Leit­kultur: Die Geburt des Abend­landes aus dem Geiste der Kultur

Der bekannte Poli­tologe und Exil-Syrer Bassam Tibi hat den Begriff vor 20 Jahren geprägt und der ehe­malige deutsche CDU-Vor­sit­zende Friedrich Merz hat ihn danach poli­tisch publik gemacht. Jetzt erhält das Wort durch die aus­ufernde Migra­ti­ons­pro­ble­matik und den des­wegen anlau­fenden “Clash of Cul­tures” wieder eine neue Auf­ladung: Die Rede ist von der Leitkultur.
Noch keine klare Definition
Was genau mit dieser Leit­kultur gemeint ist, darüber gehen die Mei­nungen aller­dings noch stark aus­ein­ander. Die einen, die sich selbst als moderne, liberale und tole­rante Europäer betrachten, sehen die Leit­kultur (sofern sie den Begriff über­haupt akzep­tieren) lediglich als Über­be­griff für die Rechts­normen eines lai­zis­ti­schen und libe­ralen Europas samt offener Grenzen und einer mul­ti­eth­ni­schen, mul­ti­kul­tu­rellen Gesellschaft.
Die anderen, eher kon­ser­vativ den­kenden Bürger ver­stehen dar­unter exklusiv die abend­län­di­schen Kul­tur­in­halte, die im Wesent­lichen auf der antiken Phi­lo­sophie, dem Römi­schen Recht, dem Chris­tentum und der Auf­klärung samt ihrer Pro­po­nenten und Epi­gonen beruhen und die ihre Rea­li­sierung in den Nationen und Völkern Kon­ti­nen­tal­eu­ropas fanden. Die Kon­ser­va­tiven und die Bür­ger­lichen sehen auch die jeweils natio­nalen His­torien als Teil der Leit­kultur an. Sie sind davon über­zeugt, dass jede Kultur immer auch von eth­ni­schen Bedin­gungen mit­ge­tragen wird.
Das wesent­liche dabei ist: Sie bekennen sich dazu und halten diese ihre Kultur für die Beste.
Die west­liche Zivi­li­sation ist eine euro­päische Erfindung
Tat­sache ist jeden­falls, dass uns die abend­län­dische Kultur jene Freiheit ermöglicht(e), die der Ent­wicklung der okzi­den­talen Intel­lek­tua­lität jenen geis­tigen Raum gab, aus dem der Rechts­staat, das west­liche Wer­te­ge­bäude, der Fort­schritt und die Kunst erwachsen konnten. Tat­sache ist auch, dass das oben genannte kon­ser­vative Kul­tur­ver­ständnis das besser defi­nierte und in sich schlüs­sigere Begrün­dungs­modell für die Leit­kultur ist. Moder­nis­tische Auf­fas­sungen von “Leit­kultur” hin­gegen wagen keine Bekennt­nisse, sie sind diffus und nicht konkret definiert.
Amerika ist dabei
Man kann die euro­päische Leit­kultur nicht los­gelöst von der US-ame­ri­ka­ni­schen Geis­teswelt sehen, denn die Kul­tur­räume sind inein­ander ver­woben, auch wenn es teils tief­grei­fende Unter­schiede dies­seits und jen­seits des Atlantiks gibt. Die Abend­land­werdung des gesamten ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nents  ging jeden­falls von Europa aus.
Diver­gie­rende Systeme
Kon­zen­trieren wir uns auf die USA: Die kul­tu­rellen Unter­schiede auf den beiden Seiten des Atlantiks liegen einer­seits in den unter­schied­lichen Rechts­sys­temen begründet und ande­rer­seits auch im Wesen der beiden großen Revo­lu­tionen, die hüben wie drüben statt­fanden: Ver­ein­facht gesagt war die Fran­zö­sische Revo­lution eher links inspi­riert und am Kol­lektiv ori­en­tiert, die Ame­ri­ka­nische eher rechts, am Indi­viduum und an der per­sön­lichen Freiheit aus­ge­richtet. Diese Ten­denzen klingen noch heute nach.
Wohl­fahrts­staat und Individualgesellschaft
Der Nachhall der beiden großen Revo­lu­tionen bescherte Europa die Wohl­fahrts­staaten und den USA die Indi­vi­du­al­ge­sell­schaft. Das trennt die beiden Welt­an­schau­ungen nach­haltig. Gerade diese Trennung bildet aber auch die Mög­lichkeit der inein­an­der­grei­fenden und sich ergän­zenden Ent­wick­lungen. Niemand würde bezweifeln, dass “Der Westen” aus Europa und Amerika besteht.
Die USA als Impulsgeber
Freilich ist auch klar, dass die USA seit dem II. Welt­krieg auf­grund ihrer seither bestehenden Vor­macht­stellung wich­tiger Impuls­geber für Europa und seine Freiheit sind. Das ist ein Mit- und Haupt­grund dafür, dass das “Mut­terland der USA”, nämlich Groß­bri­tannien, eine Son­der­rolle in Europa spielt: Die Briten fühlen sich als Lord­sie­gel­be­wahrer der Demo­kratie und des wirt­schaft­lichen Libe­ra­lismus, sie waren und sind der Brü­ckenkopf nach Amerika.
Und was ist mit dem Osten?
Russland war bis zur dritten großen Revo­lution der Neuzeit — nämlich der Okto­ber­re­vo­lution — stark euro­päisch aus­ge­richtet, aber natürlich auf­grund seiner geo­gra­fi­schen Lage auch mäch­tigen asia­ti­schen Ein­flüssen und last not least stark der ortho­doxen Kirche unter­worfen. Der euro­päische Teil Russ­lands und das herr­schende Wer­te­ge­bäude sind also eben­falls dem Okzident zuzu­rechnen — darüber gibt es kul­tur­theo­re­tisch wenig Zweifel.
Die Kultur als mul­ti­fak­to­ri­elles Regelwerk
Unsere west­liche “Leit­kultur” ist dem­zu­folge die Summe aller klas­sisch-phi­lo­so­phi­schen, christlich-jüdi­schen, auf­klä­re­ri­schen, tra­di­tio­nellen, legis­la­tiven, natio­nalen und öko­no­mi­schen Wer­te­hal­tungen. Sie umfasst die maß­geb­lichen sozialen, gesell­schaft­lichen, poli­ti­schen, juris­ti­schen und künst­le­ri­schen Inhalte des Abend­landes und sie ist ein großes Ganzes, von dem jeder halbwegs ernst­zu­neh­mende Zeit­ge­nosse genau weiß, wie wichtig es für das Über­leben des euro­päi­schen Kul­tur­raumes ist.
Der innere Feind
Der größte Feind dieses so wert­vollen und für unser Zivi­li­sation lebens­wich­tigen abend­län­di­schen Denk­musters ist heute nicht nur die Mas­sen­mi­gration, mit der anti-abend­län­dische Wer­te­be­griffe nach Europa gespült werden und sich unter der stupide lächelnden Duldung der ver­ant­wort­lichen euro­päi­schen Poli­tiker aus­breiten. Noch gefähr­licher als die äußere Bedrohung ist der innere Feind.
Falsche Denk­muster
Dieser innere Feind der Leit­kultur ist keine Person oder Gruppe, sondern er besteht aus der weit­ver­brei­teten Belie­bigkeit des Denkens, die als Libe­ra­lismus, Huma­nismus und Tole­ranz­haltung daher­kommt und die so vielen Bürgern die Sinne und die klare Sicht ver­nebelt hat. Das Miss­ver­stehen des Libe­ra­lismus als Belie­bigkeit ist ein haar­sträu­bender intel­lek­tu­eller Kar­di­nal­fehler. Er führt unser Denken in ständig neue Kurz­schlüsse, die letztlich nur das Res­sen­timent bedienen und die tra­dierten kul­tu­rellen Werte in Frage stellen. Und diese Denk­fehler erzeugen genau jene gesell­schaft­lichen Spal­tungen, von denen unsere Vor­denker behaupten, sie beheben zu wollen.
“Kultur” der Schuldkomplexe
Auch die noch immer nach­wir­kenden und künstlich auf­recht erhal­tenen euro­päi­schen Schuld­kom­plexe, die bei den einen aus der Kolo­ni­alzeit gespeist werden und bei den anderen aus den NS-Gräueln, ver­hindern einen natür­lichen und offenen Zugang zum kul­tu­rellen Erbe des euro­päi­schen Abend­landes. Moder­nis­tische und aus der Frank­furter Schule kom­mende kul­tur­mar­xis­tische Inhalte erschweren im deut­schen Sprachraum die ganz­heit­liche Sicht auf die Leit­kultur und ihre Überlebenswichtigkeit.
Die Kinder der Freiheit 
Gerade jene, die heute am meisten von den Frei­heiten und den Sicher­heiten des abend­län­di­schen Kul­tur­raums pro­fi­tieren, nämlich Intel­lek­tuelle, Künstler und Medi­en­leute, leugnen das. Und schlimmer noch, sie wissen oft gar nicht, auf welchem Grund sie stehen und ver­zichten des­wegen auf ein Bekenntnis zur Leit­kultur. Vor allem, weil sie irri­ger­weise meinen, so ein Bekenntnis wäre gegen den Libe­ra­lismus, gegen die Toleranz und gegen die Moderne selbst gerichtet.
Jede Kultur muss man pflegen
Dabei muss man die Leit­kultur hegen und pflegen, damit in ihr jene Vor­aus­set­zungen wei­ter­ent­wi­ckelt werden können, die unser abend­län­di­sches Leben erst ermög­licht haben. Das geht nämlich nicht mit der schon red­un­danten stän­digen Betonung von Leer­formeln wie “Toleranz” und der­gleichen. Man muss sie klar defi­nieren und sich klar zu dieser Kultur bekennen – und man muss auch bereit sein, für sie zu kämpfen.
In der Zusam­men­schau ist alles klar
Die­je­nigen, die kein Zeugnis für die tra­di­tio­nelle und an Regionen, Nationen und Völker gebundene euro­päische Leit­kultur ablegen, sind ent­weder naiv, dumm, feige oder einfach böse und zer­stö­re­risch — denn wer sich nicht dazu bekennt und nicht um die Leit­kultur kämpfen will, der verrät letztlich das Abendland.
Ohne festen Grund geht es nicht
Das mag alles pathe­tisch klingen, aber wenn man die Dinge zu Ende denkt, dann folgt auf die Ver­wei­gerung des Bekennt­nisses zu dem, was man ist und woraus man kommt, stets die Auf­lösung dieser Con­ditio sine qua non. Wer kein klares kul­tu­relles Com­mitment kennt, der hat auch keine Heimat. Und wer keine Heimat hat, der hat auch keinen Grund, auf dem er stehen und vor allem den anderen wider­stehen kann.
Und ergänzend dazu:
Die offi­zielle euro­päische Politik und deren mora­lische Leit­linien bergen einige frag­würdige Prä­missen. Etliche der oft zitierten euro­päi­schen Werte und einige der daraus her­vor­ge­henden Bewer­tungen sind bei näherer Betrachtung völlig inkon­sistent. Diese Frag­wür­dig­keiten sollen hier zur Sprache kommen.
Meine 7 heiklen Fragen an Europa
1. Wenn alle Kul­turen als gleich­wertig und glei­cher­maßen legi­ti­miert anzu­sehen sind, warum gibt es dann welche, in denen etwa Kin­derehen, öffent­liche Hin­rich­tungen oder Ehren­morde legitim sind, wäh­rend­dessen diese Hand­lungen in unseren Kul­tur­räumen unvor­stellbar und ver­boten sind?
2. Welchen heuch­le­ri­schen Rela­ti­vismus betreiben west­liche Offi­zielle, wenn sie ihre Treue zu den uni­versal gül­tigen Men­schen­rechten beschwören und im selben Atemzug ihrer pathe­ti­schen Beschwö­rungen solche intel­lek­tuelle Trug­bilder wie die angeb­liche welt­weite “kul­tu­relle Gleich­wer­tigkeit” betonen?
3. Wenn die Gleich­wer­tigkeit der Kul­turen offi­ziell nicht in Frage gestellt wird, aber in der Rea­lität für die Men­schen­rechte gra­vie­rende nach­teilige Effekte in außer­eu­ro­päi­schen Kul­turen exis­tieren und diese Anschau­ungen in zuneh­mendem Maße nach Europa gelangen, wie valide ist dann unser west­liches, rechts­staat­liches Selbst­ver­ständnis über­haupt noch — und wie groß ist der Wahr­heits­gehalt und die Stand­fes­tigkeit der euro­päi­schen Politik?
4. Wenn sich euro­päische Regie­rungs­ver­ant­wort­liche nicht vor­be­haltlos zu ihrer natio­nalen und auto­chthonen Kultur bekennen und diese nicht explizit für die beste von allen halten, wie glaub­würdig und authen­tisch sind sie dann noch?
5. Wenn Poli­tiker nicht bereit sind, mit allen Mitteln für ihre eigene Kultur und ihre eigene Nation ein­zu­stehen — wie ver­trau­ens­würdig sind sie dann noch?
6. Wenn die Mehrheit der poli­ti­schen Ver­ant­wort­lichen so handelt, wie sie handelt, was haben die Bürger von solchen bekennt­nis­freien, oppor­tu­nis­ti­schen und mut­losen Poli­tikern noch zu erwarten?
7. Die hei­kelste Frage kommt am Schluss: Sind Kul­turen, die von sich sagen, sie müssten und werden einem gött­lichen Auftrag gemäß die Welt erobern, im Grunde nicht stärker und mäch­tiger als solche, die ständig nur Toleranz, Nach­gie­bigkeit, Selbst­ver­leugnung und säku­la­ri­sierte Gleichheit predigen?
Wer diese Fragen mit einem Minimum an intel­lek­tu­eller Red­lichkeit beant­wortet, wird leider zu einem geradezu fürch­ter­lichen Ergebnis kommen. Diese erschre­ckenden Ant­worten sollten aber jeden­falls unser zukünf­tiges Handeln bestimmen.
 
Dr. Marcus Franz / thedailyfranz.at