1966666 / Pixabay

Mas­sen­pro­teste in Chile: Was wir in den deut­schen Medien darüber NICHT erfahren

Die Demons­tra­tionen in Chile machen wei­terhin Schlag­zeilen, nur erfährt der deutsche Leser nichts über die Hin­ter­gründe. Und das aus gutem Grund, wie eine Analyse zeigt.
Es ist, wie so oft: Wer die Vor­ge­schichte nicht kennt, der kann die aktu­ellen Ereig­nisse nicht ver­stehen. Die mas­siven Pro­teste in Chile haben in der Tat eine wirklich lange Vor­ge­schichte, die den Kon­su­menten der deut­schen „Qua­li­täts­medien“ aber nicht erzählt wird. In Chile geht es kei­neswegs um die Politik der aktu­ellen Regierung oder um den aktu­ellen Prä­si­denten. Die Gründe liegen weitaus tiefer und sind auch viel älter. Die Fahr­preis­er­hö­hungen für die chi­le­nische U‑Bahn sind nicht der Grund der Pro­teste, sondern nur der Tropfen, der das Fass zum Über­laufen gebracht hat. Daher will ich auf die Vor­ge­schichte eingehen.
Die Geschichte geht zurück ins Jahr 1973. Damals hatte sich General Pinochet mit mas­siver Unter­stützung der CIA gegen den demo­kra­tisch gewählten Prä­si­denten an die Macht geputscht. Chile wurde unter Pinochet zu einem wirt­schafts­po­li­ti­schen Exper­mi­ne­tierfeld. Er holte chi­le­nische Wirt­schafts­wis­sen­schaftler ins Land, die in Chicago stu­diert hatten und sich daher „Chicago Boys“ nannten. Sie krem­pelten Chiles Wirt­schaft kom­plett um, indem sie auf eine markt­ra­dikale, neo­li­berale Politik in Rein­kultur setzten. Regu­lie­rungen wurden abge­schafft und es wurde wirklich alles pri­va­ti­siert. In Chile kann man also die Aus­wir­kungen einer neo­li­be­ralen Wirt­schafts­po­litik besser beob­achten, als überall sonst auf der Welt.
Oft sind in ärmeren, aber eini­ger­maßen ent­wi­ckelten Ländern die Lebens­hal­tungs­kosten nied­riger, als in Deutschland, weil manches sub­ven­tio­niert wird, damit es für die Men­schen zu Leben reicht. Das kann Lebens­mittel betreffen, den Nah­verkehr, Benzin und Heizung und so weiter. In Russland zum Bei­spiel reichen die mini­malen Renten trotzdem mehr oder weniger zum Leben, weil die Rentner sehr viel umsonst bekommen. Jede rus­sische Region kann dazu eigene Regeln auf­stellen, aber meist ist der ÖPNV für Rentner gratis, auf Medi­ka­mente und Wohn­ne­ben­kosten gibt es große Rabatte, in manchen Regionen bekommen sie sogar einen jähr­lichen Urlaub in einem Kurort bezahlt. Ich habe das hier mal ana­ly­siert.
In Chile gibt es kei­nerlei Sub­ven­tionen für den Bedarf der ein­fachen Men­schen. Die Lebens­hal­tungs­kosten in Chile sind etwa so hoch, wie in Deutschland. Nur sind die Ein­kommen dort wesentlich nied­riger, wie wir gleich sehen werden.
In Chile wurde vor 40 Jahren alles pri­va­ti­siert, ange­fangen bei der Rente. Einige Staats­fonds sammeln die Bei­träge ein und legen das Geld an, die staat­liche Rente ist nicht einmal mehr sym­bo­lisch zu nennen. Das Ergebnis ist, dass derzeit die Renten bei 220 Euro liegen, wovon man nicht leben kann. Und selbst diese Rente bekommen nicht alle. Zwi­schen 30 und 40 Prozent der arbei­tenden Men­schen zahlen dort nicht in das Ren­ten­system ein. Der Bei­tragssatz beträgt 10 Prozent, für viele ist das nicht finan­zierbar, zumal die Rente sowieso nicht reicht. Das bedeutet, dass etwa ein Drittel der Rentner kei­nerlei Ren­ten­an­spruch hat bzw. haben wird.
Bei der Bildung ist es noch gru­se­liger in Chile. Auch hier wurde alles pri­va­ti­siert. Schulen finan­zieren sich über die Anzahl der Schüler. Damit ist ein Kon­kur­renz­kampf um Schüler ent­standen und da private Schulen zusätzlich auch Schulgeld nehmen dürfen, ist es klar, wer Bildung ver­mittelt bekommt und wer nicht. Das deutsche Wiki­pedia schreibt dazu beschö­nigend:
„Negative Folge ist eine starke Pola­ri­sierung der Schulen. Solche in armen Vierteln und Gegenden sind in der Regel sehr viel schlechter als Gebüh­ren­pflichtige. Zu sehen ist das an den jähr­lichen Ver­gleichstest und Ran­kings und am zen­tralen Uni­zu­gangstest (PSU), bei dem regel­mäßig ein Großteil der Unter­schicht scheitert. Das selektive Bil­dungs­system ist also ein wich­tiger Faktor bei der Auf­recht­erhaltung der Ungleichheit im Land.“
Das klingt unfair, aber nicht dra­ma­tisch. Dra­ma­tisch wird es erst, wenn man es in Zahlen aus­drückt: Nur sieben Prozent der Schüler bekommen eine Bildung, mit der sie zum Studium zuge­lassen werden können. Und das sind natürlich die Kinder reichsten Men­schen des Landes, die über­wie­gende Mehrheit ist in der Falle aus Armut und mise­rabler Bildung gefangen.
Und auch im Gesund­heits­system geht es in Chile schrecklich zu, wie man in dem auf Latein­amerika spe­zia­li­sierten Portal amerika21 in einer Analyse nach­lesen kann:
„Wer genügend Geld bezahlen kann, kann sich in einer Klinik behandeln lassen, wer dieses Geld nicht hat, muss sich in einem öffent­lichen Kran­kenhaus behandeln lassen. Die Unter­schiede zwi­schen beiden Ein­rich­tungen sind genauso erheblich wie zwi­schen zu bezah­lenden pri­vaten Bil­dungs­ein­rich­tungen und öffent­lichen wei­ter­füh­renden Schulen.“
Und Geld haben in Chile die Wenigsten. Die Höhe der Renten haben wir schon gesehen, daher kommen wir nun zum Durch­schnitts­gehalt. Das liegt in Deutschland zum Ver­gleich bei ca. 3.000 Euro brutto pro Monat, in Chile sind es 429 Euro. Und das bei den gleichen Lebens­hal­tungs­kosten, wie in Deutschland.
In Chile können wir also sehen, wohin eine neo­li­berale und markt­ra­dikale Wirt­schafts­po­litik führt. Die deut­schen Medien sehen Chile jedoch als Vorbild für die Region, weil dort die Wirt­schaft so schön wächst. Das Problem ist, dass von dem schönen Wirt­schafts­wachstum nichts bei den Men­schen ankommt. Der Gini-Koef­fizent ver­gleicht die Ver­mö­gens­ver­teilung in den Ländern der Welt. Auf der welt­weiten Liste steht Chile ziemlich am Ende der Liste, die Ver­teilung ist also extrem ungerecht.
Das zeigt sich, wenn man das Brut­to­in­lands­produkt (BIP) mit den Ein­kommen ver­gleicht. In Deutschland beträgt das kauf­kraft­be­rei­nigte BIP ca. 52.000 Dollar pro Kopf und das durch­schnitt­liche Jah­res­ein­kommen liegt bei etwas über 40.000 Dollar. Und wir spüren in Deutschland schon, dass es eine Unge­rech­tigkeit bei Ein­kommen und Ver­mögen gibt. In Chile liegt das kauf­kraft­be­rei­nigte BIP bei 25.700 Dollar pro Kopf, das Durch­schnitts­ein­kommen jedoch nur bei ca. 6.000 Dollar. Daran sieht man schon, wie unge­recht die Ver­teilung in Chile ist.
Was bringt den Leuten Wirt­schafts­wachstum, wenn sie davon nicht pro­fi­tieren? Das ist das Problem in Chile, wo der Neo­li­be­ra­lismus seit fast 40 Jahren in Rein­kultur herrscht. Die Folgen sind eine extreme Unge­rech­tigkeit und eine extreme Armut, denn bei dem genannten Durch­schnitts­gehalt von 429 Euro monatlich liegt die Armuts­grenze für eine vier­köpfige Familie bei 532 Euro monatlich. In Chile leben also ganz offi­ziell ca. die Hälfte der Men­schen unter er Armuts­grenze bzw. an der Armuts­grenze. Und es sei wie­derholt: Die Lebens­hal­tungs­kosten sind so hoch, wie in Deutschland.
Hier bestellen!

Diese Zahlen kann man jedoch in den Artikeln der Main­stream-Presse nicht finden, sie ver­klau­su­lieren die Situation und der Leser kann nicht ver­stehen, wie es zu solchen Pro­testen in dem „wirt­schaft­lichen Mus­terland“ Chile kommen kann. So hat zum Bei­spiel der deutsche staat­liche Aus­lands­sender Deutsche Welle Valeska Hesse, Lei­terin der Abteilung Latein­amerika der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), wie folgt zitiert:
„Chile ist das neo­li­be­ralste Land der Welt. Alle Bereiche des öffent­lichen Lebens sind pri­va­ti­siert: Renten, Gesundheit, Bildung.“ Doch viele Chi­lenen kommen offenbar kaum über die Runden – ein wich­tiger Aus­löser für den Protest: „Die Mit­tel­schicht in Chile ver­dient im Durch­schnitt etwa 700 Euro im Monat und hat Lebens­hal­tungs­kosten die ver­gleichbar sind mit Berlin.“
Man muss auf die Details achten. Frau Hesse hat nicht von den Durch­schnitts­löhnen gesprochen, sondern von der Mit­tel­schicht, die 700 Euro im Monat ver­dient. Die Mit­tel­schicht wird so defi­niert, dass sie zwi­schen 60 und 100 Prozent mehr ver­dient, als der Durch­schnitt. Wenn wir also vom genannten Durch­schnitts­ein­kommen in Deutschland von 3.000 Euro brutto aus­gehen, dann liegt die Mit­tel­schicht in Deutschland bei 4.800 bis 6.000 Euro Monats­ein­kommen. In Chile sind es 700 Euro.
Wenn man die Situation in einem Land ver­stehen will, muss man sich das Durch­schnitts­ein­kommen anschauen und nicht, was die soge­nannte Mit­tel­schicht ver­dient, der es um einiges besser geht, als dem Durch­schnitt. In Chile jedoch ist die Situation so, dass selbst die Mit­tel­schicht nicht genug zum Leben hat und jeden Peso dreimal umdrehen muss.
Auch im Spiegel werden dem Leser die Pro­bleme in Chile vor­ent­halten. Dort konnte man zum Bei­spiel lesen:
„Die Pro­teste hatten sich vor einer Woche an der Erhöhung der Preise für U‑Bahn-Tickets in Santiago um umge­rechnet vier Euro-Cent ent­zündet. Sie wei­teten sich rasch auf das ganze Land aus, mit For­de­rungen, die weit über die ursprünglich bean­stan­deten Fahr­preise hin­aus­gingen. Dabei entlud sich auf­ge­stauter Ärger unter anderem wegen nied­riger Löhne und Renten, hoher Preise, hoher Stu­di­en­ge­bühren und wegen extremer Unter­schiede zwi­schen Armen und Reichen.“
Und der Leser fragt sich, was denn da los ist, dass die Men­schen wegen vier Cent Preis­er­höhung Mas­sen­pro­teste ver­an­stalten. Und der Ärger entlud sich laut Spiegel „unter anderem wegen nied­riger Löhne und Renten, hoher Preise, hoher Stu­di­en­ge­bühren und wegen extremer Unter­schiede zwi­schen Armen und Reichen„. Ich würde sagen, dass es nicht „unter anderem„, sondern aus­schließlichwegen nied­riger Löhne und Renten, hoher Preise, hoher Stu­di­en­ge­bühren und wegen extremer Unter­schiede zwi­schen Armen und Reichen“ eska­liert ist.
In einem anderen Artikel zitiert der Spiegel einen Mis­sionar von der Orga­ni­sation JUPIC (Gerech­tigkeit, Frieden und Einheit der Schöpfung) mit den Worten:
„Selbst hier bei uns gehen jeden Tag Fischer, Ärzte, Kran­ken­schwestern und Lehrer auf die Straße. Und alle fordern was anderes, und alle fordern es jetzt sofort“
Das klingt so, als seien die Pro­teste irgendwie grundlos, wenn jeder was anderes, aber bitte sofort fordert. Dabei sind die For­de­rungen ein­deutig, die Men­schen wollen einen Sys­tem­wechsel. Das kann man in einem anderen Spiegel-Artikel sogar ver­schämt lesen. In dem Artikel ging es darum, dass der Prä­sident ein paar Maß­nahmen beschlossen hat, um die Situation zu beruhigen:
„Nach einer Woche mit schweren Aus­schrei­tungen, Ver­wüs­tungen und Plün­de­rungen, aber auch vielen gewalt­freien Demons­tra­tionen kün­digte Piñera ein umfas­sendes Paket von Sozi­al­maß­nahmen an, das 1,2 Mil­li­arden Dollar kosten soll:
der Min­destlohn soll auf 350.000 Pesos (435 Euro) erhöht werden
die Renten sollen um 20 Prozent steigen
eine Strom­erhöhung um knapp zehn Prozent soll stor­niert werden
Maß­nahmen zur Redu­zierung der Gesund­heits­kosten sollen beschlossen werden
Steu­er­erhö­hungen sowie die Senkung der Ein­kommen von Par­la­men­ta­riern und hohen Staats­be­amten sind geplant“
Diese Ankün­di­gungen sind jedoch nur kos­me­ti­scher Natur und ändern nichts an der Lage der Men­schen, wenn nicht das System ver­ändert wird. Der Spiegel-Artikel ist lang und erst ganz am Ende kommt ver­schämt das, was ich gemeint habe:
„Vielen Chi­lenen gehen die Reformen nicht weit genug. Sie halten sie für kos­me­tische Ver­bes­se­rungen an einem neo­li­be­ralen Modell, das sie grund­sätzlich ablehnen: An dem auf Gewinn opti­mierten Gesund­heits- und Bil­dungs­system, an Unter­nehmen, die ohne staat­liche Regu­lierung Preise fest­legen und Leis­tungen ein­schränken, hat der Prä­sident bisher nicht gerüttelt.“
Woran erinnert mich das bloß? Ähn­liches haben wir in den letzten 12 Monaten in Frank­reich erlebt. Die Gelb­westen sind auch wegen einer Erhöhung von Preisen auf die Straße gegangen. Aber die Erhöhung der Ben­zin­preise war nicht der Grund, es war nur der Aus­löser. Der Grund war, dass das Geld vieler Men­schen wegen hoher Abgaben kaum mehr zum Leben reicht, während gleich­zeitig im Zuge neo­li­be­raler Reformen Steuern für Unter­nehmen und Mil­lionäre gesenkt wurden. Obwohl die Gelb­westen immer noch demons­trieren, hört man nichts mehr von ihnen. Die Frage ist, ob es in Chile auch so einfach wird, die Pro­teste mit einer Mischung aus Aus­sitzen, kos­me­ti­schen Reformen und Poli­zei­gewalt abzuschwächen.
In Chile waren an einem Tag schon über eine Million Men­schen auf der Straße, danach konnte der Prä­sident nicht anders, als irgendwie zu reagieren. Eine Million Men­schen in Chile, das wäre so, als wenn in Deutschland fünf Mil­lionen auf die Straße gehen würden. Die größte Demo in Deutschland war wahr­scheinlich die Demons­tration gegen den Nato-Dop­pel­be­schluss im Jahre 1982 mit 500.000 Demons­tranten. Und vor dem Zusam­men­bruch der DDR demons­trierten ca. 300.000 Men­schen bei den Mon­tags­de­mons­tra­tionen. Man muss also ganz nüchtern kon­sta­tieren, dass die Unzu­frie­denheit der Chi­lenen ungleich größer sein muss als alles, was wir in der jün­geren deut­schen Geschichte selbst erlebt haben.
Und diese Unzu­frie­denheit kann auch nie­manden ver­wundern, schließlich ist Chile ein durchaus ent­wi­ckeltes Land, in dem die Men­schen trotzdem in bit­terer Armut leben, während einige wenige es sich gut gehen lassen. Und wenn wir uns an die Bildung erinnern, dann hat das neo­li­berale System, das in Chile seit 40 Jahren wütet, dazu geführt, dass auch niemand mehr sich damit trösten kann, dass es den Kindern mal besser gehen wird, denn die Kinder von Nor­mal­sterb­lichen (also auch der Mit­tel­schicht) haben keine Chance, es auf eine Uni­ver­sität zu schaffen. Ihre Armut ist vorgezeichnet.
Wir können also ganz nüchtern fest­stellen, dass der Neo­li­be­ra­lismus, wenn er in aller Kon­se­quenz ein­ge­führt wird, nicht zu Wohl­stand und Freiheit, sondern zu Armut, Ungleichheit und Per­spek­tiv­lo­sigkeit bei der Mehrheit der Bevöl­kerung führt.
Aber da das neo­li­berale System ja das System ist, welches uns von Politik und Medien als „alter­na­tivlos“ gepredigt wird, tun die Medien alles, um von diesen Gründen für die Pro­teste in Chile abzu­lenken. So konnte man im Spiegel auch lesen:
„Die Börse in der Haupt­stadt Santiago brach am Dienstag um 4,6 Prozent ein, der Peso verlor massiv an Wert. Schon jetzt ist klar: Die Pro­teste werden das süd­ame­ri­ka­nische Land, das bisher als das wirt­schaftlich sta­bilste der Region galt, um Jahre zurückwerfen.“
Wenn Men­schen gegen men­schen­un­würdige Bedin­gungen in ihrem Land demons­trieren, dann sorgt sich der Spiegel um die Börse und die Wirt­schaft. Aber was die Men­schen davon gehabt haben, dass Chile „bisher als das wirt­schaftlich sta­bilste der Region galt„, das fragt der Spiegel nicht.
Der Leser des Spiegel erfährt, dass die Men­schen wegen vier Cent Preis­er­höhung auf die Straße gehen und „alle was anderes und zwar sofort“ fordern. Und er erfährt, dass das für die Börse und die Wirt­schaft ganz schlimm ist und sie „um Jahre zurück­wirft„. Aber keine Details über Lebens­um­stände der Men­schen, es fallen lediglich all­ge­meine Worte darüber, dass die Löhne niedrig, die Preise hoch und die Ungleichheit groß ist. Da denkt sich der Deutsche doch: „Das ist doch hier auch so, deshalb muss man doch nicht gleich randalieren“.
Außer solchen all­gemein gehal­tenen For­mu­lie­rungen gibt es im Spiegel kein Wort über die Situation im Land und darüber, was der Neo­li­be­ra­lismus, den Politik und Medien auch für Deutschland pro­pa­gieren, in Chile in 40 Jahren ange­richtet hat.
Und natürlich musste man nicht lange warten, bis die USA, die den Neo­li­be­ra­lismus in die Welt tragen wollen und unter deren Ein­fluss Pinochet ihn in Chile ein­ge­führt hat, den Schul­digen benennen. Und dreimal dürfen Sie raten, wer an allem Schuld ist. Natürlich die Russen!
Und das berichtet der Spiegel auch gerne aus­führlich:
„Ein rang­hoher Ver­treter des US-Außen­mi­nisters warf Russland vor, die Debatte in Chile durch Bei­träge soge­nannter Internet-Trolle in Online­netz­werken zu „ver­zerren“. Mit Trollen sind Inter­net­nutzer gemeint, die bewusst Dis­kus­sionen stören und die Atmo­sphäre in Online­de­batten ver­giften. Der Minis­te­ri­ums­ver­treter sagte, die rus­sische Kam­pagne ziele darauf ab, die Mei­nungs­un­ter­schiede in Chile zu ver­schärfen, Kon­flikte zu schüren und eine „ver­ant­wor­tungs­volle demo­kra­tische Debatte“ zu stören.“
Die Men­schen sind auf­grund einer US-Wirt­schafts­po­litik verarmt und per­spek­tivlos, aber Russland ist Schuld an den Pro­testen, das ist doch ein­leuchtend, oder? Anstatt aber darauf ein­zu­gehen und seinen Lesern etwas über unhalt­baren Zustände in Chile zu berichten, sind für den Spiegel die US-Behaup­tungen unbestritten:
„Nach Ein­schätzung der US-Behörden hat Russland 2016 auch in den USA ver­sucht, durch die massive Ver­breitung von Falsch­in­for­ma­tionen Ein­fluss auf die Prä­si­dent­schaftswahl zu nehmen und durch Pola­ri­sierung die Wahlen zur Prä­si­dent­schaft zu beein­flussen, die dann Donald Trump gegen Hillary Clinton gewann.“
Dass seit dem Mueller-Bericht offi­ziell bekannt ist, dass es die rus­sische Wahl­ein­mi­schung nicht gegeben hat, sondern ein Manöver von Clinton war, um Trump zu dis­kre­di­tieren und die Wahl zu gewinnen, das erwähnt der Spiegel nicht.
So geht „Qua­li­täts­jour­an­lismus“ in Deutschland: Man berichtet keine Hin­ter­gründe, hält die Leser dumm, ver­stärkt statt­dessen Kli­schees wie die längst wider­legte rus­sische Wahl­ein­mi­schung und lässt den Leser glauben, dass wirt­schafts­li­berale Methoden Wohl­stand für alle bringen. Dabei gibt es für diese Behauptung nicht ein ein­ziges Bei­spiel, oder können Sie mir eines nennen?
Nachwort für alle Fach­leute unter meinen Lesern: Mir ist klar, das ich bei den Zahlen stark ver­ein­facht habe. Um Durch­schnitts­gehalt und Mit­tel­schicht zu defi­nieren, müsste man eigentlich nach Brutto und Netto und auch nach Anzahl der Mit­glieder eines Haus­haltes fragen. Aber ich wollte hier keine wis­sen­schaft­liche Arbeit schreiben, mir ging es darum, das prin­zi­pielle Problem auf­zu­zeigen und dazu haben mir diese etwas ver­ein­fachten Zahlen aus­ge­reicht. Es ist nicht kriegs­ent­scheidend, ob das Durch­schnitts­gehalt in Deutschland bei 3.000 oder 3.200 liegt und ob es netto je nach Steu­er­klasse und Kindern im Haushalt dann 2.300 oder 1.600 Euro sind. Ent­scheidend war mir, die Lebens­si­tuation und die Hin­ter­gründe auf­zu­zeigen, die in Chile herr­schen und zu den Pro­testen geführt haben. 

Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“