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Ver­schwinden die Bio­deut­schen aus den Städten?

„In Frankfurt am Main haben 70 Prozent aller Kinder einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund, Tendenz steigend. In vielen Stadt­teilen in Berlin und Nord­rhein-West­falen ist es ähnlich. Das hat natürlich Aus­wir­kungen, nicht nur auf die Schulen.“
(Von Hamed Abdel-Samad)
Der Mensch ist nicht sta­tisch. Er bewegt sich und ver­ändert sich ständig, passt sich an neue Gege­ben­heiten an. Die klas­sische Wis­sen­schaft arbeitet mit fixen Kate­gorien und Methoden, wie sie in den Natur­wis­sen­schaften ganz selbst­ver­ständlich sind. Emp­fin­dungen und Geis­tes­hal­tungen kann man aber nicht so leicht erfassen und kate­go­ri­sieren. Es sind immer nur Moment­auf­nahmen, Schnapp­schüsse, nicht das eine all­um­fas­sende Bild. Vor allem dann nicht, wenn es um hoch­emo­tionale Themen geht, bei denen es eine klare Asym­metrie zwi­schen dem Fra­genden und dem Befragten gibt. Führt man sich die gegen­seitige Skepsis und Pola­ri­sierung vor Augen, die den Diskurs um Migration, Inte­gration und Islam momentan prägen, so kann fast jede Frage als eine Pro­vo­kation oder eine Unter­stellung ver­standen werden. Es ist kein Wunder, dass viele Migranten, die zu Stu­di­en­zwecken befragt werden, mit Ablehnung reagieren oder tele­fo­nische bzw. schrift­liche Fragen tak­tisch beant­worten. Hinzu kommt, dass man mit der Art und der Rei­hen­folge der Fra­ge­stellung Ein­fluss auf das Ergebnis nehmen kann: Wenn ich will, dass der Befragte etwas Posi­tives über den Dschihad sagt, stelle ich die ersten Fragen zu den Kreuz­zügen, dem Kolo­nia­lismus oder der dra­ma­ti­schen Lage der Muslime in Palästina, Syrien oder Burma. Im Anschluss daran muss ich die Dschihad-Frage zum Bei­spiel so for­mu­lieren: „Würden Sie in den Dschihad ziehen, um den unter­drückten Mus­limen weltweit zu helfen?“ Dann ist mir eine hohe Zustim­mungs­quote garan­tiert. Will ich eine niedrige Zustim­mungs­quote erreichen, dann muss ich zunächst Fragen stellen zu den Gräu­el­taten und den unschul­digen Opfern des IS-Terrors.
Nach dem gleichen Prinzip kann man mit Fragen über west­liche Werte ver­fahren. Wenn ich jemanden frage, ob er/sie sich dis­kri­mi­niert fühlt oder ob er/sie das Gefühl hat, dass die Deut­schen die isla­mi­schen Werte nicht akzep­tieren, ist es sehr wahr­scheinlich, dass eine Mehrheit dem zustimmen würde. Wenn ich ihn/sie aber unver­blümt frage, ob er/sie die deut­schen Werte akzep­tiert, ist der Befragte fast genötigt, diese Frage zu bejahen. Denn wie kann man sich über etwas beschweren – dass die Deut­schen seine Werte nicht akzep­tieren –, wenn man umge­kehrt die Werte der Deut­schen nicht akzeptiert?
Prä­zisere Fragen bringen ganz andere Antworten
Ein etwas anderes Bild wird man erhalten, wenn man die Frage nach den Werten prä­zi­siert und bei­spiels­weise nach dem Umgang der Deut­schen mit Alkohol, Sexua­lität und Homo­se­xua­lität fragt. Die Zustim­mungsrate wird fallen. Gleiches wird man fest­stellen, wenn man wissen will, ob der Befragte die per­sön­liche Freiheit und die Mei­nungs­freiheit als ein hohes Gut erachtet oder nicht. Die meisten Muslime dürften diese Frage mit „Ja“ beant­worten. Fragt man aber, ob die eigene Tochter einen Freund oder Sex vor der Ehe haben darf (per­sön­liche Freiheit) oder ob man den Pro­pheten Mohamed kri­ti­sieren oder zum Gegen­stand von Satire machen darf (Mei­nungs­freiheit), werden die Zustim­mungs­raten in den Keller rauschen.
Sie sehen schon, es ist nicht so einfach, wenn es darum geht, mit Hilfe von empi­ri­schen Studien das Gelingen oder Scheitern von Inte­gration zu messen. Um ein umfas­sendes Bild zu erhalten, ist es aus meiner Sicht not­wendig, andere Para­meter mit ein­zu­be­ziehen. Welche das sein sollen, auf diese Frage hat die Sozi­al­wis­sen­schaft klare Ant­worten. In Berlin bin ich mit Naika Foroutan ver­ab­redet, der stell­ver­tre­tenden Direk­torin des Ber­liner Instituts für empi­rische Inte­gra­tions- und Migra­ti­ons­for­schung (BIM). Sie erklärt mir, dass Inte­gration in den Sozi­al­wis­sen­schaften übli­cher­weise auf vier Ebenen gemessen wird:
1. Auf der struk­tu­rellen Ebene, die aus Bildungs‑, Arbeits­markt­daten und wei­teren struk­tu­rellen Daten etwa zur Gesundheit besteht.
2. Auf der kul­tu­rellen Ebene, die soge­nannte Signi­fi­kanten umfasst wie Fragen zum Kopftuch, zur Teil­nahme am Sport- und Schwimm­un­ter­richt oder zur Sprachkompetenz.
3. Auf der sozialen Ebene, wo sich Inte­gration zum Bei­spiel durch die Anzahl von Freund­schaften, Ver­eins­mit­glied­schaften und wei­teren Außen­kon­takten wie das Ver­hältnis zu Nachbarn bemessen lässt.
4. Und schließlich auf der iden­ti­fi­ka­tiven Ebene, mit der die emo­tionale Ver­bun­denheit mit bzw. die Zuge­hö­rig­keits­ge­fühle zu einem Land bewertet werden.
Überall nur Fort­schritte und Erfolge?
Seit dem Jahr 2006 werden diese Inte­gra­ti­ons­daten explizit für Muslime zusam­men­ge­tragen. Foroutan ist der Meinung, dass mit Aus­nahme der emo­tio­nalen Ver­bun­denheit auf allen Feldern empi­risch Fort­schritte und Erfolge nach­ge­wiesen worden seien. Aller­dings halte sich die Über­zeugung, dass die Inte­gration von Migranten, vor allem von Mus­limen, sta­gnieren oder gar zurück­gehen würde, hart­näckig. Für Foroutan ist das ein Beleg dafür, „dass es bei der Inte­gra­ti­ons­de­batte nicht allein um Inte­gration geht. Sondern auch um gängige Nar­rative, die sich aus der eta­blierten Vor­stellung speisen, Muslime gehörten nicht zu Deutschland. Als sichtbare Min­derheit gehören sie somit trotz Staats­bür­ger­schaft – mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime besitzt die deutsche Staats­bür­ger­schaft – nicht zum natio­nalen Nar­rativ, sondern werden als reli­giöse Min­derheit außerhalb des Kol­lektivs platziert.“
Diese Sicht­weise sieht sie durch die Erhebung ihrer Studie „Deutschland post­mi­gran­tisch“ bestätigt. Trotz einer gene­rellen Moder­ni­sierung in der Wahr­nehmung werde Deutschsein von­seiten der Mehr­heits­ge­sell­schaft nach wie vor als etwas Exklu­sives gesehen: So denken 37 Prozent der Deut­schen nach wie vor, dass deutsche Vor­fahren wichtig seien, um als deutsch zu gelten. Das bedeutet, dass Men­schen, die in Deutschland geboren wurden, die deutsche Staats­an­ge­hö­rigkeit besitzen, Deutsch sprechen und sich deutsch fühlen, trotzdem nicht als deutsch ange­sehen werden, wenn ihre Eltern oder Groß­eltern als Migranten nach Deutschland kamen.
Lange unter­halte ich mich mit Foroutan über die Vor­aus­set­zungen einer gelun­genen Inte­gration und darüber, was zuerst kommen sollte: die Annahme der Kultur und der Werte des „Gast­landes“ oder die struk­tu­relle Inte­gration im Bil­dungs- und Arbeits­sektor. Die Assi­mi­la­ti­ons­theo­re­tiker würden von einem libe­ralen Denken aus­gehen, das die Eigen­ver­ant­wortung betont. „Erst musst du dich kul­turell und sozial inte­grieren, dann hast du Zugang zu den Struk­turen.“ Das heißt, erst musst du die Sprache beherr­schen, die Kultur und Werte der Auf­nah­me­ge­sell­schaft annehmen, dann hast du auch bessere Chancen in der Bildung und auf dem Arbeits­markt. Das ist theo­re­tisch nach­voll­ziehbar. Aber für Foroutan reicht das nicht. „Du kannst dich mit dem Land so stark iden­ti­fi­zieren, wie du willst, aber wenn du keine Arbeit hast, bist du nicht gut inte­griert,“ meint sie.
Denn nicht alle sind Selbst­mo­ti­va­toren, die alleine den Weg in die Struk­turen finden. Nicht alle sind neu­gierig und gehen auf andere zu. „Aber wenn sie dann Arbeit finden, bekommen sie die Mög­lichkeit, mit anderen zu inter­agieren und zu kom­mu­ni­zieren. Sie lernen dadurch neue Freunde kennen, was ihnen wie­derum das Erlernen der Sprache erleichtert. Mit anderen Worten: Über die Struktur kommst du zur Kultur.“
Kon­zen­tration auf das Positive
Für die Migra­ti­ons­for­scherin spielt es letztlich keine Rolle, auf welchem Weg man das Ziel erreicht. Haupt­sache, man geht los. An der Debatte stört sie, dass sie sich zu sehr auf die nega­tiven Bei­spiele kon­zen­triert: „Berlin-Neu­kölln und Duisburg-Marxloh sind nicht pro­to­ty­pisch für Deutschland. Rheinland-Pfalz ist pro­to­ty­pisch. Und in Frankfurt, Nürnberg und Augsburg leben pro­zentual gesehen mehr Migranten als in Berlin. Gleiches gilt für München und Stuttgart, doch dort wird anders über das Thema Inte­gration gesprochen, weil schlicht ein grö­ßeres Angebot an Arbeits­plätzen vor­handen ist.“
Es stimmt natürlich, dass da, wo es bessere Auf­stiegs­chancen und mehr Arbeits­plätze gibt, die Aus­sicht auf Inte­gration besser ist. Dennoch sind Stuttgart, München, Nürnberg und Augsburg ebenso wenig wie Rheinland-Pfalz sor­genfrei, wenn es um die Inte­gration von Mus­limen geht. Ein Arbeits­platz löst ein Problem, aber, wie wir noch sehen werden, gibt es eine Vielzahl, die zu bewäl­tigen ist.
Foroutan will sich mehr auf das Positive kon­zen­trieren. Nicht nur bei den Migranten, sondern auch bei den Deut­schen. „Das Land und seine Bewohner ent­wi­ckeln sich. Und Krisen mobi­li­sieren Kräfte, die man vorher nicht auf dem Schirm hatte. Anfang Sep­tember 2015 domi­nierten die Bilder vom Münchner Haupt­bahnhof die Medien. Geflüchtete Men­schen wurden unter Applaus begrüßt, es zeigte sich eine über­wäl­ti­gende Will­kom­mens­be­reit­schaft. Aus Ungarn ange­reist, wurden die Flücht­linge mit Lebens­mitteln, Wasser und Baby­windeln von Münchner Bür­ge­rinnen und Bürgern emp­fangen – es gab emo­tional über­wäl­ti­gende Aktionen von hel­fenden Men­schen, die viele in ihrem Deutsch­landbild über­raschte. Und wer hätte gedacht, dass kon­ser­vative Rentner neben Antifa-Leuten stehen würden und gemeinsam arbeiteten?“
Die Migra­ti­ons­for­scherin ver­breitet einen anste­ckenden Opti­mismus, wenn es um die Zukunft von Inte­gration geht. Sie glaubt, dass die posi­tiven Struk­tur­daten sich auch wei­terhin positiv ent­wi­ckeln werden. Auch das Bewusstsein in der Gesell­schaft, dass dis­kri­mi­nie­rende Struk­turen im End­effekt der Gesamt­ge­sell­schaft schaden, wird ihrer Meinung nach zunehmen. „Früher hat man von Schülern mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund auto­ma­tisch weniger erwartet in der Annahme, die Eltern seien nicht bil­dungs­ori­en­tiert, und ohne deren Unter­stützung könnten die Kinder das sowieso nicht schaffen. Dahinter steckt nicht unbe­dingt Dis­kri­mi­nierung, sondern eine Fehl­ein­schätzung, mit der auch Kinder ohne Migra­ti­ons­hin­ter­grund, aber aus sozial schwachen Schichten, zu kämpfen haben. Das sind sys­te­ma­tische Ver­zer­rungs­ef­fekte, die nicht ohne Folgen bleiben. Diese Kinder erreichen tat­sächlich schlechtere Ergeb­nisse, weil sie nicht recht­zeitig gefördert wurden.“
Das, was für viele ein Hor­ror­sze­nario ist, ist für Foroutan eine Chance. „In Frankfurt am Main haben 70 Prozent aller Kinder einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund, Tendenz steigend. In vielen Stadt­teilen in Berlin und Nord­rhein-West­falen ist es ähnlich. Das hat natürlich Aus­wir­kungen, nicht nur auf die Schulen.“
Jeder, der nicht gerade im Bereich Inte­gration forscht, wird sich ange­sichts solcher Zahlen fragen, wer sich denn dann noch wohin inte­grieren soll. Oder ob die „Bio­deut­schen“ aus diesen Städten ver­schwinden werden und Migranten das Geschehen und die Kultur dort bestimmen werden. Man muss ja nicht gleich von der dro­henden „Umvolkung“ sprechen, wie es manche Rechts­aus­leger tun, doch ich kann mir vor­stellen, dass diese Zahlen Angst machen können.
Auszug aus dem Buch Inte­gration. Ein Pro­tokoll des Schei­terns von Hamed Abdel-Samad.
Den ersten Teil dieses Zwei­teilers finden Sie hier


Hamed Abdel-Samad für TheEuropean.de