Die spa­nische Ver­fassung ist keine mora­lische Legi­ti­mation für Gewalt gegen Katalanen

Das erste Gesetz eines Staates, gemeinhin als Ver­fassung bezeichnet, wird in letzter Zeit oft zitiert, wenn die Mäch­tigen Gewalt gegen Ein­zelne recht­fer­tigen. Spa­niens Zen­tral­re­gierung recht­fertigt damit sogar die Inhaf­tierung gewählter kata­la­ni­scher Volks­ver­treter, weil sie einen Beschluss des Par­la­ments umge­setzt haben.
(Von Dr. Stephan Ring)
Juris­tisch ist eine Ver­fassung die einzige Legi­ti­mation der Gewalt­an­wendung des Staates gegen seine Bürger. Ohne eine solche recht­liche Grundlage ist der einzige denkbare „mora­lische“ Grund das auch bei vielen Tier­arten sichtbare Recht des Stär­keren. Wer die Macht hat, übt sie aus, basta! Eine Vor­stellung, die viele heute absurd finden. Jeden­falls wird sie im All­ge­meinen im mensch­lichen Mit­ein­ander als unmo­ra­lisch betrachtet.
Eine Ver­fassung ist die Über­ein­kunft zwi­schen den Bürgern eines Staates, wie sie ihr Zusam­men­leben regeln wollen – wem sie für welche Zeit mit welchen Mecha­nismen welche Macht über­tragen. Diese frei­willige Über­ein­kunft ist die mora­lische Recht­fer­tigung für die Anwendung oder Androhung von staat­licher Gewalt gegen Einzelne.
Als Über­ein­kunft braucht sie die Zustimmung der betrof­fenen Bürger. An dieser Stelle wird es jedoch schon pro­ble­ma­tisch. Es gibt keine Ver­fassung, der 100 Prozent der von ihr Betrof­fenen zuge­stimmt haben. Beim Erlangen dieser Zustimmung durch Volks­ab­stimmung, wie sie den meisten Ver­fas­sungen zugrunde liegt, ist daher schon das Mehr­heits­prinzip frag­würdig. Warum soll jemand der Ver­fassung unter­worfen werden, obwohl er dem Vertrag nicht zuge­stimmt hat? Es gibt kein Natur­gesetz der Mehrheit. Wenn über­haupt, dann gibt es ein Natur­gesetz der puren Stärke. Insofern könnte man argu­men­tieren, die Mehrheit reprä­sen­tiert diese natur­recht­liche Stärke.
Für die­je­nigen, die ihrer Ver­fassung nicht zuge­stimmt haben, bleibt die Gewalt­an­wendung des Staates damit aber immer Dik­tatur, eben die Dik­tatur der Mehrheit.
Wie aber sieht es im Zeit­ablauf aus? Wenn alle die­je­nigen, die einmal der Ver­fassung zuge­stimmt haben, ver­storben sind, worauf gründet sich die mora­lische Bindung dann? Auf das Recht der Eltern, die Existenz der zum Zeit­punkt der Abstimmung noch unge­bo­renen Kinder und Enkel auch über den Tod hinaus zu bestimmen? Wohl kaum. Vielmehr muss man fest­stellen, dass die ohnehin schon schwache mora­lische Legi­ti­mation der Mehr­heits­gewalt im Zeitlauf immer weiter schwindet und sich schließlich zur Gänze auflöst.
Der Einwand, jede Ver­fassung könne ja geändert werden, ist nur dann stimmig, wenn diese Änderung durch jeder­zeitige Volks­ab­stimmung mit wie­derum ein­facher Mehrheit möglich ist. Dies ist aber in Spanien gerade nicht der Fall. Dort hat das Volk allen­falls ein Veto­recht. Aber Aus­gangs­punkt jeder Ver­fas­sungs­än­derung ist zunächst der Staat, dessen Ver­treter nur mit qua­li­fi­zierter Mehrheit eine Änderung her­bei­führen können. Für die Not­wen­digkeit einer solchen qua­li­fi­zierten Mehrheit fehlt es zudem an jeder mora­li­schen Legitimation.
Warum also sollen die jungen Kata­lanen an eine spa­nische Ver­fassung gebunden sein, selbst wenn damals ihre Eltern dieser Ver­fassung zuge­stimmt haben sollten? Die Ver­fassung selbst ist jeden­falls kein Grund, allen­falls eine (vor­ge­schobene) Begründung für die Anwendung staat­licher Gewalt. Welchen Wert hat darüber hinaus schon eine Zustimmung der Eltern, die nur die Wahl hatten, die Dik­tatur fort­zu­setzen oder einer, sicher bes­seren, aber vom Dik­tator maß­geblich mit­ge­stal­teten Ver­fassung zuzustimmen.
Aber Anarchie kann, oder besser darf, nicht die Lösung sein, wird man hier ein­wenden. Wie kann also eine Lösung aus­sehen? Wenn man zumindest das Mehr­heits­prinzip in seinem Grundsatz aner­kennen möchte, exis­tieren diese Lösungen bereits. England hat, von der sehr kurzen Magna Charta abge­sehen, die dem Bürger im Übrigen nur Rechte gewährt, keine Ver­fassung. Jedes Par­lament kann mit ein­facher Mehrheit nahezu alles regeln. Jede Gene­ration ist unge­bunden und damit frei, ihr Leben so zu gestalten, wie sie das möchte. Es ist ja auch bezeichnend, dass die ver­fas­sungs­losen Eng­länder den Schotten die Abstimmung über den Ver­bleib erst kürzlich ermög­licht haben, wogegen sich die Spanier auf eine 40 Jahre alte Ver­fassung berufen, um genau dies zu verhindern.
Und da sind die Schweizer, die als Bürger direkt und jederzeit über jedes Thema eine Ver­fas­sungs­än­derung her­bei­führen können. Beide Extreme, keine Ver­fassung und jeder­zeitige Anpassung durch bür­gerlich initi­ierte Mehr­heits­ent­scheidung, lösen das Problem. In beiden Ländern ist zu jeder Zeit die staat­liche Gewalt­an­wendung zumindest durch das Mehr­heits­prinzip mora­lisch legi­ti­miert. In Spanien und übrigens auch in Deutschland ist sie dies leider nicht.

Vier Videos aus Kata­lonien: Wie man die “Demo­kratie” mit Stie­fel­tritten und Schlag­stöcken verteidigt


Dr. Stephan Ring ist Jurist und Vor­stand des Ludwig von Mises Institut Deutschland.
Erst­ver­öf­fent­lichtung beim Ludwig von Mises Institut Deutschland