Palestine Nakba Day Demo in Berlin

Paläs­ti­nenser — Ein erfun­denes Volk?

Pal­estine Nakba Day Demo in Berlin

Das Konzept paläs­ti­nen­si­scher Iden­tität und paläs­ti­nen­si­schen Natio­na­lismus‘ ist eine Erfindung neuerer Zeit.

Früher wurden die im heute als Palästina bekannten Gebiet lebenden Araber genau wie zur heu­tigen Zeit sowohl von Aus­sen­ste­henden als auch von ihren eigenen Wort­führern als Mit­glieder der all­ge­meinen ara­bi­schen Bevöl­kerung ange­sehen, ohne weitere eigene oder geson­derte Iden­tität. In jün­gerer Zeit hat sich aller­dings ein paläs­ti­nen­si­scher Natio­na­lismus ent­wi­ckelt, der zu einem poli­ti­schen Faktor geworden ist.

Die jüngst von Newt Gingrich gemachte Äus­serung, die Paläs­ti­nenser seien ein „erfun­denes Volk“, wurde von poli­ti­schen Gegnern als Zeichen man­gelnder Nüch­ternheit und Sta­bi­lität kri­ti­siert. Doch was auch immer man auch von Ging­richs Scharfsinn oder Urteils­ver­mögen im Hin­blick auf andere Fragen hält und unge­achtet der eigenen Ansicht zur Frage eines neben dem Staat Israel exis­tie­renden paläs­ti­nen­si­schen Staates und seines Cha­rakters: Gring­richs Behauptung über die Paläs­ti­nenser ist richtig. Zwei Fak­toren zeigen dies. Der erste ist der bereits genannte: weder in frü­heren Zeiten noch derzeit werden die im heute als Palästina bekannten Gebiet lebenden Araber als eine eigene Einheit betrachtet, sondern als Teil des all­ge­meinen ara­bi­schen Volkes. Das wurde von ara­bi­schen Wort­führern, von Gelehrten und von objek­tiven inter­na­tio­nalen offi­zi­ellen Berichten so fest­ge­stellt. Der zweite Faktor: es hat bisher niemals einen unab­hän­gigen paläs­ti­nen­si­schen Staat gegeben, geschweige denn einen, der eine „paläs­ti­nen­sische Iden­tität“ mani­fes­tiert hätte.

Einige Bei­spiele ver­deut­lichen dies. Der erste Kon­gress der mus­li­misch-christ­lichen Ver­ei­ni­gungen in der Region kam im Februar 1919 zusammen, um sich mit der Zukunft des Gebietes zu befassen, das vormals durch das nach dem Ersten Welt­krieg auf­ge­löste Osma­nische Reich regiert worden war. Der Kon­gress erklärte: „Wir betrachten Palästina als Teil des ara­bi­schen Syrien, da es zu keiner Zeit davon getrennt gewesen ist. Wir sind mit ihm durch nationale, reli­giöse, sprach­liche, mora­lische, wirt­schaft­liche und geo­gra­phische Ver­bin­dungen ver­bunden.“ Die Aussage des berühmten Wis­sen­schaftlers Philip Hitti im Jahr 1946 vor dem Anglo-Ame­rican Com­mittee lautete, so etwas wie Palästina gebe es in der Geschichte nicht, „absolut nicht“.

Das United Nations Special Com­mittee on Pal­estine (UNSCOP) merkte in seinem Bericht vom 3. Sep­tember 1947 an, dass der paläs­ti­nen­sische Natio­na­lismus, im Gegensatz zum ara­bi­schen Natio­na­lismus, ein ver­hält­nis­mässig neues Phä­nomen sei. Es befand, dass die paläs­ti­nen­sische Iden­tität Teil eines umfas­senden Geflechts von Iden­ti­täten sei, das sich haupt­sächlich auf ara­bische und isla­mische Soli­da­rität begründet.

Die Paläs­ti­nenser selbst sind zum gleichen Ergebnis gelangt. Der paläs­ti­nische Wort­führer Ahmad Shu­keiri sagte dem UN-Sicher­heitsrat im Jahr 1956, Palästina sei nichts anderes als das süd­liche Syrien. Der Anführer der Abteilung der mili­tä­ri­schen Ange­le­gen­heiten der Paläs­ti­nen­si­schen Befrei­ungs­or­ga­ni­sation (PLO), Zuhair Muhsin, erklärte am 31. März 1977: „Nur aus poli­ti­schen Gründen unter­streichen wir sorg­fältig unsere paläs­ti­nen­sische Iden­tität. … die Existenz einer eigenen paläs­ti­nen­si­schen Iden­tität ist aus tak­ti­schen Gründen da.“ Die PLO erklärt in ihrer eigenen Charta oder Berich­tigten Ver­fassung (Artikel 1), dass Palästina Teil der ara­bi­schen Nation sei.

Zur dieser „ara­bi­schen Nation“ gehörte niemals ein als „Palästina“ bekannter Staat. Vielmehr waren die Bewohner des all­ge­meinen paläs­ti­nen­si­schen Gebietes nicht Unter­tanen einer ara­bi­schen Nation, sondern des Osma­ni­schen Reiches, das von 1516 bis 1918 über das Gebiet herrschte. Dies war die letzte aner­kannte sou­veräne Hoheits­gewalt in der Region. Das Gebiet Paläs­tinas war ein Distrikt des Reiches, offi­ziell ein Vilayet (eine Gross­provinz), keine eigene poli­tische Einheit. Kein unab­hän­giger paläs­ti­nen­si­scher Staat ist jemals gegründet worden, und es gab noch nie eine admi­nis­trative oder kul­tu­relle Einheit der Paläs­ti­nenser. Araber dieser Region unter­schieden sich in keiner Weise von anderen Arabern des Nahen Ostens. Und Israel wurde auf den Über­resten keines anderen Staates als denen des Osma­ni­schen Reiches gegründet.

Auf der anderen Seite exis­tierte ein sou­ve­räner jüdi­scher Staat schon bevor das Römische Reich gross wurde. Obwohl die Römer den hero­dia­ni­schen Tempel zer­störten, den Namen des Landes änderten in Syria Palaestina und die Juden aus Jeru­salem ver­bannten, löschte dies nicht die gesamte jüdische Präsenz in der Region aus. Zudem hielten die Juden in der Dia­spora ein starkes Bewusstsein der his­to­ri­schen Ver­bindung des jüdi­schen Volkes mit Palästina wach – einer Ver­bindung, die im Mandat des Völ­ker­bundes bestätigt wurde. Für den jüdi­schen Natio­na­lismus waren legendäre Erzäh­lungen von Gestalten wie Moses und anderen als gemeinsame Vor­fahren und Begründer des jüdi­schen Volkes wichtig.

Auch in anderen Völkern gibt es mythische Gestalten, die ihre Her­kunft begründen: Ver­cin­g­e­torix und Chlodwig in Frank­reich, der Che­rusker Herrmann in Deutschland, und Romulus und Remus in Italien. Genauso kann es im jüdi­schen Natio­na­lismus ausser jahr­hun­der­te­alten Tra­di­tionen auch gewisse erfundene Ele­mente geben. Wichtig ist jedoch, dass die Juden ein Volk bilden – eine Gruppe von Per­sonen, die nicht nur durch eine gemeinsame Religion ver­bunden sind, sondern auch als Mit­glieder einer eth­ni­schen Gemein­schaft mit Erin­ne­rungen an eine gemeinsame Ver­gan­genheit, gemeinsame Zere­monien und eine eigene Kultur sowie an gemeinsame Rechts­ko­dizes, soziales Ver­halten, Mythen und Symbole. Zwi­schen den Juden gibt es eine Volks­zu­ge­hö­rigkeit, eine sub­jektive Über­zeugung von der gemein­samen Abstammung von Vor­fahren in Judäa und Samaria.

Die erste offi­zielle Benennung Palästina als eigen­stän­diger bestimmter ter­ri­to­rialer Bereich kam zusammen mit der Ent­scheidung des Völ­ker­bundes im Hin­blick auf die Gebiete des vor­ma­ligen Osma­ni­schen Reiches, ein Mandat für Palästina zu schaffen. Es wurde Gross­bri­tannien über­tragen, das das Gebiet vom Mit­telmeer bis westlich des Jordan von 1922 bis Mai 1948 regierte.

Alle in diesem Gebiet lebenden Ein­wohner wurden ohne jeg­liche eth­nische Impli­ka­tionen als „Paläs­ti­nenser“ bezeichnet. Iro­ni­scher­weise wurde der Name nicht von den Arabern, sondern nur von den Juden in der Region benutzt, wie in The Pal­es­tinian (heute: Jeru­salem) Post oder im Pal­estine Sym­phony (heute: Israel Phil­har­monic) Orchestra. Erst nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 wurde der Begriff „Paläs­ti­nenser“ aus­schliesslich in Bezug auf die Araber der Region verwendet.

Inzwi­schen nun ist das Konzept paläs­ti­nen­si­scher Iden­tität und paläs­ti­nen­si­schen Natio­na­lismus ent­standen und zu einem poli­ti­schen Faktor geworden. Ob es zuerst vor einem Jahr­hundert aus lite­ra­ri­schen Gesell­schaften und Mis­si­ons­gruppen, aus dem Ein­fluss der Ara­bi­schen Revolte von 1916–1918 in der Wüste des Hed­schas in Arabien oder als Nach­ahmung der Aktionen der Jung­türken, die im Jahr 1908 die Macht im Osma­ni­schen Reich ergriffen, her­vorging, ist irrelevant. Das neue Konzept wurde in der Zeit nach dem Ersten Welt­krieg wichtig als For­derung der Araber auf Selbst­be­stimmung und als Reaktion auf die zuneh­mende Bedeutung des Zio­nismus und die Durch­setzung der Selbst­be­stimmung des jüdi­schen Volkes. Der wich­tigste Faktor, der zur Idee und Ent­wicklung einer paläs­ti­nen­si­schen natio­nalen Iden­tität führte, war die Gründung des Staates Israel und die ara­bische Nie­derlage gegen Israel im Jahr 1948/1949. Man könnte sogar sagen, sie ent­wi­ckelte sich in der Nach­ahmung der zio­nis­ti­schen Bewegung. Eine paläs­ti­nen­sische nationale Iden­tität wurde formal erst mit der Bildung der PLO im Jahr 1964 geltend gemacht.

Das wesent­liche Problem ist nicht nur ein ter­mi­no­lo­gi­sches – die Wei­gerung vieler, anzu­er­kennen, dass die Kate­gorie der paläs­ti­nen­si­schen Iden­tität eine neuere Erfindung ist. Vielmehr wird das Beharren auf einem mut­mass­lichen, alt­ehr­wür­digen Recht des paläs­ti­nen­si­schen Volkes auf das umstrittene Land als argu­men­tative Waffe gegen das Exis­tenz­recht Israels benutzt. Dieses Beharren ist ein Hin­dernis für ein fried­liches, aus­ge­han­deltes Abkommen zwi­schen den Paläs­ti­nensern und Israel. Die Ent­scheidung über die Aus­übung hoheit­licher Gewalt in Palästina muss in einer umfas­senden Frie­dens­ver­ein­barung fest­gelegt werden.

Michael Curtis ist Pro­fessor eme­ritus für Poli­tik­wis­sen­schaften an der Rutgers Uni­versity. Ori­gi­nal­version: Pal­es­ti­nians: Invented People by Prof. Michael Curtis © BESA Per­spec­tives Papers on Current Affairs # 157, December 20, 2011.

Quelle: Audiatur und TheEuropean.de

Bild: Pal­estine Nakba Day Demo in Berlin