Zum Jahresanfang ein Überblick über die Themen, die uns beschäftigen werden. Unter anderem natürlich der Kampf um die Transferunion. Wir haben sie ja faktisch schon durch die Politik der EZB, die sich fortsetzen dürfte. Dennoch genügt es den anderen Ländern in der Eurozone nicht. Sie wollen an die Verschuldungspotenziale der (vermeintlich!) solideren Länder wie Deutschland.
Was damit finanziert werden soll, ist spätestens bei einem vertieften Blick auf Frankreich klar. Es geht nicht um die „Rettung“ des Euros. Wie hier erinnert, rechnen die Experten des IWF vor, dass eine Transferunion gar nicht so groß sein kann, wie sie sein müsste, um das Ziel zu erreichen. Wozu also braucht Frankreich unser Geld? Hierfür:
- „Vorige Woche haben wir anlässlich der linksrheinischen Proteste an dieser Stelle über den politischen Strukturwandel diskutiert, der, angestoßen durch die sozialen Medien, derzeit viele westliche Demokratien durchrüttelt. Aus diversen Leserkommentaren sprach eine generelle Skepsis, ob Frankreich überhaupt einen Kurswechsel brauche. Manchmal klang es, als sei die Motivation von Macrons Reformen reine Profitgier – oder irgendeine schräge Form von Sozial-Sadismus.“
– Stelter: Was wiederum sehr viel über das ökonomische Verständnis der SPON-Leser aussagt. - „Dass nun der eiskalte Neoliberalismus in Frankreich einzieht, ist zumindest eine gewagte Behauptung – um es sehr vorsichtig zu formulieren. Nirgends sonst in der EU ist der öffentliche Sektor so groß. Die Staatsquote liegt bei 56 Prozent, höher als in Schweden. Fast die Hälfte der Staatsausgaben fließt in die Sozialhaushalte, rechnet die OECD vor.“
– Stelter: Da wäre es doch schön, wenn die Deutschen das bezahlen (mit dem Geld, was sie sparen, indem sie für sich selbst nicht sorgen). - „Überhaupt spielt der Staat eine Hauptrolle in der gallischen Wirtschaft. So ist der Anteil der öffentlich Beschäftigten in Frankreich mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Wer arbeitslos wird, kann, je nach vorherigem Einkommen, mit einer staatlichen Unterstützung von bis zu 7134 Euro im Monat rechnen. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Maximalbetrag bei knapp 2500 Euro, so der Internationale Währungsfonds in seinem jüngsten Länderbericht.“
– Stelter: Mir fröstelt bei so viel sozialer Kälte. - „Franzosen gehen im Schnitt um die Sechzig in Rente, so früh wie kaum irgendwo sonst. Der gesetzliche Mindestlohn ist mit rund 60 Prozent des mittleren Verdienstes einer der höchsten weltweit.“
– Stelter: All das will finanziert sein! - Dennoch: „(…) viele Bürger äußerst unzufrieden mit der Lage im Land, wie die Eurobarometer-Umfrage seit Jahren zeigen. (…) Dass ein üppiger Sozialstaat eine Präventivmaßnahme gegen Populismus ist, wie gern behauptet wird, stimmt in Frankreich jedenfalls nicht: In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen voriges Jahr holten Scharfmacher von Rechts und Links, Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon, fast die Hälfte der Stimmen. Möglich, dass gerade der französische Sozialstaat mit seinen permanenten Umverteilungskämpfen für verbreiteten Unmut sorgt.“
– Stelter: Die Protestierer sind ja jene, die das alles bezahlen müssen, wie ich hier diskutiert habe. - „(…) Frankreich (kann) sich einen so großen öffentlichen Sektor schlicht nicht leisten. Der Staat gibt chronisch mehr aus, als er einnimmt. Auf Dauer geht das nicht gut. Inzwischen liegen die Schulden bei knapp 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). (…) Über Jahre lag das Budgetdefizit oberhalb von drei Prozent des BIP. Frankreichs „strukturelle“ – also konjunkturneutrale – Haushaltslücke ist eine der höchsten in den OECD-Ländern.“
– Stelter: Und deshalb Transferunion! - Macrons „(…) Reformen zielen darauf ab, die Schulbildung für benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu verbessern, die Jugendarbeitslosigkeit durch ein Ausbildungsprogramm zu senken, die Tarifverhandlungen der betrieblichen Realität anzunähern und dadurch mehr Jobs zu schaffen.“
– Stelter: Ein Unterfangen, was scheitern muss. Die Parallelgesellschaften sind nicht mit Bildung zu bekämpfen, wenn Bildung nicht angesehen wird. - „Letztlich kommt es für die Beantwortung der Frage, wieviel Sozialstaat sich eine Gesellschaft leisten kann, darauf an, wie viele Leute arbeiten, wie produktiv sie sind und wie hohe Steuern sie zu zahlen bereit sind. Aus dieser Perspektive ist der französische Sozialstaat übergroß: Die Wirtschaft wächst langsam und kreditgetrieben, die Beschäftigungsquote ist verglichen mit Deutschland niedrig.“
– Stelter: Diese Formel gilt auch bei uns. Und auch bei uns gehen die Entwicklungen in die falsche Richtung. - „Frankreich hat, ebenso wie Italien, gegenwärtig kein Nachfrageproblem, wie gern behauptet. Es steckt nicht in einer Rezession, die der Staat mit zusätzlichen Ausgaben bekämpfen müsste. (…) In einer solchen Situation ist es der Job der Regierung, produktive Aktivitäten – Arbeit, Investitionen, Bildung, Ausbildung, Forschung und so weiter – attraktiver zu machen. Das Hässliche an dieser Art von Wirtschaftspolitik: Es dauert, bis sie wirkt. Manchmal vergehen Jahre, bis sich positive Effekte einstellen. Politisch sind solche Strukturreformen deshalb äußerst unattraktiv.“
– Stelter: Und deshalb marschieren wir alle in die falsche Richtung weiter. - „Die repräsentative Demokratie stützt sich auf Institutionen – Parlamente, Regierungen, Behörden –, die dem Gemeinwesen langfristige Stabilität sichern sollen. Sie müssen zwischen den aktuellen Stimmungen in der Bevölkerung und dem auf Dauer für die Gesellschaft Notwendigen austarieren. Sie sind, so gesehen, Dienstleister des Volkes, das sie wählt und irgendwann wieder abwählt und dem gegenüber sie rechenschaftspflichtig sind.“
– Stelter: Da hat Herr Müller aber ein recht veraltetes Bild der Politik. Bei uns ist es doch auch so, dass die Politiker nichts mehr machen was richtig ist, sondern nur, was gefällt. - „Allerdings sollte Regieren nicht auf ‚Meinungen‘ basieren, sondern auf speziellen Kenntnissen. Darüber zu verfügen und es nach einem demokratischen Interessenausgleich in Entscheidungen umzusetzen, ist der Job der Eliten. Wenn sie dem nicht gerecht werden, gehören sie abgewählt.“
– Stelter: Was, wenn die Alternative genauso inkompetent ist?
Dr. Daniel Stelter — www.think-beyondtheobvious.com
→ spiegel.de: „Gelbe Westen, leere Kassen“, 16. Dezember 2018