Zum Thema “Chan­cen­gleichheit” – Freie Men­schen folgen Nei­gungen, nicht Ideologien

Von Roger Letsch - Das servile Interview der „Zeit“-Journalistin Jana Hensel mit der Kanz­lerin sorgte für hef­tiges Sod­brennen bei jenen Publi­zisten, die sich nicht wider­spruchslos in die Reihen der Merkel-Ära-Cla­queure ein­reihen wollen, um der Kanz­lerin den Roten Teppich bis in die Geschichts­bücher aus­zu­rollen. Alex­ander Wendt zum Bei­spiel file­tiert auf Publi­comag die dümm­liche Sprache in den Fragen und For­mu­lie­rungen, in denen er Buch­ti­tel­po­tenzial ent­deckt. Beim Nach­lesen der Hen­se­liade in der „Zeit“ muss man in der Tat die Nar­ren­kappe als Schutzhelm tragen, um unfallfrei durch den Text zu kommen. Sätze wie Ich zog in das Merkel-Gefühl ein wie in eine zweite Haut“ sind nüchtern und in ernst­hafter Stimmung kaum zu ertragen, kopieren aber perfekt den pseu­do­in­tel­lek­tu­ellen Singsang, mit dem fest ver­schraubte DDR-Lite­raten Stalin noch nach dessen Tod pein­liche Wort­denkmale errich­teten. Die „Johannes R. Becher Medaille“ wäre Jana Hensel für ihre Lob­hu­delei jeden­falls sicher! Dem „Neuen Deutschland“ sollte – sofern es von den Gesetzen der Markt­wirt­schaft nicht bald end­gültig hinweg gerafft wird – ein Revival diese Preis­ver­leihung ange­legen sein.
Monika Maron sucht im Cicero nach inhaltlich Belast­barem auf der Antwort-Seite des Hensel-Inter­views und findet es in Merkels eigen­artig simpler Vor­stellung von „Parität“, womit im wei­testen Merkel-Sinne die Gleich­be­rech­tigung von Mann und Frau gemeint sein dürfte. Diese Parität „in allen Bereichen“ zu erlangen, scheine ihr (Merkel) einfach logisch. „Ist Parität erreicht, wenn Frauen Holz hacken und die Männer stricken?“, fragt Maron zurück und ahnt doch selbst am besten, wie nahe sie mit dieser spitzen For­mu­lierung den glit­zernden linken Gedan­ken­blasen abso­luter Parität gekommen ist.

Chan­cen­gleichheit oder Gleichmacherei?

Was vor Jahr­zehnten als berech­tigtes Streben nach Chan­cen­gleichheit vulgo Gleich­be­rech­tigung gestartet war und gute Erfolge hatte, bog schon vor Jahren – über den exakten Zeit­punkt herrscht Unei­nigkeit – ins Meta­phy­sische ab und pro­pa­giert heute absolute Gleichheit aller in allen Aspekten des Lebens. Die Folge sind stumpf­sinnige Quo­ten­re­ge­lungen oder For­de­rungen danach, die sich nun schon bis in poli­tische Mandate erstrecken, Unisex-Toi­letten, wo es früher „ein Klo für alle” tat, Sprach­ver­hunzung durch Ver­leumdung des gene­ri­schen Mas­ku­linums als „Macht­mittel des Patri­ar­chats“ bis hin zu hys­te­ri­schen Flash­backs wie der gerichtlich abge­schafften Bezeich­nungen „Nur für Frauen“ an öffent­lichen Park­lätzen in Eich­stätt, die nun einer eher unver­bind­lichen Emp­fehlung weichen müssen – soviel Gen­der­ge­rech­tigkeit muss wohl heute sein, den eigent­lichen Sinn dieser Park­plätze darf man beden­kenlos opfern – aber an Frauen als Opfer einer poli­ti­schen Agenda scheint man sich in der Politik ja inzwi­schen gewöhnt zu haben. In Ein­zel­fällen ver­steht sich! Nur Steu­er­hin­ter­zieher, Hasser, Hetzer und Ver­ge­wal­tiger sind noch Betä­ti­gungen, die bislang unbe­leckt vom Fort­schritt als Domänen des Patri­ar­chats übrig geblieben sind.
Inter­essant ist jedoch, dass sich die Prot­ago­nisten der abso­luten Gleichheit ihrer Mittel und Ziele so gewiss sind, dass sie sich über deren prak­tische Wirk­samkeit keine Gedanken mehr machen oder von Zeit zu Zeit durch empi­rische Studien über­prüfen, ob die Richtung der Politik tat­sächlich die pro­pa­gierten Erfolge zeitigt. Denn gele­gentlich fallen die Gedan­ken­ge­bäude der abso­luten Gleichheit wie ein Soufflé zusammen, sobald sie der Zugluft der Rea­lität aus­ge­setzt werden. Um eine Nase voll von dieser Zugluft zu schnuppern, ver­lassen wir kurz die Redak­ti­ons­stuben der „Zeit” und begeben uns in ein schwe­di­sches Fernsehstudio.

Das Märchen vom ega­li­tären Skandinavien

Es war einmal eine nörd­liche Welt­gegend, die sich wie keine andere der Her­stellung gleicher Lebens­be­din­gungen für ihre Bürger ver­pflichtet fühlte, wozu ins­be­sondere die absolute Gleich­stellung von Frauen und Männern gehörte. Nir­gends ging es gerechter zu, nir­gends auf der Welt war es selbst­ver­ständ­licher, dass Mädchen und Jungen die­selben Chancen in Bildung, Studium und Beruf haben, nir­gends betei­ligen sich die Väter mehr an der Erziehung ihrer Kinder. Poli­tiker, Päd­agogen und Sozi­al­wis­sen­schaftler gaben sich die größte Mühe, geschlech­ter­spe­zi­fische Ste­reotype abzu­bauen. Als stark galt nicht mehr, wer die Ellen­bogen ausfuhr, skru­pellos Kar­riere machte oder kräftig hin­langen konnte. „Weakness“ ist the new „strong“, oder „Dad can hug, Mom can lead” waren die neuen Erzie­hungs­ideale; und wer sein Töch­terchen mit Puppen spielen ließ, stand schon fast im Ver­dacht, die alten Rollen des unter­drü­cke­ri­schen Patri­ar­chats zu rezipieren.
Skan­di­navien, besonders Nor­wegen und Schweden, gelten bis heute in punkto Gleich­stellung von Mann und Frau als weltweit bei­spielhaft. Doch führt dies dazu, dass „Frauen Holz hacken und die Männer stricken“? Nein! Im Gegenteil! Je libe­raler eine Gesell­schaft ist, also je freier Männer und Frauen in ihren Ent­schei­dungen sind, umso größer sind die Unter­schiede in den getrof­fenen Ent­schei­dungen. Das klingt zunächst wie ein Wider­spruch, doch denkt man genau nach, ist es völlig logisch: Wenn nicht Kultur, Tribal-Struk­turen, Politik oder Religion den Lebensweg eines Men­schen vor­zeichnen, bleiben vor allem per­sön­liche Fähig­keiten, Nei­gungen und die Bio­logie als Antrieb übrig. Das ist aller­dings nicht ganz das, was die Gleich­stel­lungs­ideo­logen im Sinn hatten. Die gehen, um in Marons Bild zu bleiben, davon aus, dass Männer den Frauen das Holz­hacken ver­bieten wollen und selbst zu faul seien, zu stricken – Patri­archat eben. Doch aus­ge­rechnet in Skan­di­navien führt die Kin­der­er­ziehung des „du kannst alles werden“ eben gerade nicht dazu, dass Frauen mehr Holz hacken und Männer stricken, wie die nach­folgend beschriebene Szene belegt.

Men are more inte­rested in things, woman are more inte­rested in people”

Zuge­tragen hat sie sich im Herbst 2018 im norwegisch/schwedischen TV-Talk „Skavlan“, Prot­ago­nisten waren Annie Lööf (Vor­sit­zende der liberal-grünen Cen­ter­partiet und bis 2014 Wirt­schafts­mi­nis­terin Schwedens) sowie der kana­dische Psy­chologe Jordan B. Peterson, der Lööf einige gut belegte empi­rische Lang­zeit­studien zu den Prä­fe­renzen von Männern und Frauen weltweit und der Kor­re­lation zum Grad der Freiheit einer Gesell­schaft erläuterte.
Ich emp­fehle, das Video in Gänze zu schauen, denn nur selten sieht man Poli­tiker, die von einem für sie völlig neuem Fakt so erschlagen werden, wie Lööf, als sie gefragt wurde, ob sich Petersons Aus­sagen mit ihrer Erfahrung decken. Alles in ihr sträubte sich gegen eine Bestä­tigung, weshalb sie, um in die gewohnte ideo­lo­gische Spur zurück­zu­finden, schnell alle Schlüs­sel­worte auf­zählte, die in der skan­di­na­vi­schen Gesell­schaft Gül­tigkeit haben: Gleichheit der Chancen… Träume und Hoff­nungen aller Kinder mög­lichst unter­stützen – ob man das wolle, sei die Frage. Und schnell fügt sie hinzu: „Geschlech­ter­ge­rech­tigkeit ist sehr wichtig für mich“. Für Lööfs Tochter bedeute dies, etwas zuge­spitzt zusam­men­ge­fasst, dass Mama sagt, wo es langgeht und Papa tröstet und Tränen trocknet. Inter­essant finde ich dabei, dass Lööf offenbar denkt, diese beiden Rollen seien doch irgendwie binär angelegt und auch ver­teilt, aber man müsse oder solle sie mög­lichst ver­tau­schen, um Gerech­tigkeit her­zu­stellen. Es gibt natürlich gute Gründe, eine der­artige Rol­len­ver­teilung prin­zi­piell offen zu gestalten, wenn das Ergebnis jedoch ist, dass ein Fuß­baller im Schach antreten soll und der Schach­meister Fußball spielen muss, würde sicher etwas schief laufen.
Die Pointe hob sich Peterson bis zum Schluss auf, und es ist sehr auf­schluss­reich, zu beob­achten, wie Lööf im Nebel sto­cherte, weil sie offen­kundig nicht ver­stand, worin Petersons dia­gnos­ti­zierter „großer Unter­schied zwi­schen Frauen und Männern in Skan­di­navien“ denn nun genau bestehe. Wie kann das auch sein? Ist nicht gerade Schweden in Sachen Gleich­be­rech­tigung ein Mus­ter­staat? Das stimmt! Haben in Schweden Frauen und Männer viel­leicht Pro­bleme, mit­ein­ander in Kontakt zu kommen, mit­ein­ander zu reden? Sicher nicht!
Es gäbe, so Peterson, jedoch signi­fi­kante Unter­schiede, welche Berufe Männer und Frauen ergreifen! Der psy­cho­lo­gisch signi­fi­kan­teste Unter­schied zwi­schen den Geschlechtern sei die Frage, ob sich diese im Durch­schnitt mehr für Dinge (Männer) oder Men­schen (Frauen) inter­es­sierten. Diese bio­lo­gische Prä­ferenz werde über­lagert von einer kul­tu­rellen Kom­po­nente, und wenn diese wie in Skan­di­navien sehr auf Gleich­stellung und Anglei­chung auch der Ein­kommen angelegt sei, trete die Bio­lo­gische Kom­po­nente umso stärker hervor. Die Sta­tistik für Schweden zum Bei­spiel zeige, dass die Prä­ferenz von Frauen für medi­zi­nische Berufe und die der Männern für Inge­nieur­berufe signi­fi­kanter aus­ge­prägt ist, als irgendwo sonst auf der Welt. Gerade weil beide Geschlechter die denkbar freieste Wahl hätten, ent­schieden sie sich eben für das, was ihren Nei­gungen am besten ent­spräche. Maxi­miert man also die Chan­cen­ge­rech­tigkeit, maxi­miert man auto­ma­tisch die per­sön­liche freie Wahl aus eben diesen Chancen und folglich auch die Unter­schiede, die sich aus einer solchen Wahl ergeben. In dieser Hin­sicht ist Schweden also libe­rales Schlaraffenland!

Femi­nismus am Limit

Unter dem Strich also eine gute Sache, möchte man meinen. Für Lööf war die Situation jedoch offen­sichtlich ein Alb­traum, den man förmlich als Sprech­blase über ihrem Kopf mit­lesen konnte: ‚Unmöglich! Wenn mein Mann unsere Tochter umarmt und tröstet, wie kann die dann später Kran­ken­schwester werden wollen? Men­schen unter­scheiden sich zwar bio­lo­gisch, aber doch nicht in den Ent­schei­dungen, die sie treffen! Das darf einfach nicht sein! Alle Men­schen sind gleich, das haben wir unseren Kindern doch mühsam aberzogen!‘ Letz­teres sagte sie natürlich nicht laut, sondern umschrieb es wie folgt: „Die Wahl ist doch eher abhängig davon, wie die Kinder auf­ge­wachsen sind, wie wir leben und erziehen… das formt doch den Men­schen. Da spielt es keine Rolle, ob ein Kind Junge oder Mädchen ist. Wenn ich meine Tochter erziehe, eine Anfüh­rerin zu werden, selbst­sicher zu sein, gebildet…“ Und hier schlug die nächste Peterson-Bombe ein:
Das wäre so, wenn die Prä­fe­renzen der Kinder lediglich soziale Kon­strukte wären, wie immer wieder behauptet wird. Die Praxis sagt aber das Gegenteil.“
Ket­ze­risch wei­ter­ge­dacht: Wenn das Geschlecht eines Men­schen lediglich ein soziales Kon­strukt wäre, träfe dies logi­scher­weise auch auf jede Abwei­chung zu. Noch mehr sogar für jede Form der Erziehung und Indok­tri­nation. Alles nur soziale Kon­strukte. Daraus folgt, wer die absolute Gleichheit statt der Chan­cen­gleichheit der Geschlechter pro­pa­giert, muss lang­fristig den freien Willen und die Freiheit selbst abschaffen und den Men­schen als eine Art leeren USB-Stick betrachten, den man beliebig mit Erzie­hungs- und Rol­len­daten füttern, löschen, neu for­ma­tieren und umbe­nennen kann. Kein ange­nehmer Gedanke, oder? Die in gewissen Kreisen der deut­schen Politik populäre Meinung, die Regeln des Zusam­men­lebens müssten täglich neu aus­ge­handelt werden, geht übrigens genau in diese Richtung. Und so zeigt das Video am Ende vor allem eines: dass der immer kom­pro­miss­loser geführte linke Kul­tur­kampf gegen die Empirie sich in letzter Kon­se­quenz immer gegen die mensch­liche Natur richtet und in seiner Über­treibung und der Abso­lut­setzung seiner Ziele am Ende stets Schaden anrichtet.
Nun stellt sich dem Leser natürlich die Frage, wie um alles in der Welt der Ver­fasser dieser Zeilen von einem Zeit-Interview mit Bravo-Star­schnitt-Qua­lität zu Gen­dergaga und Jordan Peterson kommen konnte und ob sich der Kreis auch irgendwo schließt. Das tut der Kreis in der Tat: Jana Hensels Frage an Merkel, ob sie „…im Amt zur Frau geworden“ sei, zeigt, dass Iden­ti­täts­po­litik heute bereits alles über­lagert und durch­dringt. Immer vor­neweg: unsere Medien! Es gibt keinen denk­baren Kontext, in dem diese Frage irgend­einen Sinn ergäbe, außer in der Iden­ti­täts­po­litik, der kli­ni­schen Psy­cho­logie oder dem Dr. Sommer-Team der Bravo. Merkels Antwort darauf, die wir bei der zu spon­tanem Sar­kasmus gänzlich unfä­higen Kanz­lerin für bare Münze nehmen dürfen, ist dann auch der Höhe­punkt des Inter­views: Sie sei vor dem Amts­an­tritt schon eine Frau gewesen.
Das zeigt einmal mehr, dass Merkel nur auf das Gesagte, nie aber auf das Gemeinte achtet. Es zeigt, dass sie unfähig ist zur situa­tiven Kom­mu­ni­kation und deshalb wohl auch so schlecht darin, eine Stim­mungslage an der Basis in sinn­volle, prak­tische Politik oder auch nur in ein paar ange­messene Worte zu ver­wandeln. Man weiß folglich nicht, wen man zuerst auf die Couch von Jordan Peterson schicken möchte: Angela Merkel oder Jana Hensel. Die richtige, mensch­liche Antwort auf die infantile Hensel-Frage wäre nämlich eine Gegen­frage gewesen: „Wollen Sie mich verarschen?“
 


Der her­vor­ra­gende Autor Roger Letsch betreibt den Blog www.unbesorgt.de und ist Co-Autor des Gemein­schafts­werkes der Freien Medien “Wir sind noch mehr — Deutschland in Aufruhr”