Merkel bald hinter Gittern? - Sie übt schon mal beim Besuch im ehem. Stasiknast - Screenshot Youtube

Nicht­er­öffnung eines Ermitt­lungs­ver­fahrens wegen „Ein­schleusung“ gegen Frau Dr. Angela Merkel u.a. – Alles eine Frage der Einstellung?

Die „Grenz­öffnung“ vom 4./5. Sep­tember 2015 liegt mehr als zwei Jahre zurück. Zwei Jahre, in denen die poli­tisch Inter­es­sierten sehen konnten, wie es einem Land ohne Grenzen ergeht. Einem Land, dessen Regie­rungschef – dessen Bun­des­kanz­lerin – kurz nach der Grenz­öffnung die nur rhe­to­risch gemeinte Frage stellte, ob denn jemand meine, dass man die Grenzen schützen könne. Auch Ende August 2017 ver­tei­digte Frau Merkel ihre Ent­scheidung der Grenz­öffnung vom Sep­tember 2015 (siehe FAZ vom 28.8.2017).
(Von Rechts­anwalt Dr. Andreas Kollmann, Heidelberg)
Die Ereig­nisse der sog. Grenz­öffnung waren für mich Grund, im Herbst 2015 gegen „Frau Dr. Angela Merkel u.a.“ Straf­an­zeige bei der Staats­an­walt­schaft Berlin ein­zu­reichen. Die Staats­an­walt­schaft Berlin hat mit Schreiben vom 12. März 2016 (Akten­zeichen 276 Js 748/16) über die Nicht­ein­leitung eines Ermitt­lungs­ver­fahrens „gegen Dr. Angela Merkel u.a.“ unter anderem wegen des Ver­dachts der Anstiftung oder Bei­hilfe zur uner­laubten Ein­reise (§ 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG mit §§ 26 f. StGB) bzw. zur Ein­schleusung von Aus­ländern“ (§ 96 Auf­enthG) infor­miert. Im Internet ist ersichtlich, dass neben mir auch andere Per­sonen bei der Staats­an­walt­schaft Berlin eine Straf­an­zeige ein­ge­reicht haben, die Ein­stel­lungs­ver­fü­gungen sind offenbar nicht wortgleich.
Auch mehr als 2 Jahre nach der „Grenz­öffnung“ ist die Frage der Recht­mä­ßigkeit des Han­delns ins­be­sondere der Bun­des­kanz­lerin nach wie vor von hohem Interesse. Kann man als Regie­rungschef „Flücht­linge“ (häufig ohne Pass und so gut wie immer ohne Visum etc.) in sein Land lenken, ohne Gesetze, die z.B. eine Rück­weisung bei feh­lendem Pass vor­schreiben, zu ändern?

Daher soll an dieser Stelle auf die Erwä­gungen der Staats­an­walt­schaft Berlin näher ein­ge­gangen werden. Auch wenn Straf­barkeit mehr als die Rechts­wid­rigkeit erfordert, so sind die fol­genden Aus­füh­rungen auch für die Frage der Rechts­wid­rigkeit der „Grenz­öffnung“ nicht unwichtig.
Für die Frage der Straf­barkeit der Ein­rei­senden selbst und auch anderer, die Anstifter oder Gehilfen sein könnten, ist das Merkmal der uner­laubte Ein­reise von Flücht­lingen in das Bun­des­gebiet (von Vor­satz­fragen abge­sehen) Dreh- und Angel­punkt. § 95 Abs. 1 Auf­enthG lautet auszugsweise:
„(1) Mit Frei­heits­strafe bis zu einem Jahr oder mit Geld­strafe wird bestraft, wer
(…)
3. ent­gegen § 14 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 in das Bun­des­gebiet einreist,
(…)“
Die „uner­laubte Ein­reise“ bestimmt sich nach § 14 Auf­enthG, der lautet:
„Uner­laubte Ein­reise; Ausnahme-Visum
(1) Die Ein­reise eines Aus­länders in das Bun­des­gebiet ist uner­laubt, wenn er
(2) (…).“
Das „oder“ zwi­schen den oben zitierten Ziffern in § 14 Abs. 1 Auf­enthG macht deutlich, dass eine uner­laubte Ein­reise auch dann vor­liegt, wenn der Betref­fende z.B. ein Visum („Auf­ent­halts­titel“) besitzt, aber keinen gül­tigen Pass mit sich führt (oder umge­kehrt – oder keines von beiden hat).
§ 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG mit §§ 26 f. StGB sowie § 96 Abs. 1 Auf­enthG stellen für den Anstifter oder Gehilfen die ent­spre­chende Straf­bar­keitsnorm dar. Für den­je­nigen, der als Anstifter oder Gehilfe einer uner­laubten Ein­reise (oder als „Schleuser“) in Betracht kommt, stellt sich also die ent­spre­chende Frage, ob er (vor­sätzlich) die uner­laubte Ein­reise eines Aus­länders gefördert oder dazu ange­stiftet hat.
Es ist also eigentlich alles ganz einfach – sollte man denken.
Kein Straf­ver­fahren gegen Frau Dr. Angela Merkel u.a.
Die Staats­an­walt­schaft Berlin sah keine Anhalts­punkte für eine Straf­barkeit u.a. der Bun­des­kanz­lerin. Die Ein­reise zahl­loser Aus­länder ohne Pass und/oder ohne Visum (vor allem ab dem 4./5. Sep­tember 2015) sei nicht rechts­widrig gewesen. Dazu ver­weist die Staats­an­walt­schaft auf ver­schiedene Über­le­gungen, auf die im Fol­genden ein­ge­gangen werden soll.
In der fol­genden Dar­stellung soll ver­sucht werden, die Argu­mente der Staats­an­walt­schaft zu sortieren.
Uner­laubte Ein­reise nach §§ 95 Abs. 1 Nr. 3, 14 AufenthG?
Da Pass und Visum (oder anderer Auf­ent­halts­titel) bei den meisten Ein­rei­senden im Sep­tember 2015 (und danach) nicht vor­handen waren (wobei schon das Fehlen einer dieser Vor­aus­set­zungen zu einer uner­laubten Ein­reise führt), genügte dieses „eigentlich“ für eine Straftat der Ein­rei­senden nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG, da die Kenntnis von diesen Umständen bei den Ein­rei­senden (natürlich) vor­handen war. Und wenn dann noch eine (vor­sätz­liche) För­derung dieser uner­laubten Einreise(n) oder eine „Anstiftung“ durch einen Dritten (z.B. ein Mit­glied der Bun­des­re­gierung) fest­zu­stellen wäre, wäre auch die Straf­barkeit dieses Dritten wegen Bei­hilfe bzw. Anstiftung zu einer solchen Straftat gegeben (von per­sön­lichen Schuld­fragen usw. abgesehen).
Die Staats­an­walt­schaft Berlin hat (was an sich natürlich völlig richtig ist) wei­ter­ge­hende Über­le­gungen angestellt:
Kein Pass – kein Problem? (§ 14 Abs. 1 AufenthG)
Aus­setzen der Pass­pflicht nach § 3 Abs. 2 AufenthG?
Die Staats­an­walt­schaft, aber auch andere argu­men­tieren, dass (offenbar in der Zeit ab dem 5.9.2015) die Pass­pflicht (s. § 3 Auf­enthG) aus­ge­setzt gewesen sei. Im Hin­blick auf den feh­lenden Pass bei vielen Ein­rei­senden behauptet die Staats­an­walt­schaft, die Bun­des­re­gierung (ver­treten durch die Bun­des­kanz­lerin) habe:
„in der vor­liegend zu beur­tei­lenden Situation bereits vor Grenz­über­tritt den ent­spre­chenden Per­sonen eine Erlaubnis zur Ein­reise erteilt und damit auch – zumindest kon­kludent – die aus § 3 Auf­enthG grund­sätzlich fol­gende Pass­pflicht ausgesetzt.“
Auch der ehe­malige Richter am Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, Prof. Dr. Udo Di Fabio, schreibt in seinem Gut­achten vom 8.1.2016 für die Baye­rische Staats­re­gierung mit dem Titel „Migra­ti­ons­krise als föde­rales Ver­fas­sungs­problem“ auf S. 95, http://www.bayern.de/wp-content/uploads/2016/01/Gutachten_Bay_DiFabio_formatiert.pdf:
„Die Pass­pflicht (§§ 3, 14 Auf­ent­haltsG) wurde offenbar im Ver­wal­tungs­vollzug ausgesetzt. (…).“
Hier stellen sich gleich mehrere Fragen. Während § 3 Abs. 1 Auf­enthG nur eine die Pass­pflicht modi­fi­zie­rende Rechts­ver­ordnung zulässt, besagt § 3 Abs. 2 AufenthG:
„Das Bun­des­mi­nis­terium des Innern oder die von ihm bestimmte Stelle kann in begrün­deten Ein­zel­fällen vor der Ein­reise des Aus­länders für den Grenz­über­tritt und einen anschlie­ßenden Auf­enthalt von bis zu sechs Monaten Aus­nahmen von der Pass­pflicht zulassen.“ (Her­vor­hebung durch mich)
Diese Bestimmung bietet eine Rechts­grundlage für Ent­schei­dungen über Aus­nahmen von der Pass­pflicht (während § 14 Auf­enthVO bereits unmit­telbar die Aus­nahme und damit die Befreiung gewährt, s. Ziff. 1.1.2).
Still­schwei­gendes Aus­setzen der Pass­pflicht nach § 3 Abs. 2 AufenthG?
Kann man hier über­haupt ein solches still­schwei­gendes Aus­setzen der Pass­pflicht annehmen, wie es die Staats­an­walt­schaft tut?
Es hilft manchmal, sich eine andere Situation vor­zu­stellen und zu über­legen: Würde meine Argu­men­tation dort auch greifen – und dann evtl. zu erkennbar fal­schen Ergeb­nissen führen? Das ist ein ganz guter Test:
Nehmen wir einmal an, ein Beob­achter steht an der schwei­ze­risch-deut­schen Grenze in der Nähe eines Zoll­hauses. Er schaut auf den deut­schen Beamten, der für den ein­ge­henden Verkehr zuständig ist, und merkt recht bald: „Ach, der Zöllner macht sich das Leben aber leicht. Der kon­trol­liert ja gar nicht jeden!“ Dann ist an der Grenze Schweiz/Deutschland also offenbar die Pass­pflicht ausgesetzt!?
Jetzt könnte man ein­wenden: „Ja, der Zöllner an der Schweizer Grenze kon­trol­liert nicht jeden. Aber wenn er einen kon­trol­liert, fragt er meistens nach dem Pass – sogar als erstes. Hat der Ein­rei­sende keinen solchen, bekommt er Pro­bleme.“ Ja, das stimmt. Aber das war bei der „Grenz­öffnung“ auch nicht ganz anders. Deutsche Grenz­beamte haben (an der Grenze zu Öster­reich) Pässe kon­trol­liert (so vor­handen) und haben Pass­ver­gehen auf­ge­schrieben und an die Staats­an­walt­schaft wei­ter­ge­geben. Auch nach dem 5.9.2015. Dazu der Pas­sauer Straf­rechts­wis­sen­schaftler Prof. Dr. Holm Putzke offenbar Anfang Dezember 2015 (www.jura.uni-passau.de/putzke/aktuelles/, dort unter der Über­schrift „Ist Angela Merkel eine Schleu­serin? – Eine straf­recht­liche Betrachtung“):
„Die uner­laubte Ein­reise ist nach § 95 Absatz 1 Nr. 3 Auf­enthG strafbar. Die Straf­ver­fol­gungs­be­hörden sind zum Ein­schreiten ver­pflichtet. Prak­tisch bedeutet dies, dass die Polizei so gut wie gegen jeden der uner­laubt ein­ge­reisten Flücht­linge ein Ermitt­lungs­ver­fahren ein­leitet. Die Ermitt­lungs­akten landen bei den zustän­digen Staats­an­walt­schaften. Dort stapeln sie sich derzeit zu Zehn­tau­senden.“ (Her­vor­hebung von mir)
Jetzt möge man mir erklären, warum an der deutsch-schwei­ze­ri­schen Grenze (oder noch krasser: an der Grenze zu einem Schengen-Land, an der die Grenz­posten sogar ganz abgebaut sind) die Pass­pflicht nach § 3 Auf­enthG nicht auch aus­ge­setzt ist. Ein Ergebnis, das jedermann als absurd bezeichnen würde!
Und man möge mir erklären, warum in einer Situation, in der die Grenz­schutz­be­amten Straf­ver­fahren ein­leiten, in deren Ver­halten ein Aus­setzen der Pass­pflicht (das den Ver­fahren weit­gehend die Grundlage ent­zogen hätte) zu sehen ist. Das will (und kann) mir nicht einleuchten.
Ich habe das Gefühl, dass hier der Gedanke, dass das, was die Bun­des­kanz­lerin getan hat, nicht strafbar sein kann/darf/soll (und dass daher dann auch die Ein­rei­senden nicht strafbar sein sollen, weil dies die für Anstiftung und Bei­hilfe erfor­der­liche, rechts­widrige und vor­sätz­liche Haupttat wäre) die Aus­sagen unbewußt beein­flußt hat.
Will sagen: Es gibt m.E. keine Hin­weise auf ein still­schwei­gendes Aus­setzen der Passpflicht.
Adres­sa­ten­kreis für das etwaige Aus­setzung der Passpflicht?
Aber selbst wenn man ein Aus­setzen annehmen wollte, käme man an der Frage des Adres­sa­ten­kreises, für den die Aus­setzung gelten soll, nicht vorbei. Welche Hin­weise also enthält das Schreiben der Staats­an­walt­schaft zum Adres­sa­ten­kreis? Wenn auch ohne Erwähnung der Pass­pflicht heißt es im Schreiben der Staats­an­walt­schaft immerhin:
„Vor dem Hin­ter­grund der öffentlich bekannt gemachten Ein­rei­se­ge­neh­migung durch die Bun­des­kanz­lerin als Ver­tre­terin der Bun­des­re­publik Deutschland an die in Ungarn fest­sit­zenden Flüchtlinge (…)“.
Im darauf fol­genden Absatz hingegen:
„Da somit hin­sichtlich der auf die Anfang Sep­tember 2015 seitens der Bun­des­re­gierung ver­treten durch die Bun­des­kanz­lerin erteilten Ein­rei­se­ge­neh­migung über die Bal­kan­route ein­ge­reisten Per­sonen von keiner ‚uner­laubte Ein­reise‘ im Sinne des § 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG aus­zu­gehen ist (…)“ (Her­vor­hebung durch mich.)
Sollten begünstigt also doch nicht nur die in Ungarn „fest­sit­zenden“ Per­sonen sein? Sondern alle, die über die Bal­kan­route ein­reisen wollten? Es gibt Grund zu wei­teren Zweifeln, weil die Aus­sagen der Staats­an­walt­schaft fol­gende Punkte ganz unbe­ant­wortet lassen:
was im Hin­blick auf Per­sonen zu gelten hat, die keine Flücht­linge waren/sind oder die aus anderen Ländern als Syrien kamen (genau hierauf hatte die Bun­des­kanz­lerin am 4. Sep­tember 2015 sich bezogen) ‚die nicht über die „Bal­kan­route“ kamen oder die erst nach der irgendwie untrag­baren Situation in Ungarn über­haupt erst nach Europa kamen, sich aber durch das Wort der Bun­des­kanz­lerin ange­lockt fühlten usw.
Und würde diese angeb­liche Aus­setzung der Pass­pflicht auch den­je­nigen zugu­te­kommen, die den Pass vorher ver­nichtet oder gar einen gefälschten Pass hatten?
§ 3 Abs. 2 Auf­enthG gilt nur für eng begrenzte Fälle, genau: „in begrün­deten Ein­zel­fällen“. Von daher kann § 3 Abs. 2 Auf­enthG nicht Grundlage für ein Aus­setzen der Pass­pflicht bei oder infolge der „Grenz­öffnung“ sein. Denn das stünde in einem deut­lichen Miß­ver­hältnis zu der Mög­lichkeit nach § 3 Abs. 2 Auf­enthG. Es gibt aber auch keinen Hinweis, dass „fak­tisch“ ein Aus­setzen der Pass­pflicht (wenn es dieses denn gegeben hätte) gegenüber einem grö­ßeren Adres­sa­ten­kreis erfolgt wäre. Die vielen Hin­weise auf eine „huma­nitäre Aus­nah­me­si­tuation“ am 4.9.2015 zeigen, dass jeden­falls kein wei­terer Umfang gelten könnte.
Will sagen: Selbst ein still­schwei­gendes Aus­setzen der Pass­pflicht (was es m.E. nicht gegeben hat) hätte nur einen begrenzten Kreis von Per­sonen begüns­tigen können. Es spricht daher viel dafür, dass – wenn es ein still­schwei­gendes Aus­setzen über­haupt gegeben hätte – allen­falls die in Ungarn „fest­sit­zenden Flücht­linge“ (aber nicht mehr) davon erfasst sein könnten. Siehe die Aus­sagen der Staatsanwaltschaft:
„Vor dem Hin­ter­grund der öffentlich bekannt gemachten Ein­rei­se­ge­neh­migung durch die Bun­des­kanz­lerin als Ver­tre­terin der Bun­des­re­publik Deutschland an die in Ungarn fest­sit­zenden Flücht­linge (…) fehlte es den von der Ent­scheidung betrof­fenen Flücht­lingen in jedem Fall an dem erfor­der­lichen Vorsatz hin­sichtlich der Uner­laubtheit ihrer Ein­reise (…)“. (Her­vor­he­bungen durch mich)
Nachteil: Diese Per­sonen wurden (meines Wissens) nicht regis­triert, man hat also keine Sicherheit, wer dieses wirklich war. Klar ist aber, dass die große Mehrheit der ab dem 5.9.2015 ein­rei­senden Per­sonen nicht unter diese (behauptete) Aus­nahme fiel. Und ermit­telbare Fälle von Per­sonen, die nicht am 4.9.2015 in Ungarn „fest­saßen“, gibt es natürlich auch.
Fazit:
Es gibt für ein solches Aus­setzen viel zu wenige Hin­weise, zudem hätte der Adressan­ten­kreis die im Zuge der Grenz­öffnung ankom­menden Flücht­linge auch gar nicht abdecken können. Daher könnte das Thema „Aus­setzen der Pass­pflicht“ so oder so nicht der Straf­barkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG entgegenstehen.
Aus­setzen der Pass­pflicht nach § 14 AufenthVO?
Müller hat bereits am 13.10.2015 (also rd. 5 Wochen nach der „Grenz­öffnung“) Über­le­gungen zu § 14 Auf­enthVO ange­stellt (https://community.beck.de/2015/10/13/bundeskanzlerin-merkel-hat-sich-nicht-strafbar-gemacht?page=7):
„Meines Erachtens spricht alles dafür, dass die Ein­reise in die Bun­des­re­publik Deutschland infolge der von Merkel initi­ierten huma­ni­tären Hand­lungen gegenüber den in oder bei Ungarn bzw. auf dem West­balkan fest­ste­ckenden Flücht­lingen schon objektiv tat­be­standlich (aus­nahms­weise) erlaubt war und ist. Aus dem Gesamt­ver­halten der Exe­kutive der Bun­des­re­publik ist erkennbar, dass in dieser geson­derten Situation auf Ein­rei­se­do­ku­mente ver­zichtet wurde, also § 3 Auf­ent­haltsG („Pass­pflicht“) rea­liter aus­ge­setzt ist. Der objektive Tat­be­stand der uner­laubten Ein­reise hängt direkt an dieser Pass­pflicht. Diese ist etwa auch § 14 Auf­ent­haltsVO („Befreiung von der Pass­pflicht in Ret­tungs­fällen“) in Unglücks- und Kata­stro­phen­fällen aus­ge­setzt. Es handelt sich nach ganz ver­brei­teter Meinung derzeit in und um die Kriegs­ge­biete in Syrien, Irak und Afgha­nistan um Flücht­lings­ka­ta­strophen, die m. E. durchaus unter  § 14 Auf­ent­haltsVO sub­su­mierbar sind, und bis an die deutsche Außen­grenze reichen. Ob bei einer jeden­falls fak­ti­schen Aus­setzung der Pass­pflicht die inter­pre­ta­to­ri­schen  Grenzen dieser Ver­ordnung ein­ge­halten wurden, kann einem Aus­länder aber straf­rechtlich ohnehin nicht vor­ge­worfen werden, wenn jeden­falls fak­tisch erkennbar beim Grenz­über­tritt seitens der deut­schen Behörden auf  Pässe bzw. andere Rei­se­do­ku­mente ver­zichtet wurde.“ (https://community.beck.de/2015/10/13/bundeskanzlerin-merkel-hat-sich-nicht-strafbar-gemacht?page=7). – Unter­strei­chungen von mir, Fett­druck von Müller.
(Wie der in der Regel – häufig eben­falls – feh­lende Auf­ent­halts­titel, z.B. ein Visum, ersetzt wird, wird nicht gesagt, s. Ziff. 1.2.)
Auch Di Fabio schreibt in seinem Gutachten:
„Die Pass­pflicht (§§ 3, 14 Auf­ent­haltsG) wurde offenbar im Ver­wal­tungs­vollzug aus­ge­setzt. Die Pass­pflicht ist durch § 14 Auf­ent­haltsVO in Unglücks- und Kata­stro­phen­fällen ausgesetzt.“
Ver­sand­kos­tenfrei in unserem Shop erhältlich!

Eine nähere Begründung für das angeblich erfolgte Aus­setzen der Pass­pflicht geben weder Müller noch Di Fabio. Beide stellen aber als Recht­fer­tigung für das Aus­setzen auf § 14 Auf­ent­haltsVO als Meß­latte ab. Die Anfor­derung in § 14 Auf­enthVO lautet:
„Von der Pass­pflicht sind befreit
Die Befreiung endet, sobald für den Aus­länder die Beschaffung oder Bean­tragung eines Passes oder Pass­ersatzes auch in Anbe­tracht der beson­deren Umstände des Falles und des Vor­ranges der Leistung oder Inan­spruch­nahme von Hilfe zumutbar wird.“ (Her­vor­he­bungen von mir)
Müller erwähnt in diesem Zusam­menhang die „Kriegs­ge­biete in Syrien, Irak und Afgha­nistan“, bei denen es sich „um Flücht­lings­ka­ta­strophen, die m. E. durchaus unter § 14 Auf­ent­haltsVO sub­su­mierbar sind, und bis an die deutsche Außen­grenze reichen“, handele.
Bei der Begründung des Aus­setzens der Pass­pflicht mit­hilfe von § 14 Auf­enthVO stellen sich sogleich mehrere Probleme:
§ 14 gilt (bei Ein­reisen über Land) nur für Kata­strophen- oder Unglücks­fälle in einem direkten Nach­bar­staat Deutsch­lands. Denn sonst wäre die For­mu­lierung gänzlich unver­ständlich, die bei einer Ein­reise per Seeweg oder über Ret­tungs­flüge alle „anderen Staaten“ (also die ganze Welt) erfasst, bei einer Ein­reise auf dem Landweg aber nur die „Nach­bar­staaten“. Zu argu­men­tieren, dass eine Ein­reise auf dem Landweg immer über die Nach­bar­staaten gehe (ja, das sehe sogar ich so) und daher von § 14 Auf­enthVO auch Unglücks­fälle in anderen als Nach­bar­staaten erfasst würden, geht fehl. Denn wenn jede (!) Kata­strophe – egal wo sie geschieht – zu dem Ver­zicht auf die Pass­pflicht hätte führen sollen, so hätte der Gesetz­geber schlicht geschrieben: „Aus­länder, die auf­grund von Unglücks- oder Kata­stro­phen­fällen Hilfe leisten oder in Anspruch nehmen wollen, und (…)“. Das war aber erkennbar gerade nicht gewollt. Vielmehr ist die o.g. Dif­fe­ren­zierung anzustellen.
Der Anlaß hätte ein Kata­strophen- oder Unglücksfall gewesen sein müssen, und zwar in einem Nach­bar­staat. Jeden­falls für das von Müller ange­spro­chene Thema „Syrien, Irak und Afgha­nistan“ ist das nicht erfüllt. Seine Aus­dehnung bis an die deut­schen Grenzen ist eine echte „Über­dehnung“.
„Die Befreiung endet, sobald für den Aus­länder die Beschaffung (…)“: auch damit hätte man sich aus­ein­an­der­setzen müssen. Denn nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 Auf­enthG ist nicht nur die Reise, sondern auch der Auf­enthalt in Deutschland ohne Pass strafbar.
Die Vor­aus­set­zungen des § 14 Auf­enthVO sind also nicht erfüllt.
Der Gesetz­geber hat im Auf­enthG, in der Auf­enthVO usw. ein aus­ta­riertes System von Regeln und Aus­nahmen erlassen. Mir will nicht ein­leuchten, wieso eine Regierung (oder Grenz­schutz­beamte) sich darüber hin­weg­setzen kann (können) und dann gesagt wird: Na, da ist die Pass­pflicht eben von der Ver­waltung („im Ver­wal­tungs­vollzug“) aus­ge­setzt gewesen – obwohl hierzu keine gesetz­liche Grundlage bestand. Mir ist klar, dass es Hand­lungen gibt, die eben nicht von einer gesetz­lichen Grundlage gedeckt sind. Das stellt natürlich nicht die Handlung als solche in Frage. Aber hier wird in fak­ti­sches Handeln (s. Ziff. 1.1.1.1) eine – vom Gesetz für diesen Fall jeden­falls nicht vor­ge­sehene – recht­liche Handlung und recht­liche (still­schwei­gende) Erklärung (nämlich das recht­liche Aus­setzen der Pass­pflicht) hin­ein­ge­lesen. Ein Aus­setzen der Pass­pflicht, das forthin alle Ein­reisen von einer seit langem bestehenden Straf­barkeit für die Zukunft ziemlich „gren­zenlos“ befreien würde (auch über den Zeit­ho­rizont den Umfang eines solchen Aus­setzens müsste man nach­denken). Das über­zeugt mich nicht.
Ich gebe zu, dass sich die Argu­men­tation mit dem Aus­setzen der Pass­pflicht gut anhört – es klingt geschmeidig. Und wer will sich schon damit aus­ein­an­der­setzen, erschwert doch gerade die feh­lende Greif­barkeit („wodurch wurde sie aus­ge­setzt?“) diese Aus­ein­an­der­setzung. Diese inhalt­liche Aus­ein­an­der­setzung ist aber wichtig.
Befreiung von Pass­pflicht und Auf­ent­halts­titel nach Art. 5 Abs. 4 c) Schen­gener Grenzkodex?
War die Paß­pflicht nach Artt. 4 Abs. 4 c) des Schen­genere Grenz­kodex aus­ge­setzt? Die Staats­an­walt­schaft schreibt dazu:
„Den (vor­über­ge­henden) Ver­zicht auf die Erfor­der­nisse des § 14 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Auf­ent­haltG bei der Ein­reise konnte die Bun­des­re­gierung im Übrigen auch auf Art. 5 Abs. 4 c) Schen­gener Grenz­kodex (Ver­ordnung (EG) Nr. 562/206) – gege­be­nen­falls in ana­loger Anwendung – stützen. (…)“
Art. 5 Abs. 4 c) Schen­gener Grenz­kodex lautet:
„Ein Mit­glied­staat kann Dritt­staats­an­ge­hö­rigen, die eine oder mehrere Vor­aus­set­zungen des Absatzes 1 nicht erfüllen, die Ein­reise in sein Hoheits­gebiet aus huma­ni­tären Gründen oder Gründen des natio­nalen Inter­esses oder auf­grund inter­na­tio­naler Ver­pflich­tungen gestatten. (…).“
Art. 5 Abs. 1 Schen­gener Grenz­kodex, der in Absatz 4 c) ange­sprochen wird, lautet:
„(1) Für einen geplanten Auf­enthalt im Hoheits­gebiet der Mit­glied­staaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen, wobei der Zeitraum von 180 Tagen, der jedem Tag des Auf­ent­halts vor­angeht, berück­sichtigt wird, gelten für einen Dritt­staats­an­ge­hö­rigen fol­gende Einreisevoraussetzungen:
a) Er muss im Besitz eines gül­tigen Rei­se­do­ku­ments sein, das seinen Inhaber zum Über­schreiten der Grenze berechtigt und fol­gende Anfor­de­rungen erfüllt:
(…).“
Was sagt nun der Hinweis auf diese Norm für die Straf­bar­keits­frage? Das „kann“ in Abs. 4 c) zeigt deutlich, dass es eben nur eine Mög­lichkeit ist, von Abs. 1 abzu­weichen. Eine Befugnis für den jewei­ligen Mit­glieds­staat. Und Abs. 1 sieht eben vor, dass der „Dritt­staats­an­ge­hörige“ „im Besitz eines gül­tigen Rei­se­do­ku­ments“ sein muss. Daher ist kein Anhalts­punkt gegeben, wieso sich hieraus etwas Zusätz­liches ergeben sollte, was nicht bereits vor­stehend ange­sprochen ist.
Die Aussage „gege­be­nen­falls in ana­loger Anwendung“ ist, zurück­haltend gesagt, ein juris­ti­scher Draht­seilakt: Diese For­mu­lierung (ohne weitere Begründung) würde in einem Examen m.E. zu einem deut­lichen Punkt­abzug führen. Es handelt sich um eine „Ergebnis-Argu­men­tation“ (ich möchte x haben, also muss ich irgendeine Norm, die mir x gibt, finden oder not­falls „analog“ anwenden), die fast schon eine Erge­ben­heits-Argu­men­tation ist.
Es gibt die recht­liche Kon­struktion der „Ana­logie“ (jeden­falls außerhalb des Straf­rechts) durchaus. Hierfür müsste man nach der all­ge­meinen deut­schen Rechts­auf­fassung aber zunächst im Detail fest­stellen, dass es eine Rege­lungs­lücke gibt (welche genau) und warum die Füllung der Lücke durch die analoge Anwendung der ins Auge gefassten Regelung zu erfolgen hat. Zudem hätte man vorab die Frage klären müssen, ob eine analoge Anwendung von Bestim­mungen des Schen­gener Grenz­ko­dices als nicht ori­gi­närem deut­schen Recht über­haupt möglich ist. Da der sog. Schen­gener Grenz­kodex rechtlich eine EU-Ver­ordnung dar­stellt, greift hierfür das EU-Recht. Der Euro­päische Gerichtshof ist aber bei Ana­logien zurück­haltend. Die Behauptung der Staats­an­walt­schaft ist also schon mutig und hätte in jedem Fall näher begründet werden müssen.
Nichts von all‘ dem hat die Staats­an­walt­schaft getan: sie kann sich auf ein „gege­be­nen­falls analog“ zurück­ziehen. Es handelt sich nach meiner Ansicht um ein echtes juris­ti­sches Armuts­zeugnis, welches die Ziel­ge­trie­benheit ver­deut­licht (wobei ich damit nicht behaupte, dass die Behör­den­leitung oder noch Höhere hier die Hand im Spiel hatten).
Aber wie dem auch sei: Weder in direkter Anwendung noch in (angeblich) ana­loger Anwendung ändert es etwas an der anzu­stel­lenden Beur­teilung der Strafbarkeitsfragen.
Übrigens: Die in dem genannten Art. 5 des Schen­gener Grenz­ko­dices neben den huma­ni­tären Gründen genannten „Gründe[n] des natio­nalen Inter­esses“ werden – zu recht – nicht the­ma­ti­siert. Welches „nationale Interesse“ Deutsch­lands (das ist das Land ohne Grenzen) sollte es noch geben?
Tat­be­stands­aus­schlie­ßendes Einverständnis?
Ein anderer Ansatz zielt auf ein sog. tat­be­stands­aus­schlie­ßendes Ein­ver­ständnis der Bun­des­re­gierung. Bei Straf­vor­schriften (sog. Straf­tat­be­ständen), die ein Element wie „gegen den Willen von …“ usw. ent­halten, wirkt ein Ein­ver­ständnis des so Geschützten in der Weise, dass der Straf­tat­be­stand nicht ver­wirk­licht werden kann. Bei­spiel: Bei § 123 StGB („Haus­frie­dens­bruch“) lautet ein Element des Tat­be­stands: „(…) wenn er ohne Befugnis darin ver­weilt“. Wenn der Woh­nungs­in­haber den „Gast“ bittet ein­zu­treten, handelt es sich nicht um ein Ver­weilen „ohne Befugnis“ (jeden­falls solange, bis der Woh­nungs­in­haber es sich anders überlegt). Und weil Ein­ver­ständnis und „gegen den Willen“ oder „ohne Befugnis“ nicht gleich­zeitig gelten können, wird dieses Ein­ver­ständnis als „tat­be­stands­aus­schließend“ bezeichnet. Dies ist alles „gefes­tigtes Gelände“.
Müller schreibt im Jahr 2017 (https://community.beck.de/2015/10/13/bundeskanzlerin-merkel-hat-sich-nicht-strafbar-gemacht?page=7 ):
„Zudem müssten, selbst wenn man annimmt, die uner­laubte Ein­reise bleibe unab­hängig vom kon­kreten Ver­halten der Exe­kutive objektiv uner­laubt, die vielfach von der Bahn im Auftrag der Bundes- bzw. Lan­des­re­gie­rungen über die Grenze trans­por­tierten und will­kommen gehei­ßenen Flücht­linge auch noch  vor­sätzlich und rechts­widrig uner­laubt ein­ge­reist sein. Nicht nur die objektiv tat­be­stands­mäßige, sondern auch die vor­sätz­liche Handlung ist Gegen­stand der Akzessorietät.
Wer ein­ge­laden ist, eine Wohnung zu betreten, der kann nicht wegen Haus­frie­dens­bruch ver­folgt werden. Wer vom deut­schen Staat nicht nur ein­ge­laden wird, sondern sogar von Per­so­nen­be­för­de­rungs­un­ter­nehmen in dessen Auftrag über die Grenze trans­por­tiert wird, ohne dass ein Pass von ihm ver­langt wird, der reist nicht uner­laubt ein, schon gar nicht tut er dies vor­sätzlich. Straf­an­zeige und Straf­ver­folgung (auch wenn die Ver­fahren  in den aller­meisten Fällen ohne wei­teren Ermitt­lungen ein­ge­stellt werden) stellen ein venire contra factum pro­prium dar.“ (Her­vor­he­bungen durch mich).
Die Staats­an­walt­schaft Berlin meint:
„(…) Die Vor­aus­set­zungen einer erlaubten Ein­reise stehen in weitem Umfang zur Dis­po­sition der von der Bun­des­kanz­lerin ange­führten Exe­kutive, was ver­schiedene aus­län­der­recht­liche Vor­schriften belegen. Dies ist vor dem Hin­ter­grund des Schutz­zwecks der aus­län­der­recht­lichen Vor­schriften, nämlich dem letztlich zur Dis­po­sition des betrof­fenen Staates ste­henden Schutzes der eigenen Grenzen, dem eigenen ‚Haus­recht‘, auch fol­ge­richtig (vgl. Win­kelmann in: Renner/Bergmann/Dienelt, Aus­län­der­recht, 10. Aufl., 2003 § 96 Auf­enthG Rn. 2 m.w.N.).“ (Her­vor­he­bungen durch mich)
Ähnlich die Gene­ral­staats­an­walt­schaft Berlin:
„Unge­achtet dessen ist ein straf­bares Ver­halten durch die Gestattung der Ein­reise auch deshalb nicht ersichtlich, weil es an einer für die Straf­barkeit nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 b Auf­enthG erfor­der­lichen vor­sätz­lichen Straftat (vgl. BGH NStZ 2015, 399 ff.) der aus Ungarn ein­ge­reisten Aus­länder nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG mangelt, da diese auf­grund der ver­kün­deten Ent­scheidung der Bun­des­re­gierung nicht mehr von einer ille­galen Ein­reise aus­ge­gangen sein werden. (…)
Selbst wenn die Gestattung der Ein­reise hin­sichtlich der Rechts­grund­lagen abwei­chend beur­teilt werden würde, läge eine für die Straf­barkeit nach § 96 Auf­enthG erfor­der­liche Bezugstat nicht vor. Da das Schutzgut der Straftat nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG das der Exe­kutive oblie­gende ‚staat­liche Haus­recht“ ist (vgl. Stoppa in Huber, Auf­enthG, 1. Aufl., § 95 Rdrn. 118), handelt bereits nicht tat­be­stands­mäßig, wer das Land mit dem Willen des Berech­tigten betritt (vgl. für den Fall des Haus­frie­dens­bruchs Fischer, StGB, 63. Aufl.,§ 123 Rdnr. 16; Lilie in Leip­ziger Kom­mentar, StGB, 12. Aufl., § 123 Rdnr. 74). Soweit die ein­rei­senden Aus­länder auf eine — unter­stellt — rechtlich unwirksame Gestattung der Ein­reise irr­tümlich ver­traut hätten, würde sich dies daher als Vorsatz aus­schlie­ßender Tat­be­stands­irrtum (und nicht lediglich als Ver­bots­irrtum) erweisen. (…)“ (zitiert nach Müller, https://community.beck.de/2017/06/11/die-strafbarkeit-der-bundeskanzlerin-im-herbst-2015-reloaded )
Zu den genannten Aus­füh­rungen ist einiges zu sagen (über Ziff. 1.1.1.1 zum Thema des fak­ti­schen Aus­setzens der Pass­pflicht hinaus):
„Ein­ladung“ durch die Bundesregierung?
Noch einmal Müller: „(…) vom deut­schen Staat nicht nur ein­ge­laden (…)“ (umfas­sendes Zitat oben Ziff. 1.1.4). Wenn eine „Ein­ladung“ durch die Bun­des­re­gierung die Ver­wirk­li­chung des Tat­be­standes des § 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG aus­schließen würde („tat­be­stands­aus­schlie­ßende Ein­wil­ligung“), so würden jeden­falls die Ein­rei­senden, die im Bewußtsein einer solchen Ein­ladung ein­reisen, sich nicht strafbar machen (die­je­nigen, denen dieses Bewußtsein fehlt, könnten wohl nur einen – untaug­lichen – Versuch begehen). Das stimmt. Aber stimmt das – ich meine: Ist hier eine Situation gegeben, in der ein Ein­ver­ständnis tat­be­stands­aus­schließend wirken würde?
Eine „tat­be­stands­aus­schlie­ßende“ Ein­ladung ist hier m.E. nicht zu erkennen. Das von Müller und auch der Gene­ral­staats­an­walt­schaft ange­führte Bei­spiel betrifft den Pri­vat­be­reich (Haus­frie­dens­bruch nach § 123 StGB). Dort schließt die Ein­ladung in der Tat den Tat­be­stand des Haus­frie­dens­bruchs aus (wobei es da auch – je nach Ver­halten des Ein­ge­la­denen – abwei­chende Kon­stel­la­tionen gibt, vor allem kann der Hausherr jederzeit seine Ein­ladung zurück­nehmen). Ganz generell unter­scheiden sich die Situa­tionen: Für einen Staat mit klaren Rege­lungen, wer wann wie „will­kommen“ ist und ein­treten darf (das ist vor allem das Aus­län­der­recht), sind schlicht die gesetz­lichen Anfor­de­rungen zu erfüllen, dann reist man „befugt“ ein – sonst eben nicht. Daher greift auch der Hinweis der Staats­an­walt­schaft auf das „Haus­recht“ (offenbar: der von der Bun­des­kanz­lerin gelei­teten Exe­kutive) nicht. Im übrigen besagt der von der Staats­an­walt­schaft zitierte Kom­mentar („Win­kelmann in: Renner/Bergmann/Dienelt, Aus­län­der­recht, 10. Aufl., 2003 § 96 Auf­enthG Rn. 2 m.w.N.“) aus Sicht der Staats­an­walt­schaft eigentlich wenig Hilf­reiches: Es geht dort (jeden­falls in der Fassung von 2014) nur um das Schutz­recht des § 96 Auf­enthG („Bei dem geschützten Rechtsgut handelt es sich um die ‚Sicherheit der Grenze‘ oder wie Cantzler in Das Schleusen von Aus­ländern und seine Straf­barkeit auf S. 103 f. aus­führt, das ‚staat­liche Haus­recht‘“), um nicht mehr. Vor allem wird dort nicht gesagt, daß eine „Ein­ladung“ durch die Bun­des­re­gierung usw. den Straf­tat­be­stand des § 96 (oder § 95) aus­schließen würde. Das, was man „Haus­recht“ nennen kann (um ein greif­bares Bild zu ver­wenden), wird im Falle des Staates aber klar durch die Gesetze – und nicht durch einen von Gesetzen unab­hän­gigen Willen der Bun­des­kanz­lerin – bestimmt.
Es kommt etwas Gewich­tiges hinzu: Bei § 123 StGB ist das feh­lende Ein­ver­ständnis ein Tat­be­stands­merkmal, das man im Gesetzbuch nach­lesen kann – und darauf muss sich der Vorsatz in der Tat auch beziehen. Bei § 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG („ent­gegen § 14 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 in das Bun­des­gebiet ein­reist“) ist das feh­lende Ein­ver­ständnis eben nicht Tat­be­stands­vor­aus­setzung. Lediglich in § 14 Abs. 1 Auf­enthG ist das Wort „uner­laubt“ enthalten:
„Die Ein­reise eines Aus­länders in das Bun­des­gebiet ist uner­laubt, wenn er
Trotz des Wortes „ist uner­laubt“ gibt es in der Para­gra­phen­kette (§§ 95 Abs. 1 Nr. 3, 14 Abs. 1, 3 Auf­enthG) kein Merkmal, welches Ein­fallstor für ein tat­be­stands­aus­schlie­ßendes Ein­ver­ständnis wäre. Auch das gerade erwähnte „uner­laubt“ in § 14 Abs. 1 Auf­enthG ist ein Begriff, der kein Tat­be­stands­merkmal ist und zudem voll­ständig (!) in den Anfor­de­rungen von §§ 3 Abs. 1 sowie 4 Auf­enthG aufgeht, weil er nur ein Defi­ni­tions-Vehikel dar­stellt. Es hat keinen über­schie­ßenden Inhalt. Zudem ist es – und das ist wichtig – nicht Tat­be­stands­merkmal der Strafnorm (nur in diesem Fall wäre die Figur des tat­be­stand­aus­schlie­ßenden Ein­ver­ständ­nisses ein­schlägig). Das ist keine Inter­pre­tation, sondern wird aus §§ 95 Abs. 1 Nr. 3, 14 Abs. 1 Auf­enthG sehr deutlich. Viel­leicht ver­wendet Müller daher auch nicht diesen Begriff „tat­be­stands­aus­schlie­ßendes Ein­ver­ständnis“. So ganz klar wird aber nicht, wo Müller dog­ma­tisch seine „Heilung“ herholt.
Die Gene­ral­staats­an­walt­schaft hin­gegen spricht es der Sache nach an:
„Da das Schutzgut der Straftat nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG das der Exe­kutive oblie­gende ‚staat­liche Haus­recht“ ist (vgl. Stoppa in Huber, Auf­enthG, 1. Aufl., § 95 Rdrn. 118), handelt bereits nicht tat­be­stands­mäßig, wer das Land mit dem Willen des Berech­tigten betritt“.
Die Aussage der Gene­ral­staats­an­walt­schaft ist aus den vor­ste­henden Gründen aber falsch. Das macht eben (in meh­rerer Hin­sicht) einen deut­lichen Unter­schied zu § 123 StGB.
Transport der Flücht­linge als tat­be­stands-aus­schlie­ßendes Einverständnis?
Noch einmal Müller (umfas­sendes Zitat oben Ziff. 1.1.4):
„Wer vom deut­schen Staat nicht nur ein­ge­laden wird, sondern sogar von Per­so­nen­be­för­de­rungs­un­ter­nehmen in dessen Auftrag über die Grenze trans­por­tiert wird, ohne dass ein Pass von ihm ver­langt wird, (…)“.
Das ist ein merk­würdig Ding. Denn zum einen ist dies eine Situation, die jeden­falls keinen grö­ßeren Erklä­rungswert als die Situation beim Grenz­schutz­be­amten (siehe Ziff. 1.1.1.1) haben kann. Dort kann aber aus dem Kon­trol­lieren nur einiger nicht der Schluss gezogen werden, dass die Pass­pflicht aus­ge­setzt wäre. Umso weniger kann dieses bei Trans­port­un­ter­nehmen gelten, die mit der Pass­kon­trolle nun wirklich nicht betraut sind – die meisten von uns würden sich m.E. sogar ent­rüstet gegen Kon­trollen des Passes durch einen Eisen­bahner wenden. Will sagen: Für die Pass­kon­trolle sind die Trans­port­un­ter­nehmen auch nicht zuständig.
Zudem: Soll die Aussage von Müller heißen, dass (so gut wie) niemand der Ein­rei­senden einen Pass hatte? Warum komme ich auf diesen Gedanken: Die Argu­men­tation von Müller ist m.E. nur stich­haltig, wenn (so gut wie) alle Ein­rei­senden keinen Pass hatten – und dieses klar war. Denn allen­falls dann hätte die „Trans­port­leistung“ (Wei­ter­transport) durch den Staat (oder im Auftrag des Staates) einen Erklä­rungswert, etwa so: „Wir trans­por­tieren Sie, obwohl wir wissen, dass Sie keinen Pass haben – und das ist dem Staat auch ganz gleich­gültig“. Das Trans­por­tieren von der Grenze (da haben die Ein­rei­senden die Grenz­si­tuation schon ver­lassen) weiter ins Land enthält in keiner Weise einen solchen Erklärungsgehalt.
Nun, in einer Situation, wo klar gewesen wäre, dass alle keinen Pass haben, könnte man in der Tat über Wei­te­rungen nach­denken. Aber auch dann würde es wirklich nicht am Vorsatz fehlen. Ich glaube, man tut den Ein­rei­senden kein Unrecht, wenn man davon ausgeht: Ihnen war es schlichtweg egal, ob sie einen Pass hatten (wenn sie keinen hatten) und ob sie illegal nach Deutschland ein­reisen. Zu Vorsatz- und Irr­tums­themen s. Ziff. 3.1.
Die Aussage „Wer vom deut­schen Staat nicht nur ein­ge­laden wird, sondern sogar von Per­so­nen­be­för­de­rungs­un­ter­nehmen in dessen Auftrag über die Grenze trans­por­tiert wird (…)“ ist m.E. zudem gar nicht belegt, jeden­falls nicht in dieser All­ge­meinheit. Müller möge zeigen, dass die Flücht­linge im Auftrag der Bun­des­re­publik in Zügen einfach (min­destens von Öster­reich aus, d.h. dort beginnend) über die deutsche Grenze gebracht wurden, ohne dass eine Grenz­kon­trolle (z.B. durch einen Zoll­be­amten) erfolgte und/oder ohne Aus­steigen für das Über­schreiten der Grenze. Und selbst wenn es Fälle gab: Das hätte doch wirklich nicht zu einem „Aus­setzen“ der Pass­pflicht“ geführt – und in keinem Fall zu einem gene­rellen Aussetzen.
Folge ist, dass auch die Ableitung von Müller („(…) der reist nicht uner­laubt ein, schon gar nicht tut er dies vor­sätzlich“) nicht richtig ist:
„uner­laubt“: doch, an dem Pas­serfor­dernis hat sich nichts geändert (siehe vor allem Ziff. 1.1.1.1).
„vor­sätzlich“: doch, der Vorsatz muss sich nur auf Ein­reise und feh­lender Pass oder feh­lender Auf­ent­halts­titel beziehen (s. Ziff. 3.1).
Ähn­liches gilt für die Aus­sagen der Gene­ral­staats­an­walt­schaft zu diesem Punkt. Jedoch hat sie einen wei­teren Punkt aufgeführt:
„(…) Eine formal wirksame Erlaubnis — hier Ein­reise ohne Pass — ent­faltet im Aus­län­der­recht folglich wie auch sonst bei ver­wal­tungs­ak­zes­so­ri­schen Straf­tat­be­ständen Tat­be­stands­wirkung (vgl. Hail­bronner a.a.O., § 95 Auf­enthG Rdnr. 42), so dass bei Gestattung nach § 18 AsylVfG (jetzt AsylG) keine uner­laubte Ein­reise vor­liegt (vgl. Heinrich ZAR 2003, 166, 168).“ (zitiert nach Müller, https://community.beck.de/2017/06/11/die-strafbarkeit-der-bundeskanzlerin-im-herbst-2015-reloaded )
Nun, auch hierzu ist einiges zu sagen:
„Erlaubnis – hier Ein­reise ohne Pass“: Die „Ein­reise ohne Pass“ hat mit­nichten die Wirkung einer Erlaubnis, womit die Gene­ral­staats­an­walt­schaft ja offenbar meint: Berech­tigung, auch ohne Pass nach Deutschland ein­zu­reisen (und sich dort auf­zu­halten). Um nicht alles zu wie­der­holen, hier in Kürze: Das Ein­reisen ohne Pass (seitens des Ein­rei­senden) hat nicht einmal den Anschein einer durch die Bun­des­re­publik Deutschland erlas­senen Erlaubnis; zudem wurden tat­sächlich an der Grenze Pässe kon­trol­liert und Pass­ver­gehen regis­triert. Die Aussage zur „Erlaubnis“ ist m.E. frei schöp­fe­risch und daher sehr inno­vativ. Sie ent­spricht aber nicht der Rechts­ordnung in Deutschland. Nach Art. 20 Abs. 3 GG („Die Gesetz­gebung ist an die ver­fas­sungs­mäßige Ordnung, die voll­zie­hende Gewalt und die Recht­spre­chung sind an Gesetz und Recht gebunden“) ist auch die Exe­kutive an das Recht gebunden – und das ist nun einmal in diesem Bereich vor allem auch das Ausländerrecht.
„formal wirksame Erlaubnis“: Ich meine, dass im Kom­mentar von Hail­bronner an der betref­fenden Stelle von einer „formell wirksame[n]“ Ein­rei­se­ge­neh­migung gesprochen würde. Wie dem auch sei, man sollte den betref­fenden Satz noch einmal auf der Zunge zer­gehen lassen (wie man so sagt): „Eine formal wirksame Erlaubnis — hier Ein­reise ohne Pass — ent­faltet im Aus­län­der­recht folglich wie auch sonst bei ver­wal­tungs­ak­zes­so­ri­schen Straf­tat­be­ständen Tat­be­stands­wirkung“. Meint die Gene­ral­staats­an­walt­schaft allen Ernstes, dass die „Ein­reise ohne Pass“ (zur dunklen Erin­nerung: Han­delnder ist der Ein­rei­sende) nicht nur eine Erlaubnis (durch den Staat, in den ein­ge­reist wird), sondern eine „formal wirksame“ bewerk­stellige? Oder meint er, dass es eine „formal wirksame Erlaubnis“ an die Ein­rei­senden gab? Von wem aus­ge­stellt? Wie sah die Erlaubnis denn genau aus? Ich wäre für eine Ver­öf­fent­li­chung dieses For­mal­aktes sehr dankbar! – Das ist m.E. alles her­bei­ge­redet, ohne sach­liche Substanz.
Fazit:
Es gibt kein tat­be­stands­aus­schlie­ßendes Ein­ver­ständnis – es gibt nicht einmal den Straf­tat­be­stand, der ein Ein­ver­ständnis als Tat­be­stands­merkmal hätte und damit mög­liches „Ein­fallstor“ für das tat­be­stands­aus­schlie­ßende Ein­ver­ständnis sein könnte; und es gibt auch keine „Lega­li­sierung“ der Ein­reise ohne Pass. Vor allem gibt es aber keine „formal wirksame Erlaubnis“.
Richt­li­ni­en­kom­petenz der Bun­des­kanz­lerin nach Art. 65 Grundgesetz
Es wundert nicht, dass auch die sog. Richt­li­ni­en­kom­petenz der Bun­des­kanz­lerin nach Art. 65 des Grund­ge­setzes als Recht­fer­tigung ihren Dienst tun muss. Aller­dings wird die genau recht­liche Qua­lität der Ent­scheidung der Bun­des­kanz­lerin an dieser Stelle nicht klar. Es bleibt aber die Frage: Könnte eine solche Ent­scheidung etwas an der Tat­be­stands­mä­ßigkeit oder Rechts­wid­rigkeit des Ein­reisens ohne Pass (und/oder ohne Auf­ent­halts­titel) ändern?
Die Staats­an­walt­schaft im Schreiben vom 12. März 2016:
„Dabei ist ange­sichts der erfolgten öffent­lichen Erklä­rungen der Bun­des­kanz­lerin und des Bun­des­in­nen­mi­nisters davon aus­zu­gehen, dass die Bun­des­kanz­lerin die Ein­rei­se­ge­stattung in Aus­übung der ihr gemäß Art. 65 GG zuste­henden Richt­li­ni­en­kom­petenz und im Ein­ver­nehmen mit den übrigen res­sort­mäßig betrof­fenen Kabi­netts­mit­gliedern, ins­be­sondere gemeinsam mit dem formal zustän­digen Bun­des­in­nen­mi­nister getroffen hat.“
Es heißt von der Staats­an­walt­schaft aber auch:
Die „Ent­scheidung, zur Abwendung dieser akuten Notlage die Ein­reise der fest­ge­hal­tenen Flücht­linge in das Bun­des­gebiet zuzu­lassen, bewegt sich rechtlich ohne Zweifel im Rahmen dieses durch das Grund­gesetz gewährten poli­ti­schen Ermessensspielraums“.
Die Wendung „ohne Zweifel“ ist unter (bekanntlich sehr mei­nungs­freu­digen) Juristen ein großes Wort. Man muss schon sehr über­zeugt (d.h. im Klartext: sehr unsicher und in tiefer Sorge) sein, wenn man solches als Jurist ernsthaft sagt. Inter­essant ist, dass die For­mu­lierung „ohne Zweifel“ mit der Aussage kom­bi­niert wird:
Dieser Hinweis im zuletzt zitierten Satz ist insofern nicht ohne Bedeutung, als Art. 65 GG Satz 2 die Bun­des­kanz­lerin nicht zur „Allein­herr­scherin“ macht (dies wurde sie erst durch die geduldete Selbst­er­mäch­tigung, welche als neues Rechts­in­stitut gewiß künftig im Aus­länder- und Asyl­recht eine nicht mehr zu unter­schät­zende Rolle spielen wird). Vielmehr sind die Bun­des­mi­nister im Rahmen der Richt­li­ni­en­kom­petenz der Bun­des­kanz­lerin durchaus frei. Die Kom­bi­nation aus „davon aus­zu­gehen, dass“ und „ohne Zweifel“ ist merk­würdig (auch wenn letz­teres sich auf den Spielraum bezog).
Selbst wenn eine solche Maß­nahme sich innerhalb des Spiel­raums der Richt­li­ni­en­kom­petenz abge­spielt haben sollte – so würde dieses die staat­liche Ordnung und damit u.a. die Zustän­dig­keits­re­ge­lungen nicht aus­hebeln. Die Bun­des­kanz­lerin ist kein Monarch (nicht einmal Mon­archin), sondern selbst sie muss sich im Rahmen rechts­staat­licher Ver­fahren halten. Aus Art. 65 Satz 2 GG geht klar hervor, dass ihre Umsetzung in kon­krete Maß­nahmen den Res­sorts vor­be­halten ist (Meinhard Schröder). Eine unmit­telbare Durch­griffs­be­fugnis in die Res­sorts steht dem Bun­des­kanzler nicht zu (Ute Mager).
Ermäch­tigung nach Art. 84 Abs. 5 S. 1 und 2 GG?
Sodann erwägt die Staats­an­walt­schaft, dass die Bun­des­re­gierung nach Art. 84 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 des Grund­ge­setzes in Ver­bindung mit § 74 Abs. 2 Nr. 1 Auf­ent­halts­gesetz auch befugt sei, „den mit dem Vollzug des Auf­enthG zustän­digen [!] Behörden (…) ent­spre­chende Wei­sungen zu erteilen“. Dieses ist sehr inter­essant, ver­sandet dieser Gedanke doch gleich im Nirwana des Absatz­sendes (von einem Gedan­ke­nende möchte man hier gar nicht sprechen).
„Lega­li­sierung“ der Ein­reise auf­grund von § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG?
Neben dem Argument mit der Aus­setzung der Pass­pflicht gibt es weitere. Da viele Ein­rei­sende keinen Pass und keinen Auf­ent­halts­titel hatten, wirft die Staats­an­walt­schaft die Frage auf:
Kann eine Ent­scheidung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG (in bestimmten Fällen von der Ein­rei­se­ver­wei­gerung oder Zurück­schiebung abzu­sehen) für die Begüns­tigten bedeuten, dass sie nicht „uner­laubt“ ein­reisen und somit nicht gegen §§ 95 Abs. 1 Nr. 3, 14 Auf­enthG verstoßen?
Diese Frage ist wichtig, da die Argu­men­tation mit dem Aus­setzen der Pass­pflicht nicht durch­greift –und auch die Befür­worter zumindest eine Ein­grenzung des Adres­sa­ten­kreises vor­nehmen müssten, so dass nur ein Teil der Ein­rei­senden „begünstigt“ wäre.
In der Sache soll es wohl eben­falls um eine „tat­be­stands­auschlie­ßende“ Wirkung gehen (aber ganz klar ist das nicht, viel­leicht ist auch nur eine Auf­hebung der Rechts­wid­rigkeit gemeint).
Wird eine Ein­reise ohne Pass unter den Vor­aus­set­zungen des § 18 Abs. 4 AsylG erlaubt?
Hier ist die von der Staats­an­walt­schaft sog. „Lega­li­sierung“ ange­sprochen. Gibt es nach Meinung der Staats­an­walt­schaft eine solche Recht­fer­tigung nach § 18 Abs. 4 AsylG? Sie sagt: „Ja“ – man ist irgendwie nicht überrascht.
„Im vor­lie­genden Sach­verhalt hat das Bun­des­in­nen­mi­nis­terium nach den hier vor­lie­genden Infor­ma­tionen von der erwähnten Mög­lichkeit nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 Asyl­ver­fah­rensG Gebrauch gemacht und die erfolgten Ein­reisen aus Dritt­ländern lega­li­siert.“ (Her­vor­hebung von mir)
Ist die von der Staats­an­walt­schaft ange­nommene Lega­li­sie­rungs­funktion denn zutreffend? Schauen wir.
Sys­te­matik von § 18 AsylG / § 15 AufenthG
§ 18 Abs. 4 AsylG lautet:
„ (4) Von der Ein­rei­se­ver­wei­gerung oder Zurück­schiebung ist im Falle der Ein­reise aus einem sicheren Dritt­staat (§ 26a) abzu­sehen, soweit
Daher die Über­legung: Könnte es denn sein, dass durch § 18 Abs. 4 (Nr. 1 oder 2) AsylG eine Ein­reise ohne Pass „erlaubt“ wird/ist? Dazu muss man die Sys­te­matik betrachten:
§ 14 Auf­enthG regelt, was eine „uner­laubte Ein­reise“ ist (ins­be­sondere: wenn ein Pass fehlt)
§ 3 Auf­enthG spricht den Pass an, § 3 Abs. 2 Auf­enthG enthält eine Rechts­grundlage, die in Ein­zel­fällen ein Absehen von dem Pas­serfor­dernis ermög­licht (s. bereits oben 1.1.1.1).
Es wäre ziemlich über­ra­schend, wenn § 18 Abs. 4 AsylG eine (weitere) Befreiung vom Pas­serfor­dernis beinhalten würde – zumal die Vor­schrift davon nun wirklich nichts sagt.
§ 15 Abs. 1 Auf­enthG sagt: „Ein Aus­länder, der uner­laubt ein­reisen will, wird an der Grenze zurück­ge­wiesen“, wobei § 15 Abs. 2 ff. Auf­enthG gewisse Aus­nahmen davon vor­sehen oder zulassen.
§ 18 AsylG hat nun gar nichts mit der Frage des Passes zu tun. Es regelt vielmehr, wann einem Aus­länder (auch wenn er einen Pass hat) die Ein­reise zu ver­weigern ist. So (im Grundsatz), wenn er „aus einem sicheren Dritt­staat“ ein­reist (§ 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG).
Von dieser Pflicht, die Ein­reise zu ver­weigern, sehen nun § 18 Abs. 3 und 4 AsylG Aus­nahmen vor. Inter­essant ist in der Dis­kussion vor allem des § 18 Abs. 4 AsylG, der vor­ran­giges EU-Recht berück­sichtigt (Nr. 1) bzw. dem BMI die Mög­lichkeit ein­räumt, durch Anordnung von einer „Ein­rei­se­ver­wei­gerung oder Zurück­schiebung“ abzu­sehen (Nr. 2).
Besagt nun § 18 AsylG, dass ein Aus­länder zwingend „ein­zu­lassen“ ist, wenn nach Abs. 4 Nr. 2 eine Anordnung des BMI (oder wenn ein Fall von Abs. 4 Nr. 1) vor­liegt? Auch dann, wenn er keinen Pass hat? Aber dann steht doch immer noch § 15 Auf­enthG dagegen, der sagt: Ein Aus­länder ohne Pass (usw.) „wird an der Grenze zurückgewiesen“.
Der Wis­sen­schaft­liche Dienst des Bun­destags (WD) schreibt in seinem Gut­achten vom 24. Mai 2017 (https://www.bundestag.de/blob/514854/0bdb98e0e61680672e965faad3498e93/wd‑3–109-17-pdf-data.pdf) zu § 18 Abs. 4 AsylG:
„Bestehen vor­rangige Dublin-Zustän­dig­keiten im Sinne des § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG oder liegt eine Anordnung des Bun­des­mi­nis­te­riums des Innern nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG vor, ‚ist von der Ein­rei­se­ver­wei­gerung abzu­sehen‘, § 18 Abs. 4 AsylG. Die Norm des § 18 Abs. 4 AsylG gewährt der Grenz­be­hörde kein Ermessen. Vielmehr hat sie bei Vor­liegen der Aus­nah­me­gründe die Ein­reise zu gestatten und den Asyl­su­chenden gemäß § 18 Abs. 1 AsylG an die zuständige Auf­nah­me­ein­richtung wei­ter­zu­leiten.“ (Gut­achten vom 24.5.2017, Ziffer 3 vor Ziff. 3.1; Her­vor­hebung durch mich).
Das klingt sehr klar. Aber stimmt der Ein­druck auch tat­sächlich, dass § 15 Abs. 1 Auf­enthG durch § 18 Abs. 4 AsylG aus­ge­hebelt wird? Obwohl § 18 AsylG ins­gesamt mit dem Thema Pass – und den Anfor­de­rungen an eine „uner­laubte Ein­reise“ – nichts zu tun hat? Das stimmt doch schon merkwürdig…
Das Gut­achten des Wis­sen­schaft­lichen Diensts beschäftigt sich mit diesem Ver­hältnis der Normen gar nicht. Das ist aber wichtig für das Verständnis.
Inter­essant ist, dass Satz 1 im obigen Zitat korrekt ist (der Wis­sen­schaft­liche Dienst zitiert ja auch weit­gehend nur das Gesetz), während Satz 2 eine Inter­pre­tation des Wis­sen­schaft­lichen Diensts ist, die m.E. nicht korrekt ist. Dass der WD Gesetze inter­pre­tiert, ist natürlich nicht schlimm, dafür ist er ja da. Aber der Satz 2 zeigt nicht (hin­rei­chend), dass es eine Schluss­fol­gerung ist, deren Her­leitung unaus­ge­sprochen bleibt (und für die es m.E. auch gar keine Grundlage gibt). Warum?
§ 18 Abs. 2 AsylG lautet: „Dem Aus­länder ist die Ein­reise zu ver­weigern, wenn (…)“.
§ 18 Abs. 4 AsylG sagt dem­ge­genüber für darin genannte Aus­nah­me­fälle: „Von der Ein­rei­se­ver­wei­gerung oder Zurück­schiebung ist im Falle der Ein­reise aus einem sicheren Dritt­staat (§ 26a) abzu­sehen, soweit (…)“. Er sagt nicht: Dass „die Ein­reise zu gestatten“ ist (wie der Wis­sen­schaft­liche Dienst es sagt).
Abs. 4 von § 18 AsylG hebt (in seinem Anwen­dungs­be­reich) lediglich die Anordnung von dessen Abs. 2 auf. Er neu­tra­li­siert die Anordnung sozu­sagen. Damit ist das Feld wieder offen für eine Ein­reise – wenn die anderen gesetz­lichen Vor­aus­set­zungen dafür vorliegen.
Und wenn ein ein­rei­sender Aus­länder keinen Pass hat, dann ist in solchen Fällen eben § 15 Abs. 1 Auf­enthG gefragt, der bei feh­lenden Ein­rei­se­do­ku­menten eine „uner­laubte Ein­reise“ und damit vor­sieht, dass der Betroffene „an der Grenze zurück­ge­wiesen“ wird.
Man muss aber fest­halten, dass der WD auch nicht „positiv“ sagt, dass § 18 Abs. 4 AsylG eine „Lega­li­sie­rungs­wirkung“ bezüglich der Ein­reise ohne Pass habe. Der WD beschäftigt sich in seinem Gut­achten vom 24.5.2017 gar nicht mit dem Thema des (feh­lenden) Passes. (Die Such­funktion zeigt bei „Paß“ und „Pass“ Fehl­an­zeige.) Die oben zitierte Aussage ist aber schief (weil sie eine – falsche – Schluss­fol­gerung enthält), und das könnte in die Irre leiten.
Was sagt Di Fabio in seinem erwähnten Gut­achten für die Baye­rische Staats­re­gierung hierzu?
„§ 15 Auf­ent­haltsG ver­pflichtet die zuständige Behörde, einen Aus­länder, der uner­laubt ein­reisen will, an der Grenze zurück­zu­weisen. Auch § 18 Asyl(verfahrens)gesetz ver­pflichtet die Grenz­be­hörden ohne Ein­räumung eines Ermessens Aus­ländern die Ein­reise zu ver­weigern, wenn sie aus einem sicheren Dritt­staaten ein­reisen oder Anhalts­punkte dafür vor­liegen, dass ein anderer Staat auf­grund von Rechts­vor­schriften der Euro­päi­schen Gemein­schaft oder eines völ­ker­recht­lichen Ver­trages für die Durch­führung des Asyl­ver­fahrens zuständig ist und ein Auf- oder Wie­der­auf­nah­me­ver­fahren ein­ge­leitet wird. Diese Vor­schrift kann durch Minis­ter­an­ordnung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylVfG prak­tisch außer Kraft gesetzt werden. Es kann nicht fest­ge­stellt werden, ob das geschehen ist – es fehlt jeden­falls an einer öffent­lichen Bekannt­ma­chung eines so wesent­lichen Beschlusses. Die Pass­pflicht (§§ 3, 14 Auf­ent­haltsG) wurde offenbar im Ver­wal­tungs­vollzug aus­ge­setzt. Die Pass­pflicht ist durch § 14 Auf­ent­haltsVO in Unglücks- und Kata­stro­phen­fällen aus­ge­setzt.“ (Seite 93 f.; Her­vor­he­bungen durch mich)
Ja, „diese Vor­schrift“ ist § 18 AsylG – und diese (genau: die darin vor­ge­sehene zwin­gende Ein­rei­se­ver­wei­gerung) „kann durch Minis­ter­an­ordnung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylVfG prak­tisch außer Kraft gesetzt werden“. Das stimmt – und stimmt mit dem Ergebnis hier überein. Es sagt aber nichts zur Ein­reise-Ver­wei­gerung bei feh­lendem Pass.
Die Inter­pre­tation muss also die Sys­te­matik doppelt beachten:
Ver­hältnis von Abs. 4 zu den anderen Absätzen innerhalb des § 18 AsylG
Ver­hältnis zwi­schen § 18 AsylG und § 15 AufentG.
Damit ist aber klar, dass § 18 Abs. 4 AsylG – wenn denn eine solche Anordnung nach Abs. 4 Nr. 2 über­haupt vorläge – jeden­falls nichts an der unbe­fugten Ein­reise ändert, wenn der Aus­länder keinen Pass hat.
Das Ergebnis bedeutet, dass auch eine von § 18 Abs. 4 erfasste Aus­nah­me­si­tuation eine Ein­reise (ohne Pass etc.) nicht „legi­ti­miert“.
Weitere Gründe, die gegen eine „Lega­li­sierung“ durch § 18 Abs. 4 AsylG sprechen
Es gibt auch noch weitere Über­le­gungen, warum § 18 Abs. 4 AsylG nichts an der Uner­laubtheit einer Ein­reise ändern kann.
Dazu ist die Betrachtung des Wort­lauts von § 18 Abs. 4 AsylG ein Ansatz: Die Ein­reise (ohne Pass) ist bereits vor der Aktion der Grenz­schutz­be­amten geschehen. Schon jetzt ist bei feh­lendem Pass der Tat­be­stand des § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufentG ver­wirk­licht. Eine Anordnung nach § 18 Abs. 4 AsylG würde diese Themen über­haupt nicht berühren, aber auch gedanklich „zu spät“ kommen. Denn in dem Zeit­punkt, da sich die Frage der „Ein­rei­se­ver­wei­gerung“ stellt, ist der Straf­tat­be­stand bereits verwirklicht.
Dieses wird auch durch fol­gende Über­legung unter­strichen: Der Bun­des­ge­richtshof (BGH) hat im Urteil vom 26. Februar 2015 (Az 4 Str 178/14) die Straf­barkeit des in jenem Fall ange­klagten Gehilfen zum gewerbs­mä­ßigen Ein­schleusen von Aus­ländern (nach § 96 Abs. 1 Nr. 1b, Abs. 2 Nr. 1 Auf­enthG, § 53 StGB) auch im Fall der Unter­stützung meh­rerer direkt über den Luftweg aus Grie­chenland ein­rei­sender Asyl­be­werber mit dem Hinweis bejaht:
„Der Umstand, dass zur Tatzeit keine Rück­über­stel­lungen nach Grie­chenland gemäß der Ver­ordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (Dublin II – VO) erfolgen durften (…), und Deutschland deshalb in Bezug auf aus Grie­chenland ein­ge­reiste Asyl­be­werber von seinem Selbst­ein­tritts­recht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II – VO Gebrauch gemacht hat, steht dem nicht ent­gegen (…)“ (Rn 15; Her­vor­he­bungen durch mich).
Wenn selbst solche Maß­nahmen nichts an der Straf­barkeit einer Ein­reise ohne Pass oder ohne Auf­ent­halts­titel ändern, so ändert eine Ent­scheidung nach § 18 Abs. 4 AsylG, die (nur) eine Ein­rei­se­ver­wei­gerung oder eine Rück­schiebung aus­schließt, eben­so­wenig etwas an einer Straf­barkeit, die in dem „schlichten“ Ver­wirk­lichen von § 14 Auf­enthG liegt: Ein­reise ohne Pass oder ohne Auf­ent­halts­titel. Wie gesagt, ergibt sich dieses aber auch aus der Gesetzessystematik.
Das lässt für die von der Staats­an­walt­schaft „gesehene“ Lega­li­sierung durch § 18 Abs. 4 AsylG m.E. wirklich keinen Raum. Es bedeutet: Selbst eine Erklärung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG würde an der Rechts­wid­rigkeit und auch an der (gene­rellen) Straf­barkeit einer Ein­reise ohne Pass und Visum nichts ändern.
Liegt denn eine Aus­nahme nach § 18 Abs. 4 AsylG über­haupt vor?
Die Lega­li­sie­rungs-Dis­kussion um § 18 Abs. 4 AsylG ist m.E. weit­gehend „Nebel­ker­zen­werfen“. Denn die „Lega­li­sie­rungs­wirkung“ ist eine Mär (s. Ziff. 1.1.5.1) – und selbst wenn man diese Wirkung annehmen würde, wären die Vor­aus­set­zungen dafür gar nicht gegeben, wie jetzt zu zeigen ist.
Gibt es eine Anordnung des BMI nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG?
Die Staats­an­walt­schaft Berlin beruft sich im Schreiben vom März 2016 darauf, „nach den hier vor­lie­genden Infor­ma­tionen“ habe das BMI von der Mög­lichkeit nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG „Gebrauch gemacht“.
Ähnlich scheint es die Gene­ral­staats­an­walt­schaft Berlin zu sehen, die in einer Ent­scheidung vom 29. Juni 2017 auf eine Beschwerde hin (zitiert nach „Die Straf­barkeit der Bun­des­kanz­lerin im Herbst 2015 – rel­oaded“ von Müller , ver­öf­fent­licht am 11.06.2017 unter https://community.beck.de/2017/06/11/die-strafbarkeit-der-bundeskanzlerin-im-herbst-2015-reloaded) u.a. ausführt:
„Die von der Bun­des­kanz­lerin nach außen ver­tretene Ent­scheidung ist in zuläs­siger Weise auf § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylVfG (jetzt AsylG) gestützt, denn aus den publi­zierten Abläufen der Gescheh­nisse um den 4. Sep­tember 2015 (vgl. dazu den im Internet abruf­baren Artikel Der Tag der Deutschland ver­än­derte‘ in FOCUS Nr. 52) ergibt sich in aus­rei­chender Weise, dass der für eine der­artige Anordnung zuständige Bun­des­mi­nister des Inneren Thomas de Mai­ziére in die Ent­scheidung ein­ge­bunden war und diese mit­ge­tragen hat, zumal eine dahin­ge­hende Distan­zierung durch diesen auch in der Fol­gezeit nicht bekannt geworden ist. Da für die Minis­ter­an­ordnung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsyIVfG (jetzt AsylG) – wobei diese Vor­schrift ein weit­gehend rechtlich nicht gesteu­ertes (poli­ti­sches) Ermessen eröffnet (vgl. Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Stand Dezember 2015, § 18 Rdnr 51) – nach dem Gesetz eine bestimmte Form nicht ver­langt wird, besteht jeden­falls kein zurei­chender Anhalt dafür, dass eine solche aus huma­ni­tären Gründen nicht zumindest im Hin­blick auf die erkennbare Eil­be­dürf­tigkeit der Ent­scheidung fak­tisch bzw. kon­kludent vorlag. Auch aus akten­kun­digen Schreiben des Bun­des­po­li­zei­prä­si­diums zum maß­geb­lichen grenz­po­li­zei­lichen Ver­fahren ergibt sich, dass diesem eine Ent­scheidung des Bun­des­mi­nis­te­riums des Inneren nach § 18 Abs. 4 AsylG zugrunde lag. (…)“ (Her­vor­he­bungen durch mich)
Nebenbei: Ich hätte früher ange­nommen, dass eine Staats­an­walt­schaft nicht nur den FOCUS liest (dann hätte ich ja sogar Staats­anwalt werden können), sondern auch ermittelt.
Also: es heißt sehr deutlich „Die von der Bun­des­kanz­lerin nach außen ver­tretene Ent­scheidung ist in zuläs­siger Weise auf § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylVfG (jetzt AsylG) gestützt“. Das ist mehr als eine Ver­mutung, eine Mög­lichkeit. Es ist die Aussage: Das ist so.
Ist das so?
Bis heute weiß offenbar nicht einmal die Bun­des­re­gierung genau, was sie getan hat. Eine schrift­liche Anordnung des BMI nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG (“aus völ­ker­recht­lichen oder huma­ni­tären Gründen oder zur Wahrung poli­ti­scher Inter­essen der Bun­des­re­publik Deutschland“) im Zusam­menhang mit der Grenz­öffnung gibt es jeden­falls nicht.
In einer Antwort der Bun­des­re­gierung vom 23. Februar 2018 auf eine Anfrage von AfD-Abge­ord­neten (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/008/1900883.pdf) heißt es zu der Frage 1:
„1. Trifft es zu, dass es keine schrift­liche Anordnung des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­riums oder des Bun­des­in­nen­mi­nisters an die Bun­des­po­lizei und/oder die Grenz­be­hörden gab und gibt, wonach unter Berufung auf § 18 Absatz 4 Nummer 2 AsylG von der Ein­rei­se­ver­wei­gerung oder Zurück­schiebung von Dritt­staats­an­ge­hö­rigen abzu­sehen ist, welche um inter­na­tio­nalen Schutz nachsuchen?“
nämlich als Antwort:
„Eine schrift­liche Anordnung des Bun­des­mi­nis­te­riums des Innern an das Bun­des­po­li­zei­prä­sidium oder andere mit der poli­zei­lichen Kon­trolle des grenz­über­schrei­tenden Ver­kehrs beauf­tragten Behörden gibt es nicht.“ (zu Frage 1)
(…)
„Die Ent­scheidung wurde im Rahmen der bestehenden Zustän­dig­keiten innerhalb der Bun­des­re­gierung getroffen. Bun­des­mi­nister Dr. Thomas de Mai­zière hat am 13. Sep­tember 2015 den Prä­si­denten des Bun­des­po­li­zei­prä­si­diums über die Ent­scheidung der Bun­des­re­gierung mündlich infor­miert. (…)“. (zu Frage 2)
Die Antwort der Bun­des­re­gierung vom 20. Januar 2016 (also rund 2 Jahre früher) auf eine Kleine Anfrage von Bun­des­tags­ab­ge­ord­neten der LINKEN (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/073/1807311.pdf) zu Frage 1 besagt:
„Der Ein­satz­befehl des Bun­des­po­li­zei­prä­si­diums vom 13. Sep­tember 2015 regelt die Umsetzung der tem­porär ein­ge­führten Grenz­kon­trollen an den deut­schen Bin­nen­grenzen. Bezüglich von Zurück­wei­sungen hat das Bun­des­po­li­zei­prä­sidium ange­wiesen, dass:
a) Dritt­staa­t­an­ge­hö­rigen ohne auf­ent­halts­le­gi­ti­mie­rende Doku­mente und ohne Vor­bringen eines Asyl­be­gehrens grund­sätzlich die Ein­reise nach Artikel 13 des Schen­gener Grenz­ko­dexes in Ver­bindung mit § 15 des Auf­ent­halts­ge­setzes zu ver­sagen ist;
b) Dritt­staa­t­an­ge­hö­rigen ohne auf­ent­halts­le­gi­ti­mie­rende Doku­mente und mit Vor­bringen eines Asyl­be­gehrens die Ein­reise zu gestatten ist.
Im Übrigen werden keine Pres­se­ver­öf­fent­li­chungen kom­men­tiert und auf die Vor­be­merkung verwiesen.“
Und in den „Vor­be­mer­kungen der Bun­des­re­gierung“ zu der vor­ste­henden Kleinen Anfrage der LINKE heißt es:
„Unab­hängig von diesen tem­po­rären Bin­nen­grenz­kon­trollen gelten die ein­reise- und auf­ent­halts­recht­lichen Bestim­mungen. (…) Maß­nahmen der Zurück­weisung an der Grenze mit Bezug auf um Schutz nach­su­chende Dritt­staats­an­ge­hörige kommen derzeit nicht zur Anwendung (§ 18 Absatz 2, Absatz 4 AsylG).“ (Her­vor­he­bungen durch den Verfasser)
Diese Aussage der Bun­des­re­gierung vom Januar 2016 deutet an, dass eine Ent­scheidung nach § 18 Abs. 4 AsylG getroffen worden sei. Aber mehr als eine Andeutung ist dieses nicht. Es werden Rechts­grund­lagen in Klammern genannt. Aber ob es eine Anordnung gibt, die auf Basis von § 18 ABs. 4 AsylG ergangen ist, geht daraus nicht (jeden­falls nicht klar) hervor.
Auch nach zwei Anfragen von Abge­ord­neten und Frak­tionen und den Ant­worten der Bun­des­re­gierung ist die Lage wei­terhin so unklar, dass auch der Wis­sen­schaft­liche Dienst des Deut­schen Bun­destags am Ende seines Gut­achtens vom 24. Mai 2017 festhält (https://www.bundestag.de/blob/514854/0bdb98e0e61680672e965faad3498e93/wd‑3–109-17-pdf-data.pdf):
„Zwar wird einer­seits auf den ‚Rechts­rahmen der Dublin-III-Ver­ordnung‘ ver­wiesen, was die Anwendung des § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG (vor­rangige Dublin-Zustän­digkeit) nahelegt. Ande­rer­seits wird die genaue Rechts­grundlage des § 18 Abs. 4 AsylG in Bezug auf die Nr. 1 oder Nr. 2 gerade nicht benannt und das Vor­liegen einer Anordnung des Bun­des­mi­nis­te­riums des Innern trotz der kon­kreten Fra­ge­stellung nicht aus­drücklich zurück­ge­wiesen. Soweit vor­rangige Dublin-Zustän­dig­keiten ange­nommen worden sein sollten, bliebe zu klären, ob und inwieweit die Bun­des­re­gierung vom Recht des Selbst­ein­tritts Gebrauch gemacht hat oder von einer uni­ons­recht­lichen Ver­pflichtung aus­ge­gangen ist.“ (Her­vor­he­bungen durch mich)
Die Antwort der Bun­des­re­gierung vom Februar 2018 lag da natur­gemäß noch nicht vor, hätte den Wis­sen­schaft­lichen Dienst aber auch nicht viel schlauer gemacht.
Der Staats­an­walt­schaft können also „eigentlich“ keine kon­kreten Infor­ma­tionen über eine Anordnung nach § 18 Abs. 4 AsylG vor­ge­legen haben.
Es ist ja schon fast peinlich, dass man als deut­scher Jurist zugeben muss: Auch nach mehr als 2 Jahren wissen auch die Juristen noch nicht, ob es eine Anordnung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG gibt. Eine Anordnung des BMI (hier noch einmal aus­ge­schrieben: des Bun­des­mi­nis­te­riums des Inneren). Und dieses trotz zweier Kleiner Anfragen an die Bun­des­re­gierung im Bun­destag (von LINKE und AfD). – Noch eine Bemerkung dazu: Ich denke, solche Anord­nungen, auch mit Ände­rungen des Aus­län­der­rechts, sollten künftig – gerne auch rück­wirkend – durch Anordnung des BMI ergehen, zu ver­öf­fent­lichen durch Aushang in der BMI-Kantine.
Dies bedeutet: auch 2,5 Jahre später ist nicht klar, ob das BMI eine Anordnung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG getroffen hat.
Wenn es tat­sächlich eine solche Anordnung gegeben haben sollte, so wäre die weitere Frage, ob die Bun­des­re­gierung oder die Bun­des­kanz­lerin eine solche über­haupt hätte ohne Ent­scheidung des Bun­des­tages treffen dürfen (Stichwort Wesent­lich­keits­theorie). Diese Fragen sind im Rahmen der straf­recht­lichen Bewertung aller­dings in der Tat nicht relevant. Aber die Fragen sind auch des­wegen nicht relevant, weil eine Aus­nahme nach § 18 Abs. 4 AsylG an einer „unbe­fugten Ein­reise“ und deren straf­recht­lichen Folgen nichts änderte (s. Ziff. 1.1.5.1 ff.). Ver­wal­tungs- und staats­rechtlich sind diese Fragen natürlich wei­terhin interessant.
(Insoweit) ähnlich bewertet Putzke die Situation (www.jura.uni-passau.de/putzke/aktuelles/, dort unter der Über­schrift „Ist Angela Merkel eine Schleu­serin? – Eine straf­recht­liche Betrachtung“):
„Es ist auch nicht ersichtlich, dass eine im Auf­ent­halts­gesetz gere­gelte Aus­nahme greift, ad hoc die Vor­aus­set­zungen für erlaubte Ein­reisen geschaffen worden wären oder das Par­lament die Strafnorm des § 95 Auf­enthG in Win­deseile außer Kraft gesetzt hätte, mit der Folge, dass aus uner­laubten Ein­reisen ab dem 5. Sep­tember erlaubte geworden wären. Denn davon hätten die Staats­an­walt­schaften längst unter­richtet werden müssen, um zu ver­hindern, dass grundlos Ermitt­lungs­ver­fahren gegen Flücht­linge ein­ge­leitet werden. Der­gleichen ist nicht geschehen. (Dass die Straf­taten meist wegen eines Asyl­an­trags nicht ver­folgt und ein­ge­stellt werden, wirkt sich nicht auf die Rechts­wid­rigkeit der uner­laubten Ein­reise aus. Daran ändert auch, soweit ange­sichts der Ein­reise aus sicheren Dritt­staaten über­haupt ein­schlägig, Artikel 31 der Genfer Flücht­lings­kon­vention nichts, der nach herr­schender Meinung keinen Rechtfertigungs‑, sondern nur einen per­sön­lichen Schuld­auf­he­bungs­grund dar­stellt.)“ (Her­vor­he­bungen von mir)
„Lega­li­sierung“ nach § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG?
Die Staats­an­walt­schaft befasst sich nicht mit § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG. Dieses Thema soll hier trotzdem ange­sprochen werden, weil die recht­lichen Dis­kus­sionen nach der Grenz­öffnung gerade auch um diese Vor­schrift kreis(t)en. Dass § 18 Abs. 4 AsylG keine „Lega­li­sierung“ bewirkt, wurde bereits oben Ziff. 1.1.5.1 ff. gesehen – und gilt auch für den Fall der Nr. 1.
Daher soll hier rein vor­sorglich geprüft werden, ob es einen solchen Aus­nah­mefall denn über­haupt gegeben hat (wenn nein, wäre die Lega­li­sie­rungs­funktion auch deshalb gegenstandslos).
§ 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG sieht vor, dass eine Rück­weisung an der Grenze oder Rück­schiebung „auf­grund von Rechts­vor­schriften der Euro­päi­schen Gemein­schaft oder eines völ­ker­recht­lichen Ver­trages“ aus­ge­setzt werden können (§ 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG).
Die in § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG genannten Vor­aus­set­zungen, von einer zwin­genden Ver­wei­gerung der Ein­reise bei Aus­ländern aus einem sicheren Dritt­staat (s. Abs. 2 Nr. 1) abzu­sehen, sind jedoch nicht ein­schlägig. Lediglich für einen eng begrenzten Fall sieht Art. 31 Abs. 1 der Genfer Flücht­lings-kon­vention („GK“), auf welchen § 95 Abs. 5 Auf­enthG ver­weist, Straf­freiheit im Hin­blick auf die „unrecht­mäßige Ein­reise“ vor. Art. 31 Abs. 1 GK besagt:
„Die ver­trag­schlie­ßenden Staaten werden wegen unrecht­mä­ßiger Ein­reise oder Auf­ent­halts keine Strafen gegen Flücht­linge ver­hängen, die unmit­telbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der ver­trag­schlie­ßenden Staaten ein­reisen oder sich dort auf­halten, vor­aus­ge­setzt, dass sie sich unver­züglich bei den Behörden melden und Gründe dar­legen, die ihre unrecht­mäßige Ein­reise oder ihren unrecht­mä­ßigen Auf­enthalt rechtfertigen.“
Hiernach müsste der Flüchtling „unmit­telbar“ aus einem Gefah­renland ein­ge­reist sein. Öster­reich gehört nicht dazu, und bei Ein­reise etwa aus Öster­reich ist nach Art. 16a Abs. 2 GG regel­mäßig auch eine Berufung auf das Asyl­recht aus­ge­schlossen. Dieses bedeutet zugleich:
„Asyl­be­werber, die die Vor­aus­set­zungen des Art. 31 GK nicht erfüllen, genießen nicht bereits auf Grund der förm­lichen Asyl­an­trag­stellung im Sinne des § 14 AsylG und der damit ver­bun­denen Erteilung einer Auf­ent­halts­ge­stattung Straf­lo­sigkeit in Bezug auf die vor­an­ge­gangene uner­laubte Ein­reise“ (Kom­mentar zum Aus­län­der­recht von Hail­bronner u.a.).
Selbst bei Flücht­lingen, die sich auf Art. 31 GK hätten stützen können, würde die Straf­aus­schließung nach § 95 Abs. 5 Auf­enthG nur ihnen per­sönlich zugu­te­kommen. Damit wären sog. Betei­li­gungs­formen (Anstiftung oder Bei­hilfe) bezüglich dieser (für den Grenz­über­tre­tenden wegen § 95 Abs. 5 Auf­enthG gfs. straf­losen) Haupttat möglich. An einer Straf­barkeit von Anstiftern und Gehilfen würde sich hier­durch also nichts ändern.
Von einigen Juristen wird dieses Ergebnis bestritten und behauptet, aus § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG ergebe sich über den Verweis u.a. auf die sog. Dublin-III-Ver­ordnung (dort ins­be­sondere Art. 20 und 21), dass Deutschland gerade nicht zurück­weisen, sondern „ein Ver­fahren zur Zustän­dig­keits­fest­stellung“ durch­führen müsse (z.B. Prof. Dr. Jürgen Schwabe, Neue Juris­tische Wochen­schrift Heft 8/2016 „Edi­torial“). Robin Alex­ander berichtet in seinem Buch „Die Getrie­benen. Merkel und die Flücht­lings­po­litik. Report aus dem Innern der Macht“ detail­liert über ent­spre­chende Dis­kus­sionen vor allem im BMI, nachdem die Spit­zen­ver­treter der Großen Koalition (u.a. Bun­des­kanz­lerin Merkel und der Innen­mi­nister sowie SPD-Ver­treter) einige Tage zuvor die Schließung der deut­schen Grenze zu Öster­reich für Sonntag, den 13.9.2015 eigentlich beschlossen hatten. U.a. wurde hierbei das später auch von J. Schwabe benutzte Argument vor­ge­bracht, dass man die Grenzen gar nicht schließen und Per­sonen, die viel­leicht einen Asyl­antrag stellen wollen, nicht an der Grenze zurück­weisen dürfe. Wobei von anderen (zu recht) darauf hin­ge­wiesen wurde, dass z.B. beim Welt­wirt­schafts­gipfel in Elmau in Bayern kurz vorher genau dieses prak­ti­ziert wurde. Diese Dis­kussion war letztlich (nach Alex­ander) aber nicht aus­schlag­gebend für die Ent­scheidung, am 13.9.2015 die Grenzen dann doch nicht zu schließen. Vielmehr wollte die Bun­des­kanz­lerin (kurz gesagt) unschöne Bilder ver­meiden. Die „Grenz­schließung“ am 13.9.2015 unter­blieb daher.
Zu der Meinung u.a. von Schwabe ist zudem zu bemerken, dass das Zustän­dig­keits­fest­stel­lungs-ver­fahren nach der Dublin-III-Ver­ordnung gerade nicht die in § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG gefor­derte Vor­aus­setzung erfüllt: dass nämlich Deutschland „auf Grund von Rechts­vor­schriften der Euro­päi­schen Gemein­schaft  (…) für die Durch­führung eines Asyl­ver­fahrens zuständig ist“ (Her­vor­hebung von mir). Das Asyl­ver­fahren (in Deutschland) ist etwas anderes als die Prüfung der Zustän­digkeit für das Asyl­ver­fahren (durch Deutschland). Diese Unter­scheidung wird jetzt auch vom Wis­sen­schaft­lichen Dienst des Deut­schen Bun­destags in seinem Gut­achten vom 24.5.2017 mit dem Titel „Ein­rei­se­ver­wei­gerung und Ein­rei­se­ge­stattung nach § 18 Asyl­gesetz“ (https://www.bundestag.de/blob/514854/0bdb98e0e61680672e965faad3498e93/wd‑3–109-17-pdf-data.pdf) unter Ziff. 3.1 vorgenommen.
Andere wie­derum berufen sich auf das sog. Selbst­ein­tritts­recht eines – nach der Dublin-III-Ver­ordnung für die Durch­führung des Asyl­ver­fahrens eigentlich nicht zustän­digen – EU-Staates. Nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Ver­ordnung steht es im Ermessen eines Mit­glieds­staates, das Asyl­ver­fahren doch selbst durch­zu­führen (Ermes­sens­klausel). Einmal abge­sehen davon, dass vor der Ein­reise der Per­sonen seitens Deutsch­lands keine ent­spre­chenden all­ge­meinen Erklä­rungen abge­geben wurden, wird zu recht bezweifelt, dass Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Ver­ordnung über­haupt als „Mas­sen­in­strument“ ein­ge­setzt werden dürfte. Der EuGH hat in seiner Ent­scheidung vom 16.2.2017 (Az C‑578/16 PPU) dem­entspre­chend zu Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Ver­ordnung auf eine Ein­zelfall-Situation (Erkrankung) abge­stellt (siehe Rn 88 des Urteils). Zudem ist eine Ermes­sens­ent­scheidung in einem „Mas­senfall“ kaum möglich, da eine Ermes­sens­ent­scheidung die Umstände des Falles ein­be­ziehen muss. Es ist zuzu­geben, dass der EuGH in dem Urteil eine „Mas­sen­an­wendung“ nicht explizit aus­ge­schlossen hat, aber das von ihm gewählte Bei­spiel wäre unver­ständlich, wenn der EuGH in der Ermes­sens­klausel auch eine Anwendung auf eine unbe­stimmte Vielzahl von Men­schen sehen würde.
Es kommt hinzu, dass der Bun­des­ge­richtshof in dem erwähnten Urteil vom 26. Februar 2015 auch für den Fall des im Vorfeld erklärten Selbst­ein­tritts der Bun­des­re­publik Deutschland die Rechts­wid­rigkeit einer Ein­reise ohne Pass oder ohne Auf­ent­halts­titel und damit die Straf­barkeit der Betref­fenden nicht ein­ge­schränkt sieht.
Es liegt kein Aus­nah­mefall nach § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG vor. Folglich ändern alle diese Über­le­gungen nichts an einer Straf­barkeit, die in dem „schlichten“ Ver­wirk­lichen von § 14 Auf­enthG liegt: Ein­reise ohne Pass oder ohne Aufenthaltstitel.
(kein) feh­lender Aufenthaltstitel?
Da nach § 14 Auf­enthG neben einem Pass auch ein Auf­ent­halts­titel erfor­derlich ist (um eine „uner­laubte Ein­reise“ zu ver­meiden), deutet die Staats­an­walt­schaft auch einen solchen nach §§ 22 f. Auf­enthG an (mehr ist es aber auch nicht). Die Staats­an­walt­schaft erwähnt § 22 Auf­enthG, dessen Satz 1 lautet:
„Einem Aus­länder kann für die Auf­nahme aus dem Ausland aus völ­ker­recht­lichen oder drin­genden huma­ni­tären Gründen eine Auf­ent­halts­er­laubnis erteilt werden.“
Hierauf geht die Staats­an­walt­schaft aber nicht näher ein. Da eine ernst­hafte Behauptung der Staats­an­walt­schaft fehlt, dass sich hieraus wirklich ein Auf­ent­halts­titel ergebe, hier die Pro­blem­punkte in Kürze:
Es fällt auf, dass § 22 Auf­enthG (im Gegensatz zu § 18 AsylG) nicht nur „huma­nitäre“, sondern „drin­gende huma­nitäre Gründe“ ver­langt. Mit der Ein­fügung des Wortes „drin­gende“ (Gründe) „wird unter­strichen, dass § 22 nicht als gene­ral­klau­sel­artige Befugnis zur Auf­nahme von Aus­ländern ange­sehen werden kann, sondern dass lediglich im Aus­nah­mefall eine Auf­nahme in Betracht kommt“ (Kom­mentar zum Aus­län­der­recht von Hail­bronner u.a.). Solche „drin­gende huma­nitäre Gründe“ können also bei einem „Mas­sen­ver­fahren“ gar nicht vorliegen.
In Ver­fah­rens­hin­sicht sieht § 22 Auf­enthG vor, dass eine Behörde eine Ent­scheidung treffen „kann“ (Ermes­sens­ent­scheidung). Nach dem Gesetz hat der Aus­länder aber noch keine (für § 14 Auf­enthG ja wichtige) Auf­ent­halts­er­laubnis. Vielmehr ist dafür eine Erteilung durch die Behörde erfor­derlich. § 22 Auf­enthG gibt nur unter den Vor­aus­set­zungen des Satzes 2 einen Anspruch auf die Erteilung der Erlaubnis, nämlich dann, „wenn das Bun­des­mi­nis­terium des Innern oder die von ihm bestimmte Stelle zur Wahrung poli­ti­scher Inter­essen der Bun­des­re­publik Deutschland die Auf­nahme erklärt hat“. Diese Gründe nach Satz 2 müssen zu denen nach Satz 1 („drin­gende huma­nitäre Gründe“) hin­zu­kommen. Auch dazu sagt die Staats­an­walt­schaft nichts.
Die Bun­des­kanz­lerin ist zudem weder für die Begründung einer Auf­nah­me­pflicht nach Satz 2 noch für die Ermes­sens­ent­scheidung nach Satz 1 zuständig.
§ 23 Abs. 2 Auf­enthG: Die Staats­an­walt­schaft erwähnt – eher bei­läufig – auch § 23 Abs. 2 Auf­enthG, der für den „Bund“ eine Anord­nungs­be­fugnis ent­halte, „auf deren Grundlage Aus­länder aus bestimmten Staaten auf­ge­nommen werden können“. Die Vor­schrift lautet:
„(2) Das Bun­des­mi­nis­terium des Innern kann zur Wahrung besonders gela­gerter poli­ti­scher Inter­essen der Bun­des­re­publik Deutschland im Benehmen mit den obersten Lan­des­be­hörden anordnen, dass das Bun­desamt für Migration und Flücht­linge Aus­ländern aus bestimmten Staaten oder in sons­tiger Weise bestimmten Aus­län­der­gruppen eine Auf­nah­me­zusage erteilt. Ein Vor­ver­fahren nach § 68 der Ver­wal­tungs­ge­richts­ordnung findet nicht statt. Den betrof­fenen Aus­ländern ist ent­spre­chend der Auf­nah­me­zusage eine Auf­ent­halts­er­laubnis oder Nie­der­las­sungs­er­laubnis zu erteilen. Die Nie­der­las­sungs­er­laubnis kann mit einer wohn­sitz­be­schrän­kenden Auflage ver­sehen werden. Die Auf­ent­halts­er­laubnis berechtigt zur Aus­übung einer Erwerbstätigkeit.“
Aber auch hier spart die Staats­an­walt­schaft sich nähere Aus­sagen, was sie damit konkret sagen will. Pro­blem­punkte auch hier in Kürze:
Nach § 23 Abs. 2 Auf­enthG wäre das BMI zuständig, das aber nach Aus­sagen der Staats­an­walt­schaft nicht gehandelt hat.
Das BMI hätte aber auch wie­derum nur das BAMF anweisen können, also hiernach keine nach außen gerichtete Ent­scheidung treffen können. Erst das BAMF hätte dann „eine Auf­ent­halts­er­laubnis“ erteilen können – dass es dazu gekommen ist, wird aber auch von der Staats­an­walt­schaft nicht behauptet.
Eine Ersetzung der Ent­scheidung der BAMF (gfs. auf Anweisung hin) durch eine direkte Anordnung der Bun­des­kanz­lerin (für die Bun­des­re­gierung), wie die Staats­an­walt­schaft dieses darlegt, wäre mit hoher Wahr­schein­lichkeit offen­sichtlich feh­lerhaft und damit nach § 44 VwVfG nichtig und damit unbeachtlich.
Auch aus den Aus­füh­rungen der Staats­an­walt­schaft ergibt sich also kein Hinweis auf das Vor­liegen einer den Auf­ent­halts­titel erset­zenden Ent­scheidung. Da die meisten Ein­rei­senden kein Visum und auch keinen anderen Auf­ent­halts­titel hatten, wäre allein schon aus diesem Grund die Ein­reise „unbefugt“ im Sinne von §§ 14 f. AufenthG.
Es fällt auf, daß der Aus­ein­an­der­setzung mit einer Straftat nach §§ 95 Abs. 1 Nr. 1, 14 Abs. 1 Nr. 2 Auf­enthG wenig Raum und Beachtung geschenkt wird. Was nicht ange­messen ist, führt diese „Kette“ doch in gleicher Weis zu einer (mög­lichen) Straf­barkeit wie beim feh­lenden Paß. Viel­leicht war es der Mangel an mög­lichen argu­men­ta­tiven Ansätzen, der hier eher zu einem „Umschiffen“ führte.
Gehilfen-/An­stif­tungs­handlung durch Fr. Dr. Merkel u.a.?
Ich möchte mich hier kurz fassen und nur Putzke zitieren, der sich aller­dings aus poli­ti­schen (nicht aus recht­lichen) Gründen gegen eine straf­recht­liche Ver­folgung von Frau Dr. Merkel aus­spricht (www.jura.uni-passau.de/putzke/aktuelles/, dort unter der Über­schrift „Ist Angela Merkel eine Schleu­serin? – Eine straf­recht­liche Betrachtung“):
„Nun gibt es zwei Mög­lich­keiten: Ent­weder erfüllen Per­sonen, die ab dem 5. Sep­tember Flücht­linge nach Deutschland befördert haben, nicht den Tat­be­stand des Ein­schleusens von Aus­ländern, oder all jene haben sich eben­falls strafbar gemacht, die bei der uner­laubten Ein­reise Hilfe geleistet haben, dar­unter die deutsche Bun­des­kanz­lerin Angela Merkel. Denn für die Tat­be­stands­er­füllung genügt jedes Ver­halten, das den uner­laubten Grenz­über­tritt in irgend­einer Weise objektiv fördert. Angela Merkels Ent­schluss, zusammen mit Öster­reich die EU-Abreden über das Wei­ter­rei­se­verbot von Flücht­lingen außer Kraft zu setzen, stellt sich zwei­fellos als eine solche För­derung dar, wenn es nicht sogar kon­kludent als Auf­for­derung zur uner­laubten Ein­reise zu ver­stehen war, was eben­falls strafbar wäre, nämlich nach § 111 Absatz 1 des Straf­ge­setz­buchs (StGB). Es ist auch nicht ersichtlich, dass eine im Auf­ent­halts­gesetz gere­gelte Aus­nahme greift (..).“ (Her­vor­he­bungen von mir)
Ich glaube, an diesem Punkt würde eine Straf­ver­folgung also kaum scheitern.
(Kein) Vorsatz?
Da es bei dieser Beur­teilung nicht allein um die Tat­be­stands­mä­ßigkeit des Han­delns der Ein­rei­senden („ohne Pass oder ohne Auf­ent­halts­titel“) und der mög­lichen Gehilfen bzw. Anstifter geht, sondern um deren Straf­barkeit, prüft die Staats­an­walt­schaft (aus ihrer Position kon­se­quen­ter­weise: nur „hilfs­weise“) die sog. sub­jektive Tatseite.
Vorsatz der Einreisenden?
Die rechts­widrige Haupttat besteht lediglich in der Ein­reise ohne Pass oder ohne Auf­ent­halts­titel, was objektiv bestimmt wird. Bei sog. Vor­satz­de­likten müssen die Tat­be­stands­merkmale vom Vorsatz des „Täters“ umfasst sein.
Vorsatz bezüglich der Tat­be­stands­merkmale des § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG
Strafbar macht sich der Aus­länder, der vor­sätzlich ohne den erfor­der­lichen Pass oder ohne Auf­ent­halts­titel nach Deutschland ein­reist. Das sind die Tat­be­stands­merkmale der uner­laubten Ein­reise nach § 14 Abs. 1 Auf­enthG (auf den wie­derum § 95 Abs. 1 Nr. 3 und damit letztlich auch § 96 Auf­enthG / §§ 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG, 26 f. StGB Bezug nehmen). Nur darauf muss sich der Vorsatz beziehen.
Vorsatz bezüglich des Fehlens von Pässen und/oder Auf­ent­halts­titel bei der Ein­reise nach Deutschland ist bei den Per­sonen, die ab dem 5.9.2015 nach Deutschland ein­ge­reist sind, in aller Regel sicherlich gegeben. Dieses Thema ist nor­ma­ler­weise sowieso kein Problem. Wer reist schon „unvor­sätzlich“ ein – oder wer irrt sich über das Vor­han­densein eines Passes?
Vorsatz bezüglich der Ille­ga­lität erforderlich?
Dennoch wird ver­schie­dentlich der Vorsatz der Ein­rei­senden bestritten. Die Staats­an­walt­schaft ver­neint den Vorsatz mit den fol­genden Argumenten:
„Im Übrigen wäre selbst unter der Annahme, dass die Ein­rei­se­ge­stattung die Uner­laubtheit des Grenz­über­tritts nicht zu besei­tigen ver­mochte, jeden­falls die Erfüllung der erfor­der­lichen sub­jek­tiven Tat­seite durch die ein­rei­senden Flücht­linge nicht gegeben, denn diese müssten vor­sätzlich hin­sichtlich der Ille­ga­lität ihrer Ein­reise gehandelt haben.“ (Her­vor­he­bungen durch mich)
Und:
„Vor dem Hin­ter­grund der öffentlich bekannt gemachten Ein­rei­se­ge­neh­migung durch die Bun­des­kanz­lerin als Ver­tre­terin der Bun­des­re­publik Deutschland an die in Ungarn fest­sit­zenden Flücht­linge (…) fehlte es den von der Ent­scheidung betrof­fenen Flücht­lingen in jedem Fall an dem erfor­der­lichen Vorsatz hin­sichtlich der Uner­laubtheit ihrer Ein­reise (…)“. (Her­vor­he­bungen durch mich)
Die „ahnende“ Staats­an­walt­schaft behauptet also, dass auch Vorsatz bezüglich der „Ille­ga­lität“ der Ein­reise erfor­derlich sei. Eine solche Behauptung ist schlicht falsch. Dieses wird bereits aus § 17 StGB deutlich, der dann, wenn „dem Täter bei Begehung der Tat die Ein­sicht, Unrecht zu tun“, fehlt, eine andere Folge vor­sieht (nicht aber den Vorsatz ent­fallen lässt). Siehe dazu sogleich Ziff. 3.1.3.
(In einer Klausur im Studium hätte die Staats­an­walt­schaft m.E. kaum bestanden, geht es hier doch um Grund­lagen des Straf­rechts, die schon in den ersten Semestern „vor­kommen“. – Jetzt muss ich aber auf­passen, sonst kommt die Kutsche noch retour.)
Rele­vanter Irrtum der Ein­rei­senden (Tat­be­stands­irrtum, Verbotsirrtum)?
Die §§ 16 f. StGB regeln ver­schiedene Irr­tümer eines mög­lichen Täters:
§ 16
Irrtum über Tatumstände
(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetz­lichen Tat­be­stand gehört, handelt nicht vor­sätzlich. Die Straf­barkeit wegen fahr­läs­siger Begehung bleibt unberührt.
(2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den Tat­be­stand eines mil­deren Gesetzes ver­wirk­lichen würden, kann wegen vor­sätz­licher Begehung nur nach dem mil­deren Gesetz bestraft werden.
§ 17
Verbotsirrtum
Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Ein­sicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht ver­meiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum ver­meiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
Putzke meint in http://www.jura.uni-passau.de/putzke/aktuelles/ unter der Über­schrift „Prof. Dr. Henning Müller (Regensburg): Pass­pflicht für Flücht­linge seit dem 5.9.2015 ‚rea­liter ausgesetzt‘“,
„Es bleibt abzu­warten, ob die Justiz sich diesen Gedanken [gemeint: Straf­ver­folgung von Schleusern wie auch von Bun­des­kanz­lerin Merkel in gleicher Weise] zu eigen machen wird, oder ob sie – wie ich es für richtig halte – von einem unver­meid­baren Ver­bots­irrtum ausgeht. Nicht ganz unwahr­scheinlich ist es freilich, dass Per­sonen, die nach dem 5.9.2015 geschleust haben, wei­terhin ver­ur­teilt werden. Dann würde sich die Frage nach der Straf­barkeit von Zug‑, Bus- und Taxi­fahrern sowie der Bun­des­kanz­lerin freilich erneut stellen.“
… und ebendort im Beitrag „Ist Angela Merkel eine Schleu­serin? – Eine straf­recht­liche Betrachtung“:
„(…) Die Straf­lo­sigkeit berufs­ty­pi­schen Ver­haltens endet nach stän­diger Recht­spre­chung des Bun­des­ge­richtshofs jeden­falls dort, wo der Hil­fe­leis­tende weiß, dass das Ver­halten des Haupt­täters darauf abzielt, eine strafbare Handlung zu begehen. Genau das ist bei Flücht­lingen der Fall: Sie machen sich strafbar wegen uner­laubter Ein­reise. Wer das Ver­halten von Zug­führern, ohne eine stich­haltige Begründung zu liefern, für straflos erklärt, gerät bei sons­tigen Schleusern in größte Erklä­rungsnot. Wer Zug­führern, was durchaus ver­tretbar erscheint, einen unver­meid­baren Ver­bots­irrtum zubilligt, darf ihn anderen Per­sonen, die nach dem 5. Sep­tember 2015 Flücht­linge (sei es aus Habgier oder Altru­ismus) nach Deutschland gebracht haben (also den „klas­si­schen“ Schleusern), nicht ohne Wei­teres verwehren.“
Richtig ist daran, dass die Ein­rei­senden sich nicht über Tat­be­stands­merkmale geirrt haben, wie es § 16 StGB ver­langt. Also könnte allen­falls § 17 StGB zum Zuge kommen. Aller­dings erfordert ein „unver­meid­barer“ Ver­bots­irrtum nach § 17 Satz 1 StGB (wenn ein Ver­bots­irrtum denn über­haupt vor­liegt) nach der Recht­spre­chung ein sehr hohes Maß an Sorgfalt, bevor ein Rechts­un­kun­diger darauf ver­trauen darf, dass eine bestimmte Ver­hal­tens­weise nicht ver­boten ist (was sie aber doch ist – sonst gibt es das Irr­tums­problem nicht). Die Situation der Ein­rei­senden ab dem 5.9.2015 erfüllt diese Anfor­de­rungen in gar keiner Weise.
Im Falle eines „ver­meid­baren Ver­bots­irrtums“ wäre nach § 17 Satz 2 StGB allen­falls über eine Straf­mil­derung „nach­zu­denken“ (wobei m.E. auch dieses nicht von dem Gesetz gedeckt ist). Das würde aber an der vor­sätz­lichen und rechts­wid­rigen Tat (die Vor­aus­setzung für Anstiftung oder Bei­hilfe ist) nichts ändern. Diese Tat wird auch als „Haupttat“ bezeichnet, auf die sich Anstiftung und Bei­hilfe dann beziehen.
Ver­ant­wortlich Han­delnde der Bundesregierung
Wie am Ende von Ziff. 3.1.3 fest­ge­halten, liegt die vor­sätz­liche und rechts­widrige Haupttat bei einer Vielzahl von Flücht­lingen vor. Ich sehe keine Zweifel, dass der Vorsatz zur För­derung („Bei­hilfe“ iSv § 27 StGB) eben­falls vor­liegt. Noch einmal Putzke:
„Das den Tat­be­stand der Ein­schleusung von Aus­ländern erfül­lende Ver­halten ist auch nicht gerecht­fertigt. In Betracht kommt allein eine Recht­fer­tigung nach § 34 StGB. Doch danach müsste eine gegen­wärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leben oder Leib vor­ge­legen haben. Der­gleichen gab es weder an der unga­ri­schen Grenze noch in Öster­reich – weder vor dem 5. Sep­tember, erst recht nicht Tage danach, schon gar nicht heute. „Huma­nitäre Gründe“ allein genügen jeden­falls nicht, um einen recht­fer­ti­genden Not­stand anzu­nehmen. Und Alter­na­tiven zur tole­rierten Wei­ter­reise waren poli­tisch offen­sichtlich nicht gewollt, etwa das Fest­halten an den Grund­sätzen der Dublin-III-Ver­ordnung, gekoppelt mit sofor­tiger finan­zi­eller oder per­so­neller Hilfe, zum Bei­spiel für Ungarn zur Bewäl­tigung des Flücht­lings­stroms und für die dortige Regis­trierung der Flücht­linge. Mit­ein­zu­be­ziehen ist der Umstand, dass die Bun­des­re­gierung die Zuspitzung der Situation durch feh­lende Soli­da­rität und Unter­stützung mit den Staaten, in denen Flücht­linge die EU erreichen und durch die die Flucht­route gen Norden führt, mit­ver­ur­sacht hat.
Das rechts­widrige Ver­halten der Ein­schleusung von Aus­ländern ist auch nicht ent­schuldigt – weder bei Schleusern, die Flücht­linge in Autos nach Deutschland schaffen, noch auf Seiten der deut­schen Bun­des­kanz­lerin, die dafür gesorgt hat, dass die Men­schen unge­hindert ein­reisen können. Denn obwohl zur Begründung der Ent­scheidung auf die damals vor­herr­schende Notlage an der unga­ri­schen Grenze und huma­nitäre Gründe ver­wiesen wurde, lagen aus Sicht des gel­tenden Straf­rechts die Vor­aus­set­zungen eines ent­schul­di­genden Not­stands nicht vor, auch nicht eines „über­ge­setz­lichen“. Men­schen in Not­lagen nicht im Stich zu lassen, ist ohne jeden Zweifel richtig. Dabei Straf­ge­setze zu ver­letzten, ist falsch. Eine deutsche Bun­des­kanz­lerin hat sich genauso an gel­tendes Recht zu halten wie jede andere Person auch – oder muss dieses Recht vom Par­lament eben ändern lassen.“
Wie erwähnt, ist Putzke poli­tisch gegen die Straf­ver­folgung, die recht­lichen Hin­weise sind aber hin­rei­chend deutlich.
Will sagen: Es spricht nach allem wirklich sehr viel dafür, dass zumindest die Bun­des­kanz­lerin sich wegen der Anstiftung oder Bei­hilfe zur uner­laubten Ein­reise strafbar gemacht hat. Die u.a. von der Staats­an­walt­schaft vor­ge­brachten Gründe, die angeblich dagegen sprächen, können nach den vor­ste­henden Aus­füh­rungen m.E. nicht mehr auf­recht­erhalten werden.
Ergebnisse:
Der sog. objektive Tat­be­stand des § 95 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist erfüllt, bei vielen sowohl bezüglich des feh­lenden Passes wie auch des feh­lenden Auf­ent­halts­titels (ins­be­sondere in Form eines Visums).
Ein sog. tat­be­stands­aus­schlie­ßendes Ein­ver­ständnis durch „Ein­ladung“ vor allem seitens der Bun­des­kanz­lerin ist nicht gegeben.
Behauptete Sze­narien, die der vor­sätz­lichen rechts­wid­rigen (Haupt-)Tat der Ein­rei­senden ent­ge­gen­stehen würden, greifen nicht. Dieses gilt ins­be­sondere für:
angeb­liches „Aus­setzen der Pass­pflicht“ durch Exekutive
angeb­liches Ein­greifen von § 14 Auf­enthVO als Aus­nahme von der Passpflicht
angeb­liche „Lega­li­sierung“ der Ein­reise auf­grund von § 18 Abs. 4 AsylG
Vorsatz im Hin­blick auf § 95 Abs. 1 Nr. 3 Auf­enthG ist bei der Vielzahl ein­rei­sender Flücht­linge sicherlich gegeben
Her­vor­rufen des Ent­schlusses der Flücht­linge, ohne Erfüllung der Vor­aus­set­zungen des § 14 Auf­enthG (d.h. Pass und Auf­ent­halts­titel) nach Deutschland zu kommen, oder För­derung eines solchen Vor­habens: bei Frau Dr. Merkel mit erheb­licher Wahr­schein­lichkeit eben­falls gegeben, zumal mit dem Vor­han­densein von Visa bei so gut wie keinem zu rechnen war.
Weitere Hin­weise auf Über­le­gungen der Staatsanwaltschaft
Die Staats­an­walt­schaft scheint bei ihren Über­le­gungen im Sep­tember 2015 stehen geblieben zu sein. Dieses erkennt man hieran:
„(…) ist hieraus kein von einem ent­spre­chenden Vorsatz umfasstes kon­kretes Ver­an­lassen oder Fördern von ille­galen Ein­reisen in das Bun­des­gebiet oder wei­teren Straf­taten ersichtlich, zumal die betref­fenden Per­sonen zum frag­lichen Zeit­punkt mit hoher Wahr­schein­lichkeit bereits fest zur – gege­be­nen­falls ille­galen – Ein­reise nach Deutschland ent­schlossen gewesen sein dürften. Dass weitere sich auf der Flucht befin­dende Men­schen auf­grund der Bericht­erstattung über die erfolgte Ein­rei­se­ge­stattung mög­li­cher­weise hoffen, in ihrem kon­kreten Fall könnte eben­falls so ver­fahren werden, ändert an diesem Umstand nicht.“ (Her­vor­he­bungen durch mich)
Diese Beschreibung passt viel­leicht auf einige der Flücht­linge, aber nicht auf die Mehrheit oder gar alle. Kurz nach dem 5.9.2015 kamen auch Ein­rei­sende, die sicherlich nicht bereits am 4.9.2015 „fest ent­schlossen“ gewesen sind. Man fragt sich: Hat die Staats­an­walt­schaft mit­be­kommen, wie u.a. Frau Merkel in öffent­lichen Reden (die gewiss auch in ihre Ziel­länder aus­schnitts­weise über­spielt wurden) jede Begrenzung der Anzahl der Flücht­linge ent­schieden aus­ge­schlossen hat und die deut­schen Grenzen für nicht-schützbar erklärte?
Die Schluss­be­merkung der Staats­an­walt­schaft lautet:
„Da unter keinen recht­lichen Gesichts­punkten Anhalts­punkte für ein straf­bares Ver­halten der Bun­des­kanz­lerin und wei­teren Mit­gliedern der Bun­des­re­gierung ersichtlich sind, war das Ver­fahren gemäß § 170 Absatz 2 der Straf­pro­zess­ordnung einzustellen.“
Das sind große Worte – unter „keinen“ Gesichts­punkten gibt es auch nur Anhalts­punkte für ein straf­bares Ver­halten. Das sind zu große Wort.
Das Gefühl bleibt, dass ein Ergebnis ohne über­trieben große Beachtung der Rechtslage erreicht wurde. Der Ver­fasser wünscht sich bei seiner nächsten Straftat auch solch einen „ana­logen“ Staatsanwalt.
Hei­delberg, den 7. April 2018
 

Von Rechts­anwalt Dr. Andreas Kollmann, Hei­delberg - Ver­öf­fent­licht auf dem Blog von Vera Lengsfeld