„Zensur für alle“

Löcher in der Matrix — “Zensur für alle”

Von smartinvestor.de

„Pro­tokoll der span­nendsten Par­la­ments­sitzung des Jahres: Das Ehe-für-alle-Drama im Bun­destag“ (bild.de, 30.6.2017)

Das soll sie also gewesen sein, „die span­nendste Par­la­ments­sitzung des Jahres“, das „Ehe-für-alle-Drama im Bun­destag“. Am Ende stimmten 393 Abge­ordnete dafür, 226 dagegen und vier ent­hielten sich. Auch nach Adam Riese war es also ein echtes „Herz­schlag­finale“, denn die Befür­worter konnten sich gerade einmal eine hauch­dünne Mehrheit von 63% der abge­ge­benen Stimmen sichern, während ihnen die Gegner mit 36% bis zuletzt „dicht“ auf den Fersen blieben. Nervenzerreißend.

Das Thema kam für viele ohnehin buch­stäblich aus dem Nichts. Nach der offi­zi­ellen Chro­no­logie soll die Frage „Wann kann ich zu meinen Freund Ehe­partner sagen?“, die ein junger Mann der Kanz­lerin in einer Talk­runde stellte, der Aus­löser gewesen sein. „Ehe­partner, bringst Du mal den Müll raus?“, wer kennt das nicht? Martin „The Train“ Schulz (SPD) ließ sich diesen Strohhalm jeden­falls nicht zweimal vor die Nase halten. Mit dem Mut des Ertrin­kenden packte der zu und ließ die heutige Abstimmung auf die Tages­ordnung setzen.

Über die behauptete „gesell­schaft­liche Relevanz“ des Themas mag man streiten: Laut destatis Daten­report 2016 (Daten von 2014) gab es in der Bun­des­re­publik 8,1 Mio. Haus­halte in denen Familien mit Kindern lebten, 18 Mio. Haus­halte mit Allein­ste­henden und 41.000 Haus­halte mit ein­ge­tra­genen gleich­ge­schlecht­lichen Part­ner­schaften. Selbst wenn man diese Zahlen um nicht-ein­ge­tragene gleich­ge­schlecht­liche Part­ner­schaften sowie eine ver­mutete „Dun­kel­ziffer“ kräftig erhöht und anschließend groß­zügig auf­rundet, wird man fest­stellen, dass das Thema „Ehe für alle“ tat­sächlich mehr als 95% der Bür­ge­rinnen und Bürger nicht direkt betrifft. Enga­gieren soll und darf man sich natürlich trotzdem wofür man mag und „das ist auch gut so“ (Klaus Wowereit).

Wer die real exis­tie­rende Ehe kennt, wird das Brim­borium, das von allen Seiten darum gemacht wird, ohnehin nur bedingt nach­voll­ziehen können. Die ent­schei­dende Frage ist also, warum um das Nischen­thema einer „Ehe für alle“ ein solcher medialer Wind ent­facht wurde? Oder fragt man besser gleich, was im Wind­schatten heute sonst noch so alles geschah? Und siehe da, das von Bun­des­jus­tiz­mi­nister Heiko Maas auf den Weg gebrachte „Netz­werk­durch­set­zungs­gesetz“ wurde eben­falls ver­ab­schiedet. In diesem Gesetz geht es um nichts anderes als um Zensur – und die betrifft nun wirklich jeden ein­zelnen. Das eigentlich rele­vante Thema des Tages war demnach nicht die „Ehe für alle“ sondern „Zensur für alle“ – wie in solchen Fällen üblich, um der guten Sache willen.

Nur „Qua­li­täts­medien“ wie bild.de sind davon anscheinend nicht betroffen, denn in der Bericht­erstattung über die „span­nendste Par­la­ments­sitzung des Jahres“, wurde das Maas-Gesetz mit keinem Wort erwähnt. Für derart lini­en­treue Medien benötigt in der Tat kein Macht­haber der Welt ein Zen­sur­gesetz. Aber auch die Abge­ord­neten demons­trierten Des­in­teresse. Nachdem zuvor noch rund 630 Par­la­men­tarier anwesend waren, leerte sich der Bun­destag beim Netz­werk­durch­set­zungs­gesetz rasant – zur Abstimmung blieben ganze 40! Eilte man nur ins mehr oder weniger ver­diente Wochenende oder flüchtete man aus der Ver­ant­wortung? Wer will schon in den Geschichts­bü­chern als einer stehen, der bei einem auto­ri­tären und schänd­lichen Angriff auf die Mei­nungs­freiheit mit­ge­nickt hat? Bei einem Gesetz, das bis in die Ver­einten Nationen hinein auf Kritik stieß und wahl­weise als ver­fas­sungs­widrig, euro­pa­rechts­widrig oder völ­ker­rechts­widrig cha­rak­te­ri­siert wurde.

Höchst sehenswert sind die Aus­füh­rungen, die Rechts­anwalt Joachim Nikolaus Stein­höfel dazu vor­gestern im Sta­si­museum in Berlin machte. Einen bes­seren Ort hätte er dafür nicht wählen können. Sein Scharfsinn steht jeden­falls in wohl­tu­endem Gegensatz zur brä­sigen Arroganz poli­ti­scher Parteienmacht.

Für unsere Heft­ka­te­gorie „Löcher in der Matrix“ sammeln wir laufend Erstaun­liches und Schräges aus der Welt der Medien. Unser wöchent­liches Update.
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