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Leben wir in einem auf­ge­klärten Zeit­alter? – Zu Immanuel Kants 218. Todestag

Am 12. Februar 2022 jährte sich der Todestag Immanuel Kants (1724 – 1804) zum 218. Mal. Noch 20 Jahre früher, vor 238 Jahren im Jahre 1784, erschien unter dem Titel „Beant­wortung der Frage: Was ist Auf­klärung?“ Kants berühmter Aufsatz mit dem Ein­gangssatz „AUF­KLÄRUNG ist der Ausgang des Men­schen aus seiner selbst­ver­schul­deten Unmün­digkeit …

Zu „gestock­holmt“, um sich des eigenen Ver­standes ohne Anleitung zu bedienen

(von Dr. Andreas Tiedtke)

Kant sah das Problem, dass die Unmün­digkeit, sich seines eigenen Ver­standes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen, nicht daran lag, dass die intel­lek­tu­ellen Fähig­keiten hierzu fehlten. Das hätte er nicht als selbst­ver­schuldet ver­standen, denn wenn es intel­lek­tuell nicht klappt, dann ist es eben in diesem Sinne nicht selbst­ver­schuldet. Er sah als Ursache „Mangel an der Ent­schließung und des Mutes“. „Faulheit und Feigheit“ seien Ursachen, warum ein großer Teil der Men­schen, nachdem die Natur sie längst von fremder Leitung frei­ge­sprochen habe, dennoch gerne zeit­lebens unmündig bliebe.

Die meisten seiner Zeit­ge­nossen, so dachte Kant, hielten den Schritt in die Mün­digkeit nicht nur für beschwerlich, sondern auch für gefährlich. Dafür hätten schon jene Vor­münder gesorgt, die über sie gütigst die Ober­auf­sicht über­nommen hätten. Die Masse der Men­schen leide sozu­sagen an einem „Stockholm-Syndrom“, könnte man heute for­mu­lieren. Stockholm-Syndrom hier etwa in dem Sinne ver­standen, dass sich die „Opfer“ nicht gegen die Bevor­mundung empören, sondern dass sie derart ver­ängstigt und ein­ge­schüchtert sind, dass sie mit der Bevor­mundung sym­pa­thi­sieren, weil ihnen das die Situation erg­träg­licher macht als das Emp­finden von Wut, Angst und Ohn­macht. Kant schrieb:

Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorg­fältig ver­hü­teten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gän­gel­wagen, darin sie sie ein­sperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es ver­suchen, alleine zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch eini­gemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Bei­spiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemei­niglich von allen fer­neren Ver­suchen ab.

Glück­li­cher­weise leben wir heute, 238 Jahre später, in kom­plett anderen Zeiten, in denen die „gütigste Ober­auf­sicht“ die Men­schen nicht mehr davon abhalten möchte, in diesem Sinne erwachsen zu werden, dass sie sich ihres eigenen Ver­standes ohne Leitung bedienen – und selber Laufen lernen. Oder etwa nicht?

Die Ursachen des Sto­ckens der Auf­klärung sind also nicht im intel­lek­tu­ellen Bereich zu finden, sondern sie sind psy­cho­lo­gi­scher Natur. Die Leute bräuchten eher einen The­ra­peuten als einen Gelehrten. Es nützt nichts, wenn man mit Ludwig von Mises wis­sen­schaft­licher Methode, der Pra­xeo­logie, und seiner auf der Logik des Han­delns auf­bau­enden Erkennt­nis­theorie darlegt, wie Wirt­schaft und Gesell­schaft friedlich funk­tio­nieren können und wie Nar­rative über Kli­ma­ver­än­de­rungen oder Zwangs­maß­nahmen bei Krank­heits­wellen erkennt­nis­theo­re­tisch als per­sön­liche Mut­ma­ßungen[1] „ent­zaubert“ werden können. Es nützt nichts, wenn nahezu niemand dazu bereit ist, dieses „intel­lek­tuelle Geschenk anzu­nehmen“, weil die Men­schen es von ihrem Denken und Fühlen her nicht anzu­nehmen bereit sind.

Kant meinte, den Men­schen sei ihre Unmün­digkeit zur Natur geworden. Sie hätten sie lieb­ge­wonnen und seien in diesem Sinne zwar nicht intel­lek­tuell unfähig, sich des eigenen Ver­standes zu bedienen, aber emo­tional. Man ließ diese Leute, so Kant, den Versuch nie machen, sich des eigenen Ver­standes zu bedienen. Kant schrieb:

Sat­zungen und Formeln, diese mecha­ni­schen Werk­zeuge eines ver­nünf­tigen Gebrauchs oder vielmehr Miss­brauchs seiner Natur­gaben, sind die Fuß­schellen einer immer­wäh­renden Unmün­digkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsi­cheren Sprung tun, weil er zu der­gleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist.

Das Angst- und Ban­ge­machen rächt sich

Kant meinte, dass die Men­schen sich schon selbst auf­klären würden, ja es käme „beinahe unaus­bleiblich“ dazu, wenn man ihnen nur die Freiheit dazu ließe. Aber genau da läge das Problem: Es rächte sich die lange Indok­tri­nation, dass Ver­wahrung und Vor­mund­schaft nötig seien.

Zwar „… werden sich immer einige Selbst­den­kende, sogar unter den ein­ge­setzten Vor­mündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmün­digkeit selbst abge­worfen haben …“ auch andere davon befreien würden. Vor­münder, die bereit seien, ihr ehe­ma­liges „Hausvieh“ sozu­sagen „frei­zu­geben“.

Aber „das Publikum“, welches zuvor von diesen Vor­mündern unter das Joch gebracht worden sei, möchte diese Vor­münder nunmehr selbst zwingen, dar­unter zu bleiben, „wenn es von einigen seiner Vor­münder, die selbst aller Auf­klärung unfähig sind, dazu auf­ge­wiegelt“ werde. Die „Vor­ur­teile“, die man der Masse „ein­ge­pflanzt“ habe, würden sich „zuletzt an denen selbst rächen, die oder deren Vor­gänger ihre Urheber gewesen sind.“

Daher könne ein „Publikum“ nur langsam zur Auf­klärung gelangen. Durch Revo­lution könne man sich zwar „per­sön­lichem Des­po­tismus und gewinn­süch­tiger oder herrsch­süch­tiger Bedrü­ckung“ ent­le­digen, aber durch eine Revo­lution käme es nicht zu einer „wahren Reform der Den­kungsart“. Vielmehr würden eben „neue Vor­ur­teile“, also falsche Ideen, zusammen mit den alten zu Leit­ge­danken „des gedan­ken­losen großen Haufens“.

Das eherne Gesetz der Oligarchie

Kant sah auch die Gefahr, dass sich eine elitäre Pries­ter­schaft ver­bindet, „um so eine unauf­hör­liche Ober­vor­mund­schaft“ zu eta­blieren und damit „das Volk zu führen“.

Ein solcher Kon­trakt, der auf immer alle weitere Auf­klärung vom Men­schen­ge­schlechte abzu­halten geschlossen würde, ist schlech­ter­dings null und nichtig;“ schrieb Kant.

Ein Zeit­alter könne sich nicht „ver­bünden und darauf ver­schwören, das fol­gende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine … Erkennt­nisse zu erweitern, von Irr­tümern“ zu befreien und „in der Auf­klärung weiter zu schreiten.“

Leben wir in einem auf­ge­klärten Zeitalter?

Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem auf­ge­klärten Zeit­alter? So ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeit­alter der Auf­klärung.”, schrieb Kant.

Kant meinte, dass die Men­schen, „wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon imstande wären“ sich ihres eigenen Ver­standes ohne Leitung zu bedienen, „daran fehlt noch sehr viel“. Doch er meinte deut­liche Anzeichen zu bemerken, dass „die Hin­der­nisse der all­ge­meinen Auf­klärung“ weniger würden.

Wie sieht es heute aus?

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Wie würde Immanuel Kant heute urteilen, 218 Jahre nach seinem Tod? Sind „wir“ der Auf­klärung einen Schritt näher­ge­kommen, oder sind wir stecken geblieben oder haben uns sogar noch weiter davon ent­fernt, „sich des eigenen Ver­standes ohne Leitung zu bedienen“?

In der Natur­wis­sen­schaft und in tech­ni­schen Fragen sind wir sicher „weiter“ als noch zu Kants Zeiten. Aber der Trug­schluss hält sich hart­näckig, dass man Fra­ge­stel­lungen des mensch­lichen Han­delns mit dem Reper­toire der Natur­wis­sen­schaften auf­klären könnte, also mit beob­ach­teten (oder ver­mu­teten) Zusam­men­hängen zwi­schen mess­baren Größen. Beim mensch­lichen Handeln geht es um Werten und Wollen, nicht um messbare Größen, welche nur mit­telbar für den Han­delnden eine Rolle spielen, als er sie für seine emo­tio­nierten Ziele als nützlich ansieht.

Nutzen aber lässt sich selbst nicht „messen“, weil messen heißt, mit einem unper­sön­lichen, objek­tiven Standard zu ver­gleichen. Es gibt aber nir­gends einen objek­tiven „Urnutzen“, der dieses „Maß“ liefern könnte. Dieser Denk­fehler, dass man Prä­fe­renzen messen könnte wie Größen der metri­schen Welt oder sinnvoll abzählen, als wären sie gleich­förmig wie Äpfel oder Birnen, dieser „uti­li­ta­ris­tische Sün­denfall der Gegen­auf­klärung“ ist heute nach wie vor im Denken der meisten Men­schen verankert.

Es wird der untaug­liche Versuch unter­nommen, mensch­liches Handeln mit Grö­ßen­zahlen objektiv ver­gleichbar zu machen; es herrscht eine geistige Ver­wirrung zwi­schen Größen einer­seits und Vor­lieben andererseits.

Ludwig von Mises‘ Methode der Pra­xeo­logie, die Logik des mensch­lichen Han­delns, womit sich das mensch­liche Handeln nicht nur ver­stehen lässt, sondern a priori begreifen, führte Jahr­zehnte lang ein intel­lek­tu­elles Schat­ten­dasein. Nicht etwa, weil Mises falsch lag oder er mit seiner wis­sen­schaft­lichen Methode nichts Wert­volles anzu­bieten gehabt hätte, sondern im Gegenteil. Weil seine Pra­xeo­logie so „hieb- und stichfest“ ist und seine Schlüsse so unab­weisbar, dass sie so manchen poli­ti­schen Geschäfts­be­trieb in hohe „mora­lische Erklä­rungsnot“ bringen würden.

Mit Mises‘ Pra­xeo­logie und ihrem am besten aus­ge­ar­bei­teten Teil­be­reich, der Öko­nomie, wurde in den Geis­tes­wis­sen­schaften ein gewal­tiger Fort­schritt erzielt. Aber aus den vor­be­schrie­benen Gründen wollen viele Auto­ri­täten diesen Fort­schritt in den Geis­tes­wis­sen­schaften nicht gelten lassen, diese Auf­klärung 2.0, die über rein natur­wis­sen­schaft­liche und tech­nische Fragen hin­ausgeht und über eine eigene wis­sen­schaft­liche Metho­do­logie verfügt. Mises machte das Handeln des Men­schen als wol­lendes Lebe­wesen a priori begreifbar. Das ein­di­men­sionale natur­wis­sen­schaftlich-tech­nische Weltbild der Auf­klärung 1.0 hin­gegen, das von vielen heu­tigen Auto­ri­täten erbittert ver­teidigt wird, sieht die Men­schen eher als tech­no­kra­tisch zu ver­wal­tende Bio-Maschinen in einem Biospähren-Reservat.

Kant schließt seine Schrift mit einem Aus­blick: Dass es sich der­einst auch auf die Grund­sätze der Regierung aus­wirken werde, dass der Mensch „mehr als Maschine“ sei, und die Regierung es schließlich „ihr selbst zuträglich finden“ würde, diesen Men­schen seiner Würde gemäß zu behandeln.

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Dr. Andreas Tiedtke ist Rechts­anwalt, Unter­nehmer und Autor. Er publi­zierte bereits zahl­reiche Artikel zur Öster­rei­chi­schen Schule und deren Methode. Im Mai 2021 erschien sein Buch „Der Kompass zum leben­digen Leben“.


Quelle: misesde.org