so weit fortgeschritten, daß irgendwann weder die NATO noch die Ukraine eine andere Alternative als die Vollmitgliedschaft sehen könnten. Warum sollte man als Verlobte nicht durch eine formale Mitgliedschaft heiraten – wie es über Schweden gesagt worden ist?
Die NATO hat es bei ihrer Rußland demütigenden Politik nicht einmal kommen sehen, daß das Bündnis bei all dessen Versprechungen, Strukturen und Prozessen, die sich anhäufen und Erwartungen wecken, irgendwann in einen ernsthaften Konflikt mit Rußland geraten würde. Wenn dies der Fall ist, leidet das gesamte Bündnis an Konflikt-Analphabetismus und einem enormen Mangel an Weitsicht.
Und deshalb müssen Sie aus Rußland einen riesigen, militärisch aggressiven Staat mit einem unsympathischen Führer machen, den „wir“ nach Belieben verteufeln können, und dem wir nicht einmal zuhören müssen.
Hören Sie sich nun diese Aussage Stoltenbergs über die – tatsächliche – Bedeutung der Hilfe der NATO an (20:45): „…Sie stärkt auch die Gesellschaften in der Ukraine und in Georgiens. Belastbare, gut funktionierende Gesellschaften sind also auch weniger anfällig für Einmischungen aus Rußland.“
Nur eine einladende, offene Tür der NATO für Länder, die frei und demokratisch darüber entscheiden, ob sie anklopfen wollen?
Es ist Zeit für einen Realitätscheck in der – überholten – Welt der Realpolitik der NATO. Würde man nicht offenkundig provozieren und Kriegsrisiken erhöhen wollen, würde man sich seit 1989 an jedem Tag völlig anders verhalten haben.
Die Grundlagen für die NATO-Erweiterung ist offenkundig: Bekomme so viele NATO-Mitglieder wie möglich, verteufle Rußland und Putin und entziehe Rußland jede Möglichkeit zur Gestaltung seiner Zukunft in Europa.
Wie seltsam ist es doch, daß Rußland die Expansion des Bündnisses bis an seine Grenzen als bewußte militärische Bedrohung und politisch motivierte Untergrabung seines Status‘ sowie seiner Macht wahrnimmt!
Wie überraschend, daß es nun meint, daß seine Sicherheitsinteressen von seinen Nachbarländern respektiert werden sollte, nur weil es, historisch betrachtet, seit dem Zweiten Weltkrieg, in dem es übrigens etwa 24 Millionen Menschen verloren hat, aus dem Westen bedrängt und entlang seiner Grenzen eingeschlossen worden ist!
Es ist unbeschreiblich tragisch, daß es im Westen heute keinen einzigen Politiker wie Willy Brandt, Egon Bahr, Olof Palme oder einen der echten Staatsmänner gibt, die Gorbatschow kaskadenweise Sicherheitsgarantien gaben, weil sie zwei essentiell wichtige Eigenschaften besaßen: intellektuelle Kompetenz und Empathie, den Wunsch und die Fähigkeit, sich in die Situation des „Anderen“ zu versetzen und dabei auf niedrigeren militärischen Ebenen in Richtung gemeinsamer Sicherheit zu denken.
Sie waren reife Persönlichkeiten, die ihre Politik auf Analysen und Konsultationen gegründet haben. Sie wußten, daß man Sicherheit nur mit und nicht gegen „den Anderen“ erreichen kann
Stattdessen hat die NATO nur anti-intellektuelle, egozentrische und selbstherrliche Militaristen, welche die selbstzerstörerische „Ich-weiß-alles-und-höre-auf-niemand“ Show veranstalten, die, wie die Geschichte jedem Kind gezeigt hat, immer nur zu Kriegen führt.
Und es ist unbeschreiblich tragisch, daß die Völker Europas diese Fragen nicht diskutieren und daß alle Alternativen zum Militarismus ihrer Mittel beraubt worden sind, während der NATO-Militarismus Billionen von Dollar verschlingt, die in allen anderen Bereichen der westlichen Gesellschaft dringend benötigt werden.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Welt der VS sowie der NATO die bedeutendste und wertvollste Gelegenheit zur Schaffung von Frieden in Europa nach 1945 verspielt hat, als sie beschloß, die Schwäche Rußlands auszunutzen. Wie von Gorbatschow und vielen sicherheits- und friedenspolitischen Intellektuellen seinerzeit vorgeschlagen, hätten sich die Mitglieder der alten Blöcke zusammenschließen und eine völlig neue gesamteuropäische Sicherheits- und Friedensarchitektur schaffen können.
Wir sehen uns heute mit den tragischen Folgen der arroganten Politik des „The Winner Takes It All“ konfrontiert, die in der Entscheidung der amerikanischen Clinton-Regierung zum Ausdruck kam, alle Zusicherungen zu ignorieren und 1994 mit Hilfe unterwürfiger europäischer Verbündeter, die weder die intellektuellen Fähigkeiten noch den politischen Willen besaßen, ihre eigenen Interessen zu entfalten, die NATO nach Osten zu erweitern.
Deshalb müssen sie uns heute belügen.
Anmerkungen:
1. Über die Jahre hat TFF zahlreiche Analysen veröffentlicht, die diesem Artikel als Ergänzung dienen können. Verschiedenen von ihnen beinhalten Vorhersagen und frühzeitige Warnungen über die Situation, mit der wir nun konfrontiert sind.:
TFF PressInfo # 390 – Ten articles on the new Cold War and a reflection (2016)
NATO Expansion: What Gorbachev heard and how he was cheated (2017)
Jan Obergs Blog:
Maktspelet vid Rysslands gränser – Power games at the borders of Russia (2021)
enthält ebenfalls eine Reihe sehr bedeutsamer Links
2. Wenn Sie sich die beiden Videos oben ansehen, beachten Sie, dass sämtliche Medienvertreter die Aussagen der beiden Redner sehr gut verstehen. Wie beispielsweise bei der Frage, „wird die NATO sicherstellen, daß sie schnell reagieren kann, falls Rußland in die Ukraine einmarschieren sollte“ usw. Pressekonferenzen sind zu sorgfältig geplanten Bühnenveranstaltungen verkommen, bei denen schriftliche Erklärungen verlesen werden und sorgfältig ausgewählte, militärfreundliche Medien zu Wort kommen – kritische Fragen werden von den Veranstaltern im Voraus nicht genehmigt und durch Selbstzensur gar nicht erst gestellt. Wo haben wir das schon einmal gesehen? In der Sowjetunion, nur etwas unbeholfener.
3. The Guardian, 12. Januar 2022
Russia’s belief in Nato ‘betrayal’ – and why it matters today
Ein neues Buch über dieses Problem.
—————————————————–
Jan Oberg und seine Ehefrau, Dr. Christina Spännar, sind die Gründer von The Transnational Foundation, TFF. Oberg kam im Jahr 1951 zur Welt, ist dänischer Staatsbürger, lebt seit 1971 im schwedischen Lund und ist international angesehener Friedensforscher, Mediator, Friedensanalyst und Kunstphotograph.
Seinen kompletten Lebenslauf entnehmen Sie bitte dieser Seite.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.