Das Konzept palästinensischer Identität und palästinensischen Nationalismus‘ ist eine Erfindung neuerer Zeit.
Früher wurden die im heute als Palästina bekannten Gebiet lebenden Araber genau wie zur heutigen Zeit sowohl von Aussenstehenden als auch von ihren eigenen Wortführern als Mitglieder der allgemeinen arabischen Bevölkerung angesehen, ohne weitere eigene oder gesonderte Identität. In jüngerer Zeit hat sich allerdings ein palästinensischer Nationalismus entwickelt, der zu einem politischen Faktor geworden ist.
Die jüngst von Newt Gingrich gemachte Äusserung, die Palästinenser seien ein „erfundenes Volk“, wurde von politischen Gegnern als Zeichen mangelnder Nüchternheit und Stabilität kritisiert. Doch was auch immer man auch von Gingrichs Scharfsinn oder Urteilsvermögen im Hinblick auf andere Fragen hält und ungeachtet der eigenen Ansicht zur Frage eines neben dem Staat Israel existierenden palästinensischen Staates und seines Charakters: Gringrichs Behauptung über die Palästinenser ist richtig. Zwei Faktoren zeigen dies. Der erste ist der bereits genannte: weder in früheren Zeiten noch derzeit werden die im heute als Palästina bekannten Gebiet lebenden Araber als eine eigene Einheit betrachtet, sondern als Teil des allgemeinen arabischen Volkes. Das wurde von arabischen Wortführern, von Gelehrten und von objektiven internationalen offiziellen Berichten so festgestellt. Der zweite Faktor: es hat bisher niemals einen unabhängigen palästinensischen Staat gegeben, geschweige denn einen, der eine „palästinensische Identität“ manifestiert hätte.
Einige Beispiele verdeutlichen dies. Der erste Kongress der muslimisch-christlichen Vereinigungen in der Region kam im Februar 1919 zusammen, um sich mit der Zukunft des Gebietes zu befassen, das vormals durch das nach dem Ersten Weltkrieg aufgelöste Osmanische Reich regiert worden war. Der Kongress erklärte: „Wir betrachten Palästina als Teil des arabischen Syrien, da es zu keiner Zeit davon getrennt gewesen ist. Wir sind mit ihm durch nationale, religiöse, sprachliche, moralische, wirtschaftliche und geographische Verbindungen verbunden.“ Die Aussage des berühmten Wissenschaftlers Philip Hitti im Jahr 1946 vor dem Anglo-American Committee lautete, so etwas wie Palästina gebe es in der Geschichte nicht, „absolut nicht“.
Die Palästinenser selbst sind zum gleichen Ergebnis gelangt. Der palästinische Wortführer Ahmad Shukeiri sagte dem UN-Sicherheitsrat im Jahr 1956, Palästina sei nichts anderes als das südliche Syrien. Der Anführer der Abteilung der militärischen Angelegenheiten der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Zuhair Muhsin, erklärte am 31. März 1977: „Nur aus politischen Gründen unterstreichen wir sorgfältig unsere palästinensische Identität. … die Existenz einer eigenen palästinensischen Identität ist aus taktischen Gründen da.“ Die PLO erklärt in ihrer eigenen Charta oder Berichtigten Verfassung (Artikel 1), dass Palästina Teil der arabischen Nation sei.
Zur dieser „arabischen Nation“ gehörte niemals ein als „Palästina“ bekannter Staat. Vielmehr waren die Bewohner des allgemeinen palästinensischen Gebietes nicht Untertanen einer arabischen Nation, sondern des Osmanischen Reiches, das von 1516 bis 1918 über das Gebiet herrschte. Dies war die letzte anerkannte souveräne Hoheitsgewalt in der Region. Das Gebiet Palästinas war ein Distrikt des Reiches, offiziell ein Vilayet (eine Grossprovinz), keine eigene politische Einheit. Kein unabhängiger palästinensischer Staat ist jemals gegründet worden, und es gab noch nie eine administrative oder kulturelle Einheit der Palästinenser. Araber dieser Region unterschieden sich in keiner Weise von anderen Arabern des Nahen Ostens. Und Israel wurde auf den Überresten keines anderen Staates als denen des Osmanischen Reiches gegründet.
Auf der anderen Seite existierte ein souveräner jüdischer Staat schon bevor das Römische Reich gross wurde. Obwohl die Römer den herodianischen Tempel zerstörten, den Namen des Landes änderten in Syria Palaestina und die Juden aus Jerusalem verbannten, löschte dies nicht die gesamte jüdische Präsenz in der Region aus. Zudem hielten die Juden in der Diaspora ein starkes Bewusstsein der historischen Verbindung des jüdischen Volkes mit Palästina wach – einer Verbindung, die im Mandat des Völkerbundes bestätigt wurde. Für den jüdischen Nationalismus waren legendäre Erzählungen von Gestalten wie Moses und anderen als gemeinsame Vorfahren und Begründer des jüdischen Volkes wichtig.
Auch in anderen Völkern gibt es mythische Gestalten, die ihre Herkunft begründen: Vercingetorix und Chlodwig in Frankreich, der Cherusker Herrmann in Deutschland, und Romulus und Remus in Italien. Genauso kann es im jüdischen Nationalismus ausser jahrhundertealten Traditionen auch gewisse erfundene Elemente geben. Wichtig ist jedoch, dass die Juden ein Volk bilden – eine Gruppe von Personen, die nicht nur durch eine gemeinsame Religion verbunden sind, sondern auch als Mitglieder einer ethnischen Gemeinschaft mit Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit, gemeinsame Zeremonien und eine eigene Kultur sowie an gemeinsame Rechtskodizes, soziales Verhalten, Mythen und Symbole. Zwischen den Juden gibt es eine Volkszugehörigkeit, eine subjektive Überzeugung von der gemeinsamen Abstammung von Vorfahren in Judäa und Samaria.
Die erste offizielle Benennung Palästina als eigenständiger bestimmter territorialer Bereich kam zusammen mit der Entscheidung des Völkerbundes im Hinblick auf die Gebiete des vormaligen Osmanischen Reiches, ein Mandat für Palästina zu schaffen. Es wurde Grossbritannien übertragen, das das Gebiet vom Mittelmeer bis westlich des Jordan von 1922 bis Mai 1948 regierte.
Alle in diesem Gebiet lebenden Einwohner wurden ohne jegliche ethnische Implikationen als „Palästinenser“ bezeichnet. Ironischerweise wurde der Name nicht von den Arabern, sondern nur von den Juden in der Region benutzt, wie in The Palestinian (heute: Jerusalem) Post oder im Palestine Symphony (heute: Israel Philharmonic) Orchestra. Erst nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 wurde der Begriff „Palästinenser“ ausschliesslich in Bezug auf die Araber der Region verwendet.
Inzwischen nun ist das Konzept palästinensischer Identität und palästinensischen Nationalismus entstanden und zu einem politischen Faktor geworden. Ob es zuerst vor einem Jahrhundert aus literarischen Gesellschaften und Missionsgruppen, aus dem Einfluss der Arabischen Revolte von 1916–1918 in der Wüste des Hedschas in Arabien oder als Nachahmung der Aktionen der Jungtürken, die im Jahr 1908 die Macht im Osmanischen Reich ergriffen, hervorging, ist irrelevant. Das neue Konzept wurde in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wichtig als Forderung der Araber auf Selbstbestimmung und als Reaktion auf die zunehmende Bedeutung des Zionismus und die Durchsetzung der Selbstbestimmung des jüdischen Volkes. Der wichtigste Faktor, der zur Idee und Entwicklung einer palästinensischen nationalen Identität führte, war die Gründung des Staates Israel und die arabische Niederlage gegen Israel im Jahr 1948/1949. Man könnte sogar sagen, sie entwickelte sich in der Nachahmung der zionistischen Bewegung. Eine palästinensische nationale Identität wurde formal erst mit der Bildung der PLO im Jahr 1964 geltend gemacht.
Das wesentliche Problem ist nicht nur ein terminologisches – die Weigerung vieler, anzuerkennen, dass die Kategorie der palästinensischen Identität eine neuere Erfindung ist. Vielmehr wird das Beharren auf einem mutmasslichen, altehrwürdigen Recht des palästinensischen Volkes auf das umstrittene Land als argumentative Waffe gegen das Existenzrecht Israels benutzt. Dieses Beharren ist ein Hindernis für ein friedliches, ausgehandeltes Abkommen zwischen den Palästinensern und Israel. Die Entscheidung über die Ausübung hoheitlicher Gewalt in Palästina muss in einer umfassenden Friedensvereinbarung festgelegt werden.
Michael Curtis ist Professor emeritus für Politikwissenschaften an der Rutgers University. Originalversion: Palestinians: Invented People by Prof. Michael Curtis © BESA Perspectives Papers on Current Affairs # 157, December 20, 2011.
Quelle: Audiatur und TheEuropean.de