Target2-Saldo: Bil­lionen Bombe oder „popu­lärer Irrtum“?

Ich sehe die Target2-For­de­rungen bekanntlich kri­tisch. Herr Stöcker – und nicht nur er – ver­weist gerne darauf, dass diese Sorge unbe­rechtigt ist. Es sei eben nur eine Zah­lungs­ver­kehrs­größe auf dem Papier, die keine Rolle spiele.
Die F.A.Z. ist sich auch nicht so recht einig, wie man die Target2-For­de­rungen betrachten soll. So gab es letzten Samstag einen sehr alar­mis­ti­schen Artikel, der die kri­tische Sicht teilt. Einige Tage zuvor das Gegenteil, ein Beitrag, der die Target2-Salden als nur theo­re­tische Größe sieht.
Zunächst die Sicht, die auch ich bisher immer geteilt habe:

  • „Wenn die Ent­wicklung sich fort­setzt, ist es nur noch eine Frage weniger Wochen, bis das Gut­haben der Deut­schen Bun­desbank im Euro-Zah­lungs­system Target die schwer vor­stellbare Marke von 1 Billion Euro über­schreiten wird. Dann dürften die Fragen an die Bun­des­re­gierung noch ein­dring­licher werden, warum Deutschland anderen Euro­ländern in diesem Zah­lungs­system gleichsam unbe­grenzt und unver­zinst Kredit gewährt – und das ohne echte Sicher­heiten.“
    Stelter: so auch von mir immer beschrieben, 12.000 Euro pro Kopf der hier lebenden Bevölkerung.
  • Und natürlich gibt es Hin­weise für eine Kapi­tal­flucht: „Nach den jetzt von der Deut­schen Bun­desbank ver­öf­fent­lichten Zahlen ist der deutsche Target-Saldo der Bun­desbank auf den Rekordwert von 976,3 Mil­li­arden Euro gestiegen. Ende Mai waren es erst 956,1 Mil­li­arden Euro gewesen. In Italien steigt dagegen das Nega­tiv­saldo: Mit 480,9 Mil­li­arden Euro lag es im Juni um knapp 16,3 Mil­li­arden höher als im Vor­monat, zeigen Daten der ita­lie­ni­schen Notenbank.“
    Stelter: was auch ver­nünftig ist aus Sicht der Italiener.
  • „Was als tech­ni­sches System zur Abwicklung von Zah­lungen zwi­schen Finanz­in­sti­tuten aus unter­schied­lichen Ländern im Euroraum daherkam, erlaubt offen­sichtlich Ita­lienern, Spa­niern, Griechen den Kauf von Immo­bilien, Unter­nehmen, Anleihen in Deutschland, ohne dass sie ihrer­seits vorher Waren oder Dienst­leis­tungen im ent­spre­chenden Gegenwert jen­seits der eigenen Grenzen ver­kauft haben – oder dazu einen Kredit bei einer Geschäftsbank auf­nehmen mussten. Es gibt statt­dessen rech­ne­risch eine Zwangs­fi­nan­zierung zu Null­zinsen über das Noten­bank­system.“
    Stelter: Aus Sicht der Wäh­rungs­union ist es ja auch innerhalb der Grenzen, also genauso gewollt, könnte man sagen. Die Frage ist ja nur, ist es ein­fache Geld­schöpfung und keiner haftet dafür oder ist es wirklich eine For­derung, bei der der Gläu­biger zuvor auf etwas ver­zichtet hat?
  • „Mit einem Ver­lassen der Wäh­rungs­union würden die For­de­rungen fällig gestellt. Dies würde die Reserven der Notenbank in Rom bei weitem über­steigen. Der neue Euro­pa­mi­nister Paolo Savona hatte davon gesprochen, dass Italien im Fall eines Euro-Aus­tritts seine Target-Schulden nicht begleichen werde. Tat­sächlich wären sie im Falle des Falles kaum ein­zu­treiben. (…)  Wann genau ein direkter finan­zi­eller Schaden für Deutschland ent­steht und in welcher Höhe, ist unter Fach­leuten umstritten.“
    Stelter: Das ist das Span­nende an dem Thema, man streitet über die Frage, ob es über­haupt ein Ver­mö­genswert ist.
  • „Denkbar wäre es, For­de­rungen mit Sicher­heiten zu unter­legen oder zu ver­zinsen. Doch die Gold­be­stände und übrigen Reserven der ita­lie­ni­schen Notenbank reichen bei weitem nicht mehr aus, um die deut­schen For­de­rungen abzu­si­chern. Auch ist die Kluft mitt­ler­weile so groß, dass ein Aus­gleich der For­de­rungen jeweils zum Jah­resende unrea­lis­tisch ist. Und bei nega­tiven Zinsen im Noten­bank­system ist auch eine Bepreisung der For­de­rungen nicht ganz einfach.“
    Stelter: was nur zeigt, dass es eben unge­steuert pas­siert, was wie­derum nicht unbe­dingt eine gute Nach­richt ist.
  • „Kann die Politik in das euro­päische System der Zen­tral­banken ein­greifen, nachdem sie es geschaffen und mit dem Siegel der Unab­hän­gigkeit ver­sehen hat? Schon das Auf­werfen der Frage, ob der Vertrag in diesem Punkt geändert werden kann, könnte Ver­wer­fungen an den Märkten aus­lösen.“
    Stelter: wie auch Ideen zur Besi­cherung oder Ver­zinsung. Wir bleiben in dem System gefangen, weil jeder Versuch es zu ändern, zum Ein­sturz führt.

Doch es gibt auch die andere Sicht. Die Target2-For­de­rungen als ein rein tech­ni­sches Problem, das zudem durch ein­fache Buch­hal­tungs­tricks der EZB zu beein­flussen ist. Die F.A.Z. zitiert eine Studie von Oxford Economics:

  • „Mit der expan­siven Geld­po­litik nach der Finanz­krise und der damit ver­bun­denen Schaffung neuen Geldes ent­standen in den Jahren 2018 bis 2012 hohe Salden – erheb­lichen For­de­rungen (…)  standen hohe Defizite vor allem der Banca d’Italia und der Banca D’España ent­gegen. All­gemein aus­ge­drückt, ent­stehen solche Salden, wenn die Schaffung und die Ver­wendung von bei der Zen­tralbank gehal­tenem Geld regional aus­ein­an­der­fallen.“
    Stelter: so weit bekannt.
  • „Im Nach­hinein zeigen empi­rische Arbeiten, dass (…) erheb­liche Kapi­tal­flucht aus Süd­europa in den Norden der Wäh­rungs­union die Salden im Target-2-System getrieben hatte.“
    Stelter: Auch das stimmt.

Quelle: F.A.Z.

  • „Seit Anfang 2015 steigen die Salden wieder (…)  Es kur­sieren Gerüchte über Kapi­tal­flucht aus Italien seit der Instal­lierung der neuen Regierung. Aber die Sta­tis­tiken der Banca d’Italia über Bank­ein­lagen von Unter­nehmen und Pri­vat­per­sonen können derzeit keine Hin­weise auf eine even­tuelle aktuelle Kapi­tal­flucht liefern, da die neu­esten Daten aus dem April stammen.“
    Stelter: Rational wäre es für Ita­liener schon, aller­dings kann man auch gleich ganz aus dem Euro flüchten.
  • „Mit jeder Mil­liarde Euro Anlei­he­käufe im Rahmen des EZB-Pro­gramms steigen die Salden im Target-2-System um rund 300 Mil­lionen Euro, von denen rund 200 Mil­lionen Euro auf die Bun­desbank ent­fallen. Dies erklärt sich aus der tra­di­tionell füh­renden Rolle Frank­furts als kon­ti­nen­tal­eu­ro­päi­schem Finanz­platz für Finanz­ge­schäfte aus anderen Teilen der Welt.“
    Stelter: soweit also kon­sistent mit dem, was ich auch geschrieben habe.
  • „Konkret heißt dies, dass die Bun­desbank die Anleihen ankauft und im Zuge dieses Ankaufs neues Geld schafft. Ita­lie­nische Anleihen gibt die Bun­desbank dann an die Banca d’Italia weiter. Ver­rechnet wird dies durch eine For­derung der Bun­desbank und eine Ver­bind­lichkeit der Banca d’Italia gegenüber der EZB – und diese Ver­rechnung sorgt für einen Anstieg der Target-2-Salden.“
    Stelter: Die Bun­desbank kauft also und schafft damit Geld. Am 4. Juli brachte die F.A.Z. eine kleine Notiz mit der Kor­rektur: Nein, die Bun­desbank würde keine ita­lie­ni­schen Anleihen kaufen. Statt­dessen fließt ihr das Geld aus den Ver­käufen nur zu. Also so, wie hier immer auch geschrieben und gedacht.
  • Nach einem popu­lären Irrtum müssten die For­de­rungen der Bun­desbank nach einem Euro­aus­tritt Ita­liens um mehrere hundert Mil­li­arden Euro wert­be­richtigt werden. Dies ist unzu­treffend; die Bun­desbank hat aus Target‑2 keine direkte For­derung gegen Italien. Es gilt das Prinzip: Target-2-For­de­rungen bestehen gegenüber der EZB und sind für die Höhe der poten­ti­ellen Risiken aus Target-2-Ver­bind­lich­keiten anderer Länder uner­heblich. Da die Bun­desbank die For­de­rungen gegen die EZB hält, setzte eine Wert­be­rich­tigung den Untergang der EZB voraus.“
    Stelter: also einen Zerfall des Euro.
  • „Die EZB hält aus einem alten Kauf­pro­gramm ita­lie­nische Anleihen über 50 Mil­li­arden Euro, und sie besitzt eine For­derung aus Target‑2 über zuletzt 465 Mil­li­arden Euro gegenüber der Banca d’Italia. Nach einer inter­es­santen Studie des Ana­ly­se­hauses Oxford Eco­nomics hätte die EZB selbst im Falle eines Aus­tritts Ita­liens aus dem Euro keine Not­wen­digkeit, eine Wert­be­rich­tigung auf ihre For­derung gegenüber der Banca d’Italia vor­zu­nehmen, denn diese For­derung ist zeitlich unbe­fristet – es exis­tiert keine Til­gungs­pflicht – und sie ist unver­zinst. Eine Target-2-Ver­bind­lichkeit ähnelt einer Null­ku­pon­an­leihe mit ewiger Laufzeit.“
    Stelter: Oder man sagt es anders: Es ist eine wertlose For­derung, so oder so. Dann stellt sich für mich die Frage, bei der ich nicht so sicher weiß, was ich denken soll: Spielt dann die For­de­rungen über­haupt keine Rolle, weil es alles nur „funny money“ ist oder hätten wir eine andere Art von Aus­lands­ver­mögen, wenn die Bun­desbank nicht kaufen würde. Würden wir dann auto­ma­tisch – siehe Han­dels­über­schüsse – andere Ver­mö­gens­werte aufbauen?
  • „Nach einer kräf­tigen Abwertung einer neuen Lira dürfte Italien als Standort dann so attraktiv sein, dass Kapital aus dem Norden der Eurozone ins Land fließt. Auf diese Weise würde sich der Target-2-Saldo redu­zieren, kal­ku­liert Oxford Economics.“
    Stelter: Und da habe ich nun wirklich ein Ver­ständ­nis­problem. Es würden doch längst nicht so viele Euro in das Land fließen, haben wir es doch mit einer schwachen Lira zu tun. Dass Italien dann super­at­traktiv wäre, glaube ich hingegen.

Fazit: Ist es also ein Irrtum, dass wir einen Kredit geben und diesen ver­lieren können? Mag sein. Über­zeugt bin ich nicht, beschreibt Oxford Eco­nomics doch eher, wie man mit der buch­hal­te­ri­schen Behandlung der Position eine Abschreibung ver­hindert (ewige Anleihe, zinslos), was zu der Grie­chenland-Rettung passt, als wirklich zu belegen, dass es ein Non-Issue ist.
Die Ver­luste aus dem Euro werden erheblich sein. So oder so.
→ faz.net: „Deutschland sitzt auf einer Bombe“, 7. Juli 2018
→ faz.net (Anmeldung erfor­derlich): „Das Anlei­he­kauf­pro­gramm der EZB treibt den Target-2-Saldo“, 2. Juli 2018


Dr. Daniel Stelter — www.think-beyondtheobvious.com