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Interview mit der Financial Times: Putin im O‑Ton über Ölpreise, Trump und die Globalisierung

Der rus­sische Prä­sident Putin hat vor seiner Abreise zum G20-Gipfel dem Rad­akteur Lionel Barber der Financial Times ein anderthalb stün­diges Interview gegeben, in dem viele aktuelle Themen der Welt­po­litik ange­sprochen wurden. Ich habe das Interview über­setzt, da es jedoch sehr lang ist, werde ich es in den nächsten Tagen in Teilen veröffentlichen. 
Hier ist der erste Teil, der sich mit den Fragen der Ölpreise und mit Putins Ver­hältnis zu Trump und den USA beschäftigt.
Beginn der Übersetzung:
Barber: Herr Prä­sident, Sie sind jetzt unter den Staats- und Regie­rungs­chefs G20 der, der am längsten im Amt ist. Niemand der G20 Staats­chefs ist so lange im Amt, wie Sie es in Russland sind. Bevor wir zur Agenda der G20 kommen, eine andere Frage. Sie wissen, dass die geo­po­li­tische Situation im Moment so ist, dass die Gefahr eines Kon­flikts am Per­si­schen Golf besteht und auch die Gefahr eines Han­dels­krieges zwi­schen den Ver­ei­nigten Staaten und China. Wie hat sich die Welt in den 20 Jahren, seit Sie an der Macht sind, verändert?
Wla­dimir Putin: Zunächst einmal war ich nicht die ganzen 20 Jahre Staatschef. Wie Sie wissen, war ich vier Jahre lang Minis­ter­prä­sident und das ist nicht das höchste Staatsamt in der Rus­si­schen Föde­ration. Aber dennoch bin ich schon lange in den Struk­turen der Macht und kann wirklich beur­teilen, was sich wie ver­ändert hat.
Im Grunde haben Sie schon selbst gesagt, wie und was sich ver­ändert hat: Sie haben über Han­dels­kriege gesprochen, Sie haben über die Situation am Per­si­schen Golf gesprochen. Die Situation ist nicht besser geworden, das drücke ich sehr vor­sichtig aus, aber ich bleibe bis zu einem gewissen Grad opti­mis­tisch. Aber um ehrlich zu sein, ist es sicherlich dra­ma­ti­scher und explo­siver geworden.
Barber: Glauben Sie, dass die Welt heute frag­men­tierter ist?
Wla­dimir Putin: Natürlich. Im Kalten Krieg – und das war eine schlechte Zeit – gab es zumindest einige Regeln, die alle inter­na­tio­nalen Teil­nehmer auf die eine oder andere Weise ein­ge­halten haben oder zu befolgen ver­suchten. Jetzt, so scheint es, gibt es über­haupt keine Regeln mehr.
In diesem Sinne ist die Welt frag­men­tierter und weniger vor­her­sehbar geworden, was das wich­tigste und trau­rigste ist.
Barber: Wir werden zum Thema einer frag­men­tierten Welt ohne Regeln noch zurück­kommen. Herr Prä­sident, sagen Sie uns zunächst, was Sie in Osaka in Bezug auf Ihre Bezie­hungen zu anderen Teil­nehmern erreichen wollen? Was sind Ihre Haupt­ziele für diesen Gipfel?
Wla­dimir Putin: Ich würde mir sehr wün­schen, dass alle Teil­nehmer dieser Ver­an­staltung, die G20 sind meiner Meinung nach heute das inter­na­tionale Schlüssel-Forum für die Ent­wicklung der Welt­wirt­schaft, dass alle G20-Teil­nehmer ihre Absicht bestä­tigen, wenigstens ihre Absicht, gemeinsame Regeln zu ent­wi­ckeln, an die sich alle halten. Und dass alle ihren Wunsch zur Stärkung der inter­na­tio­nalen Finanz- und Han­dels­in­sti­tu­tionen unter Beweis stellen würden.
Alles andere sind Details, die irgendwie mit den Haupt­themen ver­bunden sind. Wir unter­stützen natürlich die japa­nische Prä­si­dent­schaft. Alles, von der Ent­wicklung moderner Tech­no­logien, der Infor­ma­ti­onswelt, die Infor­ma­ti­ons­wirt­schaft, bis hin zu der Auf­merk­samkeit, die unsere japa­ni­schen Kol­legen den Fragen der Nach­hal­tigkeit und der Umwelt widmen, all das ist äußerst wichtig. Wir werden dies auf jeden Fall unter­stützen, wir werden an all diesen Dis­kus­sionen teilnehmen.
Obwohl es unter den heu­tigen Bedin­gungen schwierig ist, bahn­bre­chende oder schick­sal­hafte Ent­schei­dungen zu erwarten, damit ist heute kaum zu rechnen. Aber zumindest besteht die Hoffnung, dass es im Laufe der all­ge­meinen Dis­kus­sionen und bila­te­ralen Treffen möglich ist, die bestehenden Wider­sprüche zu glätten und eine Grundlage für eine positive Bewegung nach vorn zu schaffen.
Barber: Sie werden ein Treffen mit Mohammed bin Salman (Anm. d. Übers.: Sau­di­scher Kronrpinz) in Osaka haben. Können wir erwarten, dass das der­zeitige Ölför­de­rungs­ab­kommen ver­längert wird?
Wla­dimir Putin: Wie Sie wissen, ist Russland kein Mit­glied der OPEC, obwohl wir sicherlich einer der größten Öl-Pro­du­zenten sind. Wir pro­du­zieren heute meines Wissens 11,3 Mil­lionen Barrel pro Tag. Die Ver­ei­nigten Staaten haben uns jedoch bereits ein wenig überholt. Aber wir glauben, dass unsere Ver­ein­ba­rungen mit Saudi-Arabien und der OPEC ins­gesamt eine positive Rolle bei der Sta­bi­li­sierung der Pro­duktion und Vor­her­sag­barkeit der Marktlage gespielt haben.
Ich denke, dass sowohl die ener­gie­er­zeu­genden Länder, als auch die Ver­braucher daran inter­es­siert sind, denn meiner Meinung nach gibt es heute ohnehin schon zu wenig Sta­bi­lität. Und unsere Abkommen mit Saudi-Arabien und den anderen Kar­tell­mit­gliedern tragen sicherlich zu dieser Sta­bi­lität bei.
Ob wir das ver­längern werden oder nicht, das werden Sie in den nächsten Tagen erfahren. Wir haben gerade erst mit den Chefs unserer großen Ölge­sell­schaften und mit der rus­si­schen Regierung über diese Frage gesprochen.
Barber: Sind die ein wenig ent­täuscht? Die würden die Pro­duktion gerne erhöhen, nicht wahr?
Wla­dimir Putin: Sie ver­folgen eine kluge Politik. Es geht nicht um die Erhöhung der För­derung, die sicherlich ein wich­tiger Teil der Arbeit der großen Ölkon­zerne ist, es geht um die Situation auf dem Markt ins­gesamt. Sie bewerten die Situation ins­gesamt, schauen sich die Ein­nahmen und Aus­gaben an. Natürlich denken sie über die Ent­wicklung der Branche nach, über recht­zeitige Inves­ti­tionen, über den Einsatz der neu­esten Tech­no­logien, darüber, wie Bedin­gungen geschaffen werden können, die für Inves­toren in dieser Branche, der wich­tigsten Branche, attrak­tiver werden.
Aber ein starker Preis­an­stieg oder ein dra­ma­ti­scher Preis­verfall werden nicht zu Sta­bi­lität auf dem Markt führen und nicht zu Inves­ti­tionen bei­tragen. Deshalb haben wir heute alle diese Fragen behandelt.
Barber: Herr Prä­sident, Sie haben vier ame­ri­ka­nische Prä­si­denten gut ken­nen­ge­lernt und viel­leicht werden es sogar fünf Prä­si­denten. Sie haben direkte Erfah­rungen mit ihnen gemacht. Wie unter­scheidet sich Mr. Trump von seinen Vorgängern?
Wla­dimir Putin: Jeder von uns ist anders. Es gibt keine iden­ti­schen Per­sonen, wie es keine iden­ti­schen Fin­ger­ab­drücke gibt. Jeder hat seine Vor­teile. Lassen Sie die Wähler über ihre Nach­teile urteilen. Aber ins­gesamt hatte ich eine ziemlich freund­liche und aus­ge­gli­chene Beziehung zu allen Staats­chefs der Ver­ei­nigten Staaten. Mit einem habe ich mehr gesprochen, mit mit anderen weniger.
Aber die aller­erste Erfahrung mit ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­denten habe ich mit Bill Clinton gemacht. Im Prinzip war es eine positive Erfahrung für mich. Wir hatten ja nur eine kurze Zeit, da seine bereits Amtszeit sich schon ihrem Ende näherte, aber wir hatten eine ziemlich aus­ge­gli­chene und sach­liche Beziehung. Ich war ein sehr junger Prä­sident, der gerade sein Amt ange­treten hatte. Ich erinnere mich noch gut, dass er mit mir eine sehr part­ner­schaft­liche Beziehung hatte. Dafür bin ich ihm bis heute sehr dankbar.
Was die anderen Kol­legen angeht, gab es sehr unter­schied­liche Zeiten und wir mussten unter­schied­liche Pro­bleme lösen. Leider haben wir oft gestritten, es gab in den meisten Fällen keine Über­ein­stimmung unserer Mei­nungen zu den Themen, die sicherlich für uns, für die USA und für die Welt als Schlüs­sel­pro­bleme bezeichnet werden können. Zum Bei­spiel war da die Frage des ein­sei­tigen Rückzugs der Ver­ei­nigten Staaten aus dem ABM-Vertrag, den wir immer als Eck­pfeiler aller inter­na­tio­nalen Sicherheit ange­sehen haben. Und ich sehe das noch heute so.
Wir haben dieses Thema lange dis­ku­tiert, argu­men­tiert und ver­schiedene Lösungen vor­ge­schlagen, zumindest habe ich mei­ner­seits sehr ener­gisch ver­sucht, unsere ame­ri­ka­ni­schen Partner davon zu über­zeugen, sich nicht aus dem Vertrag zurück­zu­ziehen. Aber wenn sie schon aus­treten wollten dann so, dass die inter­na­tionale Sicherheit trotzdem für einen langen Zeitraum gewähr­leistet ist.
Ich habe vor­ge­schlagen, ich habe dies oft öffentlich gesagt und ich wie­derhole es noch einmal, weil ich es für sehr wichtig halte, ich habe ange­boten, bei der Rake­ten­abwehr zusam­men­zu­ar­beiten. Und zwar zu dritt: die Ver­ei­nigten Staaten, Russland und Europa. Zu gemeinsam fest­ge­legten Bedin­gungen, mit der gemein­samen Defi­nition der Gefahren, mit dem Aus­tausch von Tech­no­logie, mit der Ent­wicklung gemein­samer Ent­schei­dungs­me­cha­nismen und so weiter. Das waren sehr kon­krete Vorschläge.
Ich bin davon über­zeugt, dass, wenn unsere ame­ri­ka­ni­schen Partner damals darauf ein­ge­gangen wären, die Welt heute eine andere wäre. Aber leider ist das nicht geschehen. Wir sehen statt­dessen eine andere Ent­wicklung der Situation mit der Ent­wicklung neuer Waffen und neuer mili­tä­ri­scher Tech­no­logien. Na gut, wir hätten es gerne anders gehabt, aber das war nicht unsere Ent­scheidung. Aber zumindest müssen wir heute alles tun, um die Situation nicht weiter zu verschlimmern.
Barber: Herr Prä­sident, Sie haben sich aus­führlich mit Geschichte beschäftigt, Sie haben stun­denlang mit Henry Kis­singer dis­ku­tiert und Sie haben sein Buch „World Order“ gelesen. Aber mit Mr. Trump ist etwas Neues ent­standen. Er steht der Allianz und den Ver­bün­deten in Europa sehr kri­tisch gegenüber. Ist es ein Vorteil für Russland?
Wla­dimir Putin: Fragen Sie besser: Was ist in diesem Fall von Vorteil für Amerika? Mr. Trump ist kein Berufs­po­li­tiker, er hat seine eigene Sicht auf die Welt und die dreht sich um die ame­ri­ka­ni­schen natio­nalen Inter­essen. Ich zum Bei­spiel bin mit vielen Ansätzen, wie er Pro­bleme lösen möchte, nicht ein­ver­standen. Aber wissen Sie, was meiner Meinung nach vor sich geht? Er ist ein talen­tierter Mann. Er spürt sehr subtil, was die Wähler von ihm erwarten.
Russland wurde vor­ge­worfen, wir hätten uns in die US-Wahlen ein­ge­mischt. Und trotz des Mueller-Berichts gehen die Vor­würfe gegen Russland im Zusam­menhang mit der mys­ti­schen Ein­mi­schung in die US-Wahl selt­sa­mer­weise weiter, sie leiern diese Platte immer noch weiter. Was ist da wirklich pas­siert? Mr. Trump fühlte, im Gegensatz zu seinen Gegnern, subtil, was innerhalb der ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft geschehen war. Er spürte subtil den Wandel innerhalb der ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft und er hat ihn genutzt.
Wir sprechen mit Ihnen heute kurz vor dem G20-Gipfel. Das ist ein Wirt­schafts­forum und auf die eine oder andere Weise wird es wieder Fragen im Zusam­menhang mit der Glo­ba­li­sierung, mit dem Welt­handel und mit den Welt­fi­nanzen geben.
Hat jemand über die Vor­teile der Glo­ba­li­sierung nach­ge­dacht und darüber, wer und wie als Folge der Glo­ba­li­sierung, die wir in den letzten, sagen wir, 25 Jahren seit den 1990er Jahren erlebt haben, davon pro­fi­tiert hat?
China hat diese Glo­ba­li­sierung unter anderem genutzt, um Mil­lionen Chi­nesen aus der Armut zu befreien.
Wie und was geschah in den Ver­ei­nigten Staaten? Dort, in den Ver­ei­nigten Staaten, haben die füh­renden ame­ri­ka­ni­schen Unter­nehmen pro­fi­tiert. Pro­fi­teure waren die Unter­nehmen, ihr Management, ihre Aktionäre, ihre Partner. Die Mit­tel­schicht in Amerika hat wenig von der Glo­ba­li­sierung gehabt. Die Real­löhne – wir werden wahr­scheinlich noch auf die Real­löhne in Russland zu sprechen kommen, die auch die besondere Auf­merk­samkeit der rus­si­schen Regierung ver­dienen – aber in den Ver­ei­nigten Staaten hat die Mit­tel­schicht nichts von der Glo­ba­li­sierung gehabt. Die Mit­tel­schicht war aus­ge­schlossen, als dieser Kuchen auf­ge­teilt wurde.
Und das Trump-Team hat das genau und deutlich gespürt und sie nutzten es im Wahl­kampf. Da müssen Sie nach den Gründen für Trumps Wahlsieg suchen, nicht bei mys­ti­schen Ein­mi­schungen von außen. Darüber sollten wir meiner Meinung nach sprechen, übrigens auch in Bezug auf die Weltwirtschaft.
Hier liegt meiner Ansicht nach der Grund für Trumps scheinbar extra­va­gante Ent­schei­dungen im Bereich der Wirt­schaft und der Zusam­men­arbeit sogar mit den Partnern und Ver­bün­deten. Aber er glaubt, dass die Ver­teilung der Res­sourcen, die Ver­teilung der Gewinne aus dieser Glo­ba­li­sierung in den letzten zehn Jahren unfair gegenüber den Ver­ei­nigten Staaten gewesen ist.
Ich will nicht beur­teilen, ob es fair oder unfair war, ich möchte keine Ein­schätzung darüber abgeben, ob das, was er tut, richtig oder falsch ist. Ich möchte seine Motive ver­stehen, darauf zielte doch Ihre Frage ab. Viel­leicht ist es das, was hinter seinem unge­wöhn­lichen Ver­halten steckt.
Barber: Ich möchte auf jeden Fall auf die rus­sische Wirt­schaft zurück­kommen. Aber was Sie gesagt haben, ist absolut fas­zi­nierend. Der rus­sische Prä­sident ver­teidigt die Glo­ba­li­sierung, während Prä­sident Trump die Glo­ba­li­sierung angreift und sagt, Amerika sollte an erster Stelle stehen. Wie erklären Sie sich dieses Paradoxon?
Wla­dimir Putin: Ich glaube nicht, dass es paradox ist, dass Trump will, dass Amerika an erster Stelle steht. Ich möchte, dass Russland an erster Stelle steht. (Putin lacht) Daran ist doch nichts para­doxes, das ist doch ganz normal. Und über die Tat­sache, dass er gegen einige Erschei­nungen der Glo­ba­li­sierung kämpft, habe ich gerade gesprochen. Anscheinend meint er, dass die Ergeb­nisse der Glo­ba­li­sierung für die Ver­ei­nigten Staaten viel besser sein könnten, als sie sind. Und diese Ergeb­nisse der Glo­ba­li­sierung bringen den Ver­ei­nigten Staaten nicht den erwar­teten Effekt und Trump beginnt, gegen einige Ele­menten eine Kam­pagne zu führen und gegen an zu kämpfen. Das geht gegen alle, ins­be­sondere die wich­tigen Akteure der inter­na­tio­nalen Wirt­schaft, ein­schließlich der Verbündeten.
Ende der Übersetzung

Thomas Röper — www.anti-spiegel.ru
Thomas Röper, Jahrgang 1971, hat als Experte für Ost­europa in ver­schie­denen Ver­si­che­rungs- und Finanz­dienst­leis­tungs­un­ter­nehmen in Ost­europa und Russland Vor­stands- und Auf­sichts­rats­po­si­tionen bekleidet, bevor er sich ent­schloss, sich als unab­hän­giger Unter­neh­mens­be­rater in seiner Wahl­heimat St. Petersburg nie­der­zu­lassen. Er lebt ins­gesamt über 15 Jahre in Russland und betreibt die Seite  www.anti-spiegel.ru. Die Schwer­punkte seiner medi­en­kri­ti­schen Arbeit sind das (mediale) Russ­landbild in Deutschland, Kritik an der Bericht­erstattung west­licher Medien im All­ge­meinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
Thomas Röper ist Autor des Buches „Vla­dimir Putin: Seht Ihr, was Ihr ange­richtet habt?“